Süddeutsche Zeitung

Russland:Rubel auf Allzeittief

Die Vergiftung des Kreml-Kritikers Nawalny, Konflikte in Bergkarabach und Belarus, dazu die zweite Corona-Welle: Der Rubel kommt bedrohlich unter Druck.

Von Paul Katzenberger, Moskau

Der September war kein guter Monat für die russische Währung. Schon Anfang des Monats musste man erstmals seit Februar 2016 kurzzeitig 90 Rubel für einen Euro zahlen. Danach gab es eine leichte Stabilisierung, doch nun sieht es so aus, also ob sich der Kursschwäche bedrohlich beschleunigt: Am Dienstag kostete auf den Devisenmärkten ein Euro plötzlich 93,16 Rubel, ein Allzeittief. Bei einem Kurs von 79,20 Rubel für einen Dollar gab die russische Devise auch gegenüber der amerikanischen Weltleitwährung nach.

Es kommt derzeit einfach zu viel zusammen, was den Rubel schwächt: Zuletzt war es die Sorge um einen erneuten Einbruch der Weltkonjunktur, nachdem inzwischen die zweite Welle der Corona-Epidemie wie befürchtet anrollt. In einer solchen Situation der Unsicherheit sinkt die Risikobereitschaft der Investoren: Sie schichten ihre Bestände aus den riskanteren Währungen der potentiell ertragreicheren Schwellenländer in Dollar und im Euro um, die als sichere Häfen gelten: "Der Exodus der Marktteilnehmer aus risikoreichen Anlagen", sagt der Währungsexperte Juri Krawtschenko vom Moskauer Broker Veles Capital, "der sich vor dem Hintergrund des weltweiten Anstiegs von Corona-Neuinfektionen abspielt, erzeugt Panik in den Emerging Markets, und Russland ist da keine Ausnahme." Dass sich nun unweit der russischen Grenze der Konflikt in Bergkarabach neu entzündet hat, lässt Russlands Risikoprofil nicht besser erscheinen.

Doch es sind auch hausgemachte Probleme, die den Rubel belasten, die "geopolitischen Risiken". Was Experten damit im Wesentlichen meinen: Russland drohen weitere westliche Sanktionen. Denn die offensichtliche Vergiftung des Kreml-Kritikers Alexej Nawalnys mit dem sowjetischen Kampfstoff Nowitschok auf russischem Boden ist ein belastender Faktor für den Rubel. Dasselbe gilt für die Schützenhilfe Russlands für den belarussischen Potentaten Alexander Lukaschenko, der vom Westen nicht mehr als Staatsführer seines Landes angesehen wird, nachdem eklatante Unregelmäßigkeiten bei der belarussischen Präsidentschaftswahl am 9. August zu anhaltenden Massenprotesten in dem Land geführt haben. "All das schürt die Angst vor weiteren Sanktionen", sagt Wladimir Tichomirow, Chefökonom des Moskauer Finanzmakler BCS Global Markets, "ebenso wie die bevorstehende Präsidentschaftswahl in den USA. Denn es ist zu befürchten, dass Moskau erneut ins Gerede kommt, weil russische Internet-Trolle in der Wahl mitmischen."

Tief sitzende Ängste um weitere Abwertung

Seit August waren es zunächst also politische Turbulenzen, die den Rubel unter Druck setzten, doch nun drohen ihm zusätzlich jene belastenden Faktoren, die der Einbruch der weltweiten Rohöl-Nachfrage im März und April durch die Coronakrise ausgelöst hatte. Mitte April war der Kurs für ein Fass der Sorte WTI auf unter 17 Dollar abgerutscht, das tiefste Niveau seit 2002. Als sich der Ölpreis nach dem Abflauen der Corona-Krise im Sommer wieder auf Werte um die 40 Dollar erholte - zog das auch den Rubel nach oben. Denn davon profitiert Russland als einer der weltgrößten Öl- und Gasexportländer.

Die zuerst konjunkturell, dann politisch und jetzt von beiden Faktoren verursachte Rubelschwäche der letzten Wochen befeuert in Russland tief sitzende Ängste um eine weitere Abwertung der Landeswährung: "Der Rubel zählt in diesem Jahr neben der türkischen Lira, dem brasilianischen Real und dem südafrikanischen Rand zu den Währungen mit den größten Wertverlusten", schrieb die unabhängige Zeitung Nowaja Gaseta in der Erwartung von Schlimmerem.

Die Sorgen, die solche Berichte wecken, sind nur allzu verständlich: Die russische Bevölkerung hat in den vergangenen 30 Jahren mehrere schwere Währungskrisen durchgemacht. Die Erinnerung an den Rubel-Absturz vor knapp sechs Jahren, als sich dessen Außenwert im Zuge der in der Ukraine-Krise verfügten westlichen Sanktionen und der Freigabe des Kurses durch die russische Zentralbank zeitweise mehr als halbierte, ist noch allzu frisch in den Gedächtnissen. Die Menschen stürmten damals die Geschäfte, um ihre immer wertloseren Geldscheine schnell noch in Ikea-Möbel oder iPhones umzutauschen.

"Für eine radikale Abwertung des Rubels besteht keine Notwendigkeit"

Reißerische Schlagzeilen, wie "Ökonomen prognostizieren unausweichlichen Kollaps der nationalen Währung" mit denen das Boulevardblatt Moskowski Komsomolez (MK) titelte, sprechen also unverhohlen Ängste im kollektiven Bewusstsein an, doch so düster wie bei der letzten Währungskrise 2014/15 ist die Lage nicht. Währungsexperte Tichomirow räumt zwar ein, dass die inländischen Sektoren aus Güterproduktion und Dienstleistungen von einer allzu starken Abwertung des Rubels hart getroffen würden: "Alle Hersteller, die Vorprodukte aus dem Ausland beziehen oder Maschinen importieren, um ihre Fertigungslinien zu modernisieren", erklärt er, "würden unter einem schwachen Rubel leiden. Genauso wie die Konsumenten, die die Inflation zu spüren bekämen, weil ihr Warenkorb zum Teil aus importierten Waren besteht." Träte dieser Effekt ein, sei aber deutlich schwächer ausgeprägt als noch 2014/15, weil in Russland wegen der Wirtschaftssanktionen im Zuge der Ukraine-Krise heute deutlich mehr inländische Güter konsumiert würden, als noch vor fünf Jahren.

Außerdem verfügten sowohl der Kreml als auch die russische Zentralbank über ausreichend viele Devisen, um den Rubelkurs zu stützen, sollte er zu stark absacken. Dass der Staat zugunsten der Rubels intervenieren muss, hält der Währungsexperte Alexander Kudrin vom Moskauer Finanzmakler Aton trotz all der derzeitigen Unruhe noch nicht einmal für ein wahrscheinliches Szenario: "Wir gehen davon aus, dass sich der faire Marktwert des Rubels zwischen 65 und 75 Rubel für einen US-Dollar von alleine und ohne große Interventionen bilden wird", sagt er: Denn wir erwarten, dass der Ölpreis in den kommenden Monaten stabil bleibt. Für eine radikale Abwertung des Rubels besteht langfristig keine Notwendigkeit."

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SZ vom 30.09.2020
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