Ruhrgebiet:Was vom Bergbau bleibt

Steinkohle Bergarbeiter Prosper-Haniel Bottrop

Kumpels in der Zeche Prosper Haniel im Jahr 2014 – bald wird hier dichtgemacht.

(Foto: Volker Wiciok)

Die letzte aktive Zeche im Ruhrgebiet schließt Ende 2018. Die Kumpel haben Angst, dass ihre besondere Kultur in Vergessenheit gerät.

Von Julia Ley, Bottrop

Wenn Hans Gerzlich an früher denkt, dann denkt er an schwarzen Schnee. An die Zeit, als man noch zusehen konnte, wie sich binnen Minuten eine Schicht Kohlenstaub auf den Neuschnee legte. Oder an die saubere Wäsche, die seine Mutter nicht zum Trocknen raushängen konnte, wenn der Wind von der Zeche her blies. Gerzlich, der Kabarettist, ist 1967 in Gelsenkirchen geboren. Als er jung war, lebten die Menschen im Ruhrgebiet noch unter einer Rußglocke. Man stand mit dem Lärm der Zechen auf und ging mit ihm zu Bett. So erzählt er es.

Schon damals war allen klar, dass es nicht ewig so weitergehen würde. Je billiger Kohle aus dem Ausland wurde, desto häufiger mussten die Arbeiter zu Hause bleiben. Ende 2018 wird auch Prosper-Haniel in Bottrop schließen, der letzte aktive Pütt des Ruhrgebiets. Dann ist es vorbei. Bleibt die Frage, was bleibt von einer Industrie, die die Region an Rhein und Ruhr mehr als anderthalb Jahrhunderte lang geprägt hat.

Wer Prosper-Haniel besuchen will, der fährt einmal quer durchs Ruhrgebiet, vorbei an stillgelegten Fördertürmen und Halden, auf denen Gras wächst. Sie sind der sichtbare Teil des Strukturwandels. Noch 1957 arbeiteten im Ruhrgebiet ein knappe halbe Million Kumpel. Sie holten im Jahr mehr als 120 Millionen Tonnen Kohle aus der Erde. Die Kohle war der Motor des Wirtschaftswunders der Nachkriegszeit. Sie war wichtig für die Erzeugung von Eisen, mit der man wiederum Stahl herstellte, den man für Maschinen, Züge, Autos brauchte. Ende der 1950er-Jahre wurden im Ruhrgebiet 12,3 Prozent des deutschen Bruttosozialprodukts erzeugt.

Schon kurz darauf kam es zur ersten großen Kohlekrise. Die Subventionen der Nachkriegsrepublik hatten die Produktion aufgebläht und weil immer mehr Deutsche mit Öl heizten, brach einer der wichtigsten Absatzmärkte weg. 1968 wurde deshalb auf Betreiben der Politik die Ruhrkohle AG (RAG) gegründet. Ihr Auftrag: die Kohleproduktion steuern und das Zechensterben verlangsamen.

"Glückauf" an der Eingangsschranke

Doch der Abwärtstrend war nicht umzukehren. Gab es 1960 noch 146 Zechen in Deutschland, existieren heute nur noch zwei, eine einzige davon im Ruhrgebiet: "Bergwerk Prosper-Haniel" steht in großen Lettern auf dem grünen Förderturm, der schon von Weitem zu sehen ist. Aus der Gegensprechanlage an der Eingangsschranke grüßt eine Stimme: "Glückauf". Es ist der alte Gruß der Steiger: Mögest du heil wieder heraufkommen.

Auf der anderen Seite der Schranke sitzen ein paar Kumpel in einem kargen Besprechungsraum, es gibt belegte Brötchen und Filterkaffee. Einer der Männer ist Jörg Laftsidis, mit 54 ein Urgestein der Branche. Laftsidis ist ein Mann, der von Arbeiterkämpfen, Kohlerunden, Subventionen in dem Ton erzählt, in dem andere über ihren Schrebergarten reden. Es ist ihm alles sehr nah, vieles hat er selbst miterlebt: Die Angst vor weiteren Schließungen, das Wiederaufflammen der Hoffnungen, die nächste Krise, die jahrelangen Proteste. Letztlich waren alle Mühen umsonst.

Im Jahr 2007 verabschiedete die Regierung ein Gesetz, das sich "Steinkohlefinanzierungsgesetz" nannte, ausgerechnet. Tatsächlich versetzte es der Steinkohlefinanzierung den Todesstoß. Elf Jahre Aufschub gab es, 2018 sollten die letzten Subventionen auslaufen. Die RAG hatte Zeit, das Sterben zu organisieren. Sie sollte es "sozialverträglich" gestalten, so wollte es die Politik. Doch wie sollte das gehen?

"Unter Tage zählt der Mann, wie er malocht"

Dem Ruhrgebiet die Kohle zu nehmen, war in etwa das Gleiche, wie einem Hochleistungssportler das Herz zu entnehmen. Hunderttausende Kumpel mussten umgeschult oder abgefunden werden. Die Frist half; viele konnten bleiben, bis es Zeit für den Ruhestand war. Andere arbeiten heute als Feuerwehrmänner oder Altenpfleger. Doch das Ende der Industrie hat ein Loch. Auch viele Zulieferer mussten schließen, heute sind die Arbeitslosenraten in Teilen des Ruhrgebiets unter den höchsten in Deutschland.

Noch viel länger wird die RAG mit den sogenannten "Ewigkeitsaufgaben" beschäftigt sein: Regenwasser, das in die Gruben einsickert, muss abgepumpt werden, weil es Grundwasser verunreinigen könnte. Bergschäden müssen beseitigt, Flächen renaturiert werden. Die Kosten schätzen Experten auf 220 Millionen Euro - im Jahr. Bis in die Ewigkeit.

Als Zechen noch Dörfer waren

Mit dem Ende der Kohle haben sich die Männer abfinden müssen. Was sie umtreibt, ist etwas anderes: Die Frage, was vom Bergbau bleibt, wenn die letzte Zeche zumacht. Es geht um ihr Lebenswerk, ihre Vergangenheit. Es gibt Bergbau-Museen, Traditionsvereine, sicher, aber kann man eine Kultur konservieren? Vielleicht nicht. Aber der Bergbau hat Spuren hinterlassen, die nicht sichtbar sind und trotzdem überdauern werden: die Art der Menschen hier, ihre Direktheit, ihre Hilfsbereitschaft, ihr Humor, das gänzlich Unprätentiöse.

Die Zeche Prosper Haniel in Bottrop

Hinter einer Kohlenhalde steht der Förderturm der Zeche Prosper-Haniel in Bottrop.

(Foto: dpa)

Wie das zusammenhängt? Früher waren Zechen Dörfer. In den Siedlungen standen reihenweise baugleiche Häuschen, für jede Familie. Engmaschige soziale Systeme waren das, sagt Laftsidis, "da wusste der Steiger genau: Der Kumpel Anton ist entweder in der Kneipe oder malochen." Wenn einer krank war, oder knapp bei Kasse, half man. Laftsidis ist Halbgrieche. Trotzdem: "Mein Vater hat nie Rassismus erlebt. Unter Tage zählt der Mann, wie er malocht und ob ich mich auf den verlassen kann."

Matthias Erdmann, mit 29 Jahren der Jüngste im Raum, ist in einer Zeit geboren, in der eigentlich niemand mehr Bergmann werden wollte. Erdmann schon, er saß als Kind auf der Halde und träumte davon, unter Tage zu fahren. Wenn Prosper-Haniel Ende 2018 schließt, sagt er, werde er Tränen in den Augen haben. Kurz wird es still im Raum.

Ein Hauch von Gefahr

Da platzt plötzlich ein Arbeiter herein, er kommt von der Schicht: Feste schwarze Schuhe, weißer Helm mit Kopflampe, grober Baumwollanzug, darunter das blau-weiß-gestreiftes Hemd der Bergleute. Wahrscheinlich zur Show für die Touristen, die hier häufig vorbeikommen? Jeder will noch einmal "anfahren", bevor das Bergwerk schließt. Die Arbeiter lachen sich halb tot, als sie das hören, nein, nein, so sehen die Kumpel tatsächlich immer noch aus. Die Lampen mögen sicherer geworden sein, die Bohrer effizienter, jeder Mann kann heute mit einem Chip geortet werden, trotzdem haftet dem Bergbau noch immer etwas Archaisches an, ein Hauch von Gefahr. Laftsidis, zum Beispiel, fing am 1. September 1984 auf der Zeche Consolidation an. Ein paar Monate vorher hatte es dort ein Grubenunglück gegeben, fünf Tote. Vier Jahre später ein weiteres im hessischen Borken, 51 Tote. Kurz darauf starb sein eigener Patenonkel auf der Zeche Ewald in Herten. Er kann das alles auswendig aufzählen, "dat prächt ja". Unfälle sind heute eine Seltenheit geworden, trotzdem gehört das Wissen um die Gefahr noch immer zur Genetik des Bergbaus, es fährt mit in die Tiefe.

Das erste Mal "anfahren" vergisst man nie, sagt Laftsidis, und die Männer um ihn herum nicken. Er selbst war 17, ein Ausbilder nahm ihn unter seine Fittiche, der junge Mann war ein wenig schüchtern. Unten im Schacht stellte man ihn dem Fahrtensteiger vor, "für uns damals wie ein Gott". Dieser Gott also musterte Laftsidis, den Halbgriechen, gründlich und fragte dann, an den Ausbilder gewandt: "Hömma Horst, is dat einer von uns?" Kurze Anspannung, dann wird klar, er meint: ein Schalker, ein Königsblauer. Denn Schalke 04 und die Zeche Consol, das war untrennbar, sie lagen direkt nebeneinander, viele Spieler arbeiteten anfangs auf der Zeche. Horst ließ sich Zeit, dann sagte er: "Jo, jo, sicher, dat is einer von uns."

Da nahm der Vorgesetzte ein Stück Kohle in die Hand, warf es in die Luft und machte einen Fallrückzieher, tausend Meter unter der Erde, mit 53 Jahren. Als Laftsidis sich ein paar Wochen später zur Arbeit meldete, hört er den Mann schon aus der Ferne brüllen: "Maschinen haaaalt! Mein Junge is da." Von da an gehörte er dazu.

"Frauen kommen hier nich so oft runner."

Man muss die "Seilfahrt" einmal selbst gemacht haben, um den Mythos zu verstehen. Letzter Stopp auf dem Weg zum Schacht: In der "Weißkaue" ziehen die Kumpel ihre saubere Kleidung aus. Sie wird an einer Art Flaschenzug in einem Korb unter die Decke gezogen - um Platz zu sparen und die Sachen sauber zu halten. Nackt geht es von dort weiter zur "Schwarzkaue", wo die Arbeitsbekleidung bereitliegt. Weil die erste Schicht schon weg ist, darf man auch als Frau kurz einen Blick in die Kaue werfen. Ein Arbeiter steht verlassen in dem riesigen Raum. Als er die Besucher sieht, frotzelt er los, "wech da, ich mach mich getz nackig". Die Kumpel gehen weiter, außer Hörweite raunt einer entschuldigend: "Frauen kommen hier nich so oft runner, da drehn die Männers immer ein bissken auf."

Bis heute ist der Bergbau unter Tage eine reine Männerwelt. Zoten gehören zur Tagesordnung, derbe Witze auch, aber der Ton hat nichts Toxisches. Einer der Kumpel erläutert mit todernster Miene die Tradition des "Buckelns": Gegenseitiges Rücken-Schrubben beim Duschen, anders sei der Kohlestaub nicht abzukriegen. Eine Steilvorlage natürlich; "Watte Bundestach heute erlaubt hat, dat machen wir hier schon seit Jahren", fällt ihm ein älterer Kollege ins Wort. Alle lachen. Es ist der Tag, an dem die Abgeordneten die Ehe für alle beschlossen haben.

Die Kneipe und der Verein

Dann endlich steht man selbst vor dem Schacht und sieht wie 80 Männer aus dem engen Aufzug in den Vorraum drängen. Rußschwarz die Gesichter, "Glückauf", "Glückauf". Der Aufzug hat zwei Etagen für je 40 Mann. Die Schiebetüren quietschen beim Schließen, binnen Sekunden ist es stockfinster. In anderthalb Minuten geht es tausend Meter in die Tiefe. Man hört den Nebenmann im Dunkeln atmen, denkt in der Stille vielleicht denselben Gedanken: Wenn jetzt was passiert... Einer knipst seine Grubenlampe an, schemenhafte Züge erscheinen im Lichtkegel, es ist wie Liedersingen am Lagerfeuer, die Gruppe als Schutz gegen die Dunkelheit, die einen umgibt.

Ruhrgebiet: Ein Mann zeigt ein paar Stücke Kohle.

Ein Mann zeigt ein paar Stücke Kohle.

(Foto: Fredrik von Erichsen/dpa)

Wieder oben kann man sich kaum vorstellen, dass diese ganze Welt unter Tage bald ein Ende haben soll. Laftsidis fährt zurück nach Gelsenkirchen und bietet an, die Reporterin mitzunehmen. Auf dem Weg zeigt er auf all die Orte, die sein Leben hier geprägt haben: Das alte Schalke-Stadion, daneben das Vereinslokal "Bosch", wo noch immer ein Platz für Fußball-Legende Ernst Kuzorra freigehalten wird. Schließlich sein früherer Arbeitsplatz: die Zeche Consol. Schon jetzt würden viele ungläubig den Kopf schütteln, wenn er erzähle, dass er auf der Zeche arbeite, sagt Laftsidis. "Die meinen, dat jibbet gar nicht mehr." Gleichzeitig wird die Erinnerung von allen Seiten vereinnahmt. Beim Bäcker heißt das Brot jetzt "Steigerkruste", bei den "Steiger-Awards" werden einmal im Jahr Menschen geehrt, die sich um irgendetwas verdient gemacht haben, von Apotheken bis Kneipen trägt jedes zweite Geschäft ein "Glückauf" im Namen.

Im "stadt.bau.raum" ist das nicht so, obwohl der Bezug zum Bergbau hier angebracht wäre. In dem stillgelegten Schacht Oberschuir in Gelsenkirchen finden heute Veranstaltungen statt. Wie so viele alte Zechen hat auch diese im Rahmen der Internationalen Bauausstellung Emscherpark in den 90er-Jahren eine neue Bestimmung gefunden. Kabarettist Hans Gerzlich sitzt auf einem Tisch im ehemaligen Maschinenraum, neben ihm ragt eine alte Fördermaschine aus dem Boden. Gerzlich kommt gerne her, seine Bekannte Elke Schumacher verantwortet hier das Programm. Ihr Vater ging noch selbst "aufn Pütt", erzählt Schumacher, "die Blagen sollten es einmal besser haben". Es ist eine Familiengeschichte wie viele hier: Die Kinder der Bergleute sind Kulturschaffende geworden, Unternehmer, Akademiker. Dass das so ist, ist einer der vielen kleinen Erfolge des Strukturwandels, die es bei allen Problemen ja auch gibt.

"Hömma Horst, is dat einer von uns?"

Der Schacht Oberschuir ist ein Beispiel dafür, wie die Region versucht, aus den Überbleibseln der Vergangenheit Neues zu schaffen. Seit den 90er-Jahren wurden Milliarden investiert, um die Folgen des Kohleausstiegs zu bewältigen. Unter dem Namen "Metropole Ruhr" versucht man sich ein neues Image zu geben: urban, innovativ, vernetzt. Zerstörte Grünflächen wurden renaturiert, alte Werksgelände in Theater und Gründerzentren umgewandelt.

Die Bilanz ist durchwachsen: Zwischen Duisburg und Hamm gibt es heute so viele Hochschulen wie kaum sonst irgendwo in Deutschland, die Infrastruktur ist gut, man will vor allem Start-ups anziehen. Doch wenn etwas gut läuft, wird daraus selten eine Schlagzeile. Die Bilder, die die Wahrnehmung des Ruhrgebiets prägen, zumal des ärmeren Nordens, sind fast ausschließlich negativ: zerbrochene Fenster, vermüllte Ladenzeilen, Betrunkene in der Bahnhofsstraße.

"Woanders is auch scheiße"

Vielen hier geht das gehörig auf den Zeiger. Nicht, weil es die Probleme nicht gäbe. Sondern, weil sie nicht alles sind, was sich erzählen ließe. Der Zusammenhalt, die Kreativität, die Hilfsbereitschaft, die vielen Kulturangebote. Wer bleibt, lebt gerne hier. Vor ein paar Jahren hat das das mal jemand auf den Punkt gebracht, sehr Ruhrpott-typisch: "Woanders is auch scheiße." Man kann jetzt T-Shirts damit kaufen. So funktioniert Lokalpatriotismus hier: selbstironisch, derb und irgendwie angenehm bescheiden.

Wenn Ende nächsten Jahres auch Prosper-Haniel schließt, wird es wieder einmal Zeit für eine Bestandsaufnahme sein. Was wurde in den elf Jahren seit dem Ausstiegsbeschluss geschafft? Laftsidis schaut lieber nach vorne: "Die Frage is doch: Wat bleibt? Wat is in 20, 30, 50 Jahren?" Er, der Fragen sonst gerne selbst beantwortet, schweigt diesmal. Weil niemand die Antwort kennt. Langsam lenkt er sein Auto in eine Parklücke am Hauptbahnhof. Er stellt den Motor ab, öffnet die Tür und verabschiedet sich. Plötzlich dreht er sich noch einmal um. "Meinen Kindern sag ich immer: Man muss seine Vergangenheit kennen, um die Zukunft zu gestalten." Vielleicht ist das schon alles.

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