Rückbau von Atomanlagen:Das große Kraftwerkssterben

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Tonnenschwere Probleme: Fast 200 Reaktoren werden bis 2040 stillgelegt. (Foto: Daniel Karmann/dpa)
  • Der Rückbau von weltweit fast 200 Atomanlagen bis 2040 wird 100 Milliarden Dollar oder mehr kosten. Das sagt der neue World Energy Outlook voraus.
  • Nur wenige Länder sind technisch für das bislang größte Kraftwerkssterben in der Geschichte der Atomenergie gerüstet. Experten erwarten ernste Probleme.

Von Markus Balser, Berlin

Das Problem ist fast 300 000 Tonnen schwer. Rohre, Generatoren, Betonhülle - allein der Stahl- und Bauschrott des ehemaligen Atomkraftwerks Obrigheim in Baden-Württemberg hat gigantische Ausmaße. Die gefährlichsten Arbeiten an stark strahlendem Material erledigen Roboter.

Auch neun Jahre nach dem Abschalten des ältesten deutschen Atomkraftwerks sind die Arbeiten unter Hochsicherheitsbedingungen noch in vollem Gange. In Deutschland hat das größte Abrissprogramm seiner Industriegeschichte damit erst begonnen. Obrigheim ist nur der Anfang. Mit dem Atomausstieg folgen 17 weitere Anlagen. Am Neckar ist damit zu besichtigen, was auf der ganzen Welt in den nächsten Jahren zum gewaltigen Problem werden wird.

"Eine solche Ballung haben wir noch nie erlebt"

Nach einer neuen Studie der Internationalen Energieagentur (IEA) droht die Demontage alter Atommeiler international zum immensen Kostenrisiko zu werden. "Fast 200 Reaktoren werden bis 2040 stillgelegt", sagt die IEA in ihrem neuen World Energy Outlook voraus, der am Mittwoch in London veröffentlicht wird und der Süddeutschen Zeitung  vorliegt.

Derzeit laufen weltweit 434 Anlagen. Die Kosten des Rückbaus beziffert die Organisation in Paris in diesem Zeitraum weltweit auf "mehr als 100 Milliarden Dollar". Wegen der geringen Erfahrung bei der Dekontaminierung blieben jedoch große Unsicherheiten bei den Kosten, urteilt die IEA. Das gilt auch für die Frage, wie alte AKW-Flächen neu genutzt werden können. Die Rückbauwelle, die vor allem Europa, die USA, Russland und Japan betrifft, könnte also noch deutlich teurer ausfallen.

Binnen zweieinhalb Jahrzehnten vollzieht sich damit das bislang größte Kraftwerkssterben in der Geschichte der Atomenergie. "Viele Kernkraftwerke erreichen das Ende ihrer genehmigten Laufzeit, andere werden aus politischen Gründen stillgelegt", sagt Fatih Birol, Chefökonom der IEA - "eine solche Ballung haben wir noch nie erlebt".

Die IEA erwartet deshalb ernste Probleme. "Nur sehr wenige Länder können dieser Aufgabe gerecht werden", warnt Birol. Denn der Abriss gilt als technisch äußerst anspruchsvolles Projekt und kann je nach Anlage 15 bis 20 Jahre dauern. "Regierungen und Versorger müssten schon jetzt Mittel beiseite legen, um diese Zukunftsausgaben tragen zu können", verlangt die Studie.

Kein einziges Land verfügt über ein permanentes Endlager für Atommüll

Die eindringliche Warnung vor den Kosten des strahlenden Erbes der Atombranche dürfte auch die Debatte in Deutschland über den Umgang mit den Altlasten der AKW-Betreiber Eon, RWE, Vattenfall und EnBW befeuern. Energiekonzerne würden einen Teil der finanziellen Risiken für Endlagerung und den schwierigen Rückbau gerne auf die Steuerzahler abwälzen.

Einem im Frühjahr publik gewordenen Vorschlag zufolge wollen Energiekonzerne ihre Rücklagen von 30 Milliarden Euro in eine Stiftung einbringen. Die soll dann alle Kernkraftwerke, End- und Zwischenlager übernehmen und mit ihnen die Risiken beim Abriss und der Entsorgung. Umweltverbände lehnen das Modell ab. Sie befürchten, dass die Rücklagen, zu deren Bildung die Kraftwerksbetreiber gesetzlich verpflichtet waren, nicht ausreichen könnten.

Der World Energy Outlook ist die wichtigste Publikation der IEA, er erscheint einmal im Jahr. In verschiedenen Szenarien untersuchen die Experten, wie sich die Energieversorgung unter verschiedenen Prämissen entwickeln wird. Trotz aller Risiken der Atomkraft erwartet die Organisation einen Anstieg der Stromproduktion aus Kernkraftwerken um 60 Prozent. Aus den derzeit installierten 392 Gigawatt Kraftwerksleistung sollen bis 2040 rund 620 Gigawatt werden.

Schutzvorschriften für Atomkraftwerke
:Lernen aus den Katastrophen

Die Internationale Atomenergiebehörde will die Schutzvorschriften für Atomreaktoren erheblich verschärfen. In den USA regt sich Widerstand - obwohl dort ohnehin wenig in Sicherheitstechnik investiert wird.

Von Markus Balser, Christopher Schrader, Berlin, und Stefan Ulrich

Vor allem in China, Russland, Korea und Indien werde die Atomkraft in Zukunft eine große Rolle spielen, sagt die Studie voraus. Weil gleichzeitig der Strombedarf stark wachsen wird, steigt der Anteil der Atomkraft am weltweiten Energiemix jedoch nur um einen Prozentpunkt auf zwölf Prozent an. Ein bislang völlig ungelöstes Problem wird damit noch verschärft.

Kein einziges Land verfüge bislang über ein permanentes Endlager für Atommüll, klagt IEA-Experte Birol. Das Volumen abgebrannter Brennelemente wird sich der Studie zufolge auf 700 000 Tonnen verdoppeln. "Die Welt muss sich über dieses Problem dringend Gedanken machen", fordert die Energieagentur. "Sonst wird es großes Kopfzerbrechen geben."

© SZ vom 12.11.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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