Süddeutsche Zeitung

Russland:Die Unternehmer fühlen sich allein gelassen

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Zehn Wochen lang durften die Moskauer ihre Wohnungen kaum verlassen. Die russische Wirtschaft stand praktisch still. Jetzt werden die Regeln plötzlich gelockert, dabei wütet das Virus weiter.

Von Silke Bigalke, Moskau

Die Freiheit kam schneller als gedacht, der Terminkalender von Julia Duchina ist voll "wie sonst nur vor den Feiertagen". Zehn Wochen lang waren die Moskauer eingesperrt, durften ihre Wohnungen nur nach strikten Regeln verlassen. Am Montag dann überraschte der Bürgermeister alle mit eiligen Lockerungen. Auch Julia Duchina durfte ihre Schönheitssalons von heute auf morgen wieder öffnen. Und jetzt wollen sich so viele Kunden die Haare schneiden oder die Nägel lackieren lassen, dass sie über Wochen ausgebucht ist.

Natürlich ist Duchina froh darüber. Eine kleine Vorwarnung hätte ihr aber geholfen. Viele Mitarbeiter waren gar nicht in Moskau, mussten erst zurückreisen. Dazu der ganze Papierkram für die Gesundheitsbehörde, in weniger als 24 Stunden war das unmöglich zu stemmen. Duchina betreibt eine ganze Beautysalon-Kette. In der Nähe des weißen Hauses, dem Sitz der russischen Regierung, hat sie zudem einen ganz speziellen Salon, in dem sie Bioprodukte und Aromatherapie anbietet - jedenfalls in normalen Zeiten. Wegen Corona darf sie nun nicht mal Kaffee ausschenken und statt fünf nur zwei Kunden gleichzeitig in den Salon lassen. Ihre Mitarbeiter tragen weiße Ganzkörperanzüge, mittendrin steht sie in Sommerbluse und mit Schutzvisier. Normalität sieht anders aus.

Ihre Reserven reichten noch drei bis fünf Monate, hatte Julia Duchina vergangene Woche am Telefon gesagt. "Solange können wir uns über Wasser halten. Danach wird es sehr schwer." Überraschungen ist sie inzwischen gewöhnt. Ende März sträubte sich Wladimir Putin, über Ausgangssperren zu sprechen. Stattdessen verordnete er überraschend "arbeitsfrei" für alle, bei vollem Lohn. Wie die Arbeitgeber das bezahlen sollten, dazu sagte der Präsident zunächst nichts. Die Regel galt fast bis Mitte Mai.

Die Pandemie trifft die russische Wirtschaft in einer ohnehin schwierigen Zeit. Seit 2014, seit der Annexion der Krim, dem Ostukraine-Konflikt und den folgenden Sanktionen, sind die Realeinkommen deutlich gesunken. Schon vor der Pandemie konnten sich die Russen immer weniger leisten für ihr Geld. Jetzt haben mehr als 60 Prozent ihr Einkommen ganz oder teilweise verloren, wegen des Virus. Die Zahl stammt aus einer Studie der Higher School of Economics (HSE) in Moskau. Jeder Zehnte hat demnach auch seinen Job verloren, das wären fast zehn Millionen Arbeitslose. Die offizielle Zahl: 1,9 Millionen.

Die Regierung hilft nun zwar mit mehr Geld für Kinder und Arbeitslose. Doch wer keinen Job mehr hat, den rettet auch die inzwischen verdreifachte Arbeitslosenhilfe von knapp 60 Euro nicht. Hinzu kommt, dass 15 bis 21 Prozent der Russen ohne Vertrag arbeiten, schätzt die Weltbank. Andere Schätzungen liegen noch höher. Wie sich die Krise aber auf diejenigen auswirkt, die von grauen oder schwarzen Gehältern abhängen, ist gar nicht absehbar.

Gleichzeitig beschränkt sich die Hilfe für mittelständische Unternehmen auf Steueraufschub und zinslose Kredite. Pro Angestelltem bekommen sie zunächst so viel ausgelegt, dass sie ein halbes Jahr den Mindestlohn von umgerechnet knapp 160 Euro zahlen können. Es ist eine kurzfristige Lösung, auf die ohnehin nur ein Drittel der Firmen Anspruch hat.

Kleine und mittlere Unternehmen machen in Russland nur etwa ein Fünftel der Wirtschaftsleistung aus. Stattdessen wird Russlands Wirtschaft größtenteils von staatlichen Holdinggesellschaften bestimmt. Aus den Jahren nach der Wende ist viel Misstrauen gegenüber privaten Unternehmern geblieben. Erst im März sagte Putin, es gäbe "bestimmte Gründe", Geschäftsleute als Schwindler zu betrachten.

Der Staatshaushalt wird zum großen Teil aus dem Erdöl- und Erdgasgeschäft gespeist. Das fällt dieses Jahr magerer aus als sonst. Der Kreml geizt auch deswegen mit Wirtschaftshilfen, weil er Sorge hat, dass das Geld nicht reicht. Ein "Nationaler Wohlfahrtsfonds" von derzeit 159 Milliarden Euro soll Putin zwar in Zeiten absichern, in denen er sich nicht auf das Erdölgeschäft verlassen kann. Nun fallen Pandemie und Ölpreiskrise aber zusammen. Der Finanzminister hat bereits davor gewarnt, dass man den Fonds nun nicht innerhalb von zwei Jahren "verschwenden" sollte.

Julia Duchina hat immerhin die Mindestlohn-Hilfe bekommen. Lieber wäre ihr, wenn Steuern oder Miete erlassen würden. Dass große Konzerne und Staatsbetriebe viel früher öffnen durften oder gar nicht erst schließen musste, versteht sie nicht. "Das tut weh", sagt sie, der Staat sorge sich vor allem um die großen und die staatseigenen Unternehmen. Und sie hat noch Glück gehabt. Nur jeder zehnte Mittelständler habe überhaupt Krisenhilfe beantragt, sagte Putins zuständiger Ombudsmann Ende Mai. Mehr als zwei Drittel hätten Schaden durch die Pandemie erlitten, ihre Arbeit einstellen oder reduzieren müssen. Mehr als die Hälfte der befragten Unternehmen konnte keine Löhne zahlen.

So ging es auch Alexander Satuliwetrow, als er im April seinen Aufruf zur Rebellion auf Facebook veröffentlichte. Er werde seine Restaurants in Sankt Petersburg wieder öffnen, schrieb er, und appellierte an andere Gastronomen, mitzumachen. Wenn nur er öffne, werde er verhaftet. "Wenn wir zu zehnt sind, werden wir bestraft. Wenn wir 100 sind, dann wird man uns wahrnehmen."

Inzwischen bereut er den Aufruf, in den sozialen Medien wurde er dafür heftig kritisiert. Am Tag, bevor die Gäste zurückkommen sollten, rief ihn zudem die Polizei an, erklärte ihm, was er riskiere: Wer in Russland andere aus Fahrlässigkeit mit Covid-19 ansteckt, dem drohen schlimmstenfalls mehrere Jahre Haft. "Das hat mich vernünftig gemacht", sagt Satuliwetrow am Telefon. Er hat bis heute geschlossen.

Stattdessen musste er zwei seiner vier Restaurants inzwischen aufgegeben. Die Vermieter ließen nicht mit sich verhandeln, sagt er. Nach seinem Facebook-Aufruf erhielt er eine anonyme Spende, etwa 2500 Euro, angeblich um die Strafe zu zahlen, falls er geöffnet hätte. Stattdessen habe er das Geld unter seinen Mitarbeitern verteilt, sagt Satuliwetrow, damals waren das noch 40 Leute. Von den beiden verbliebenen Restaurants könne er wahrscheinlich eines über den Herbst retten. Das andere sei für jüngeres Publikum, "die Jugendlichen haben es jetzt schwer".

Und nicht nur die. Wer wird sich also Restaurants und Schönheitssalons überhaupt noch leisten können? Julia Duchina fürchtet, das Geschäft werde weiterhin leiden, wegen der Angst vor Ansteckung und weil das Geld knapp wird. Die russischen Frauen, sagt eine ihrer Mitarbeiterinnen lachend, gäben lieber Geld für Maniküre aus, als für Lebensmittel. Aber was, wenn es auch dafür nicht reicht?

Die Stylisten in den Salons von Julia Duchina verdienen anteilig an jedem Kunden - ohne Gäste also gar nichts. Sie mache sich Sorgen um ihr Team, hat die Chefin vor der Öffnung gesagt, manche mussten sich andere Jobs suchen, hinter der Kasse, als Taxifahrer. "Wie lange ihre Vorräte reichen und wie viele unserer Mitarbeiter zurückkommen, wissen wir nicht." Dasselbe gilt für die Restaurants, die in Moskau kommende Woche ihre Außenterrassen öffnen dürfen. Nach Schätzungen des Branchenverbands wird die Hälfte aller russischen Gastronomiebetriebe bis Neujahr verschwunden sein - und damit die Hälfte aller Arbeitsplätze in der Branche.

Der Premier will der Wirtschaft mit 64 Milliarden Euro wieder auf die Beine helfen

In Sankt Petersburg hofft Gastronom Satuliwetrow darauf, dass er bald loslegen kann, die Behörden ihm rechtzeitig Bescheid sagen. "Wir müssen Lebensmittel kaufen, das Personal sammeln, Fenster putzen", sagt er. Er bekomme jetzt zu hören, dass er nur von "blöden Lebensmitteln" rede, während doch Menschen am Virus sterben. "Das ist für uns aber auch wichtig." Die Regierung habe Kleinunternehmen schon immer wie "eine unglückliche Stieftochter" behandelt.

Premierminister Michail Mischustin möchte die Wirtschaft nach der Krise mit einem 64 Milliarden Euro schweren Programm wieder aufbauen. Er ist erst seit Januar Premier, und viele vermuten, dass er fürs Geldausgeben eingestellt wurde. Damals allerdings ging es noch um Putins "Nationale Projekte", ein Langzeitprogramm, das private Investitionen und Wachstum ankurbeln sollte, das aber nie richtig in Fahrt kam.

Vermutlich lassen sich mit diesen Sorgen auch die übereilten Lockerungen erklären. Die Zahl der Neuinfektionen ist in Russland kaum gesunken. Trotzdem sehen die Moskauer Parks wieder aus wie jeden Sommer: volle Parkbänke, Menschen sitzen am Wasser, ohne Abstand, ohne Mundschutz. In drei Wochen soll die Bevölkerung über die Verfassungsreform abstimmen, die Putins Macht nach 20 Jahren an der Spitze weiter ausbaut. Bis Herbst zu warten, wäre riskant. Bis dahin wird wohl für viele endgültig klar sein, wie hart sie die Krise tatsächlich trifft.

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SZ vom 13.06.2020
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