Es gibt noch Tabus in der Politik. Zum Beispiel das, wonach Notenbanken Regierungen nicht direkt finanzieren dürfen. Was Fachleute "Monetisierung der Staatsschuld" nennen, würde in der Praxis bedeuten: Die Federal Reserve in den USA, die Europäische Zentralbank oder die Bank von England drucken Geld (oder schaffen es elektronisch) und schenken es den Regierungen, die es gerade brauchen. Der EZB ist diese Praxis per Gesetz verboten. Anderswo ist die Lage nicht so klar, trotzdem wirkt das Tabu bisher. Schließlich haben die meisten großen Inflationen damit begonnen, dass Finanzminister direkten Zugang zum Geldhahn bekamen.
Doch nun, fast acht Jahre nach der Finanzkrise, scheint das Tabu zu fallen. Schon länger hatten Politiker an den Rändern des politischen Spektrums mit dem Gedanken gespielt, dass die Notenbanken eigentlich ihre Wahlprogramme finanzieren könnten. Der britische Oppositionsführer Jeremy Corbyn etwa fordert "Quantitative Easing for the People" (frei übersetzt: "Geldschöpfung für das Volk"). Danach soll, nach einem Wahlsieg der Labour Party, die Bank von England angewiesen werden, Anleihen einer staatlichen Investitionsbank kaufen. Auch im Programm des rechtsextremen Front National steht die Forderung nach Staatskrediten der Banque de France. Und schließlich trug sich der frühere griechische Finanzminister Yanis Varoufakis mit dem Gedanken, an der EZB vorbei neues Geld zu schaffen.
Das waren Außenseiterstimmen. Jetzt jedoch hat auch ein international angesehener Ökonom das Tabu gebrochen. Lord Adair Turner, ehemaliger Chef der britischen Bankenaufsicht FSA, erklärt in seinem neuen Buch "Between Debt and the Devil": "Staatsfinanzierung durch die Notenbank ist vielleicht unser einziger Ausweg." Und seine Argumentation hat es in sich.
Turner glaubt, dass in der Weltwirtschaft eine gefährliche Schuldenspirale im Gang ist und dass die großen Zentralbanken der Welt nicht in der Lage sind, ihrer Herr zu werden. Vor der Finanzkrise, so Turner, wurde das Wachstum der Weltwirtschaft durch exzessive private Verschuldung getragen. Das zusätzliche Geld, das die Banken durch immer neue Kredite schufen, floss jedoch nicht in rentable Anlagen, sondern in Immobilien . Dadurch entstand ein fataler Kreislauf von immer höheren Immobilienpreisen und immer höheren Kreditsummen. Das dicke Ende kam 2008: Die Blase platzte, die Verluste der Banken drohten, das Weltfinanzsystem in den Abgrund zu ziehen. Die Staaten mussten einspringen. Das ließ den staatlichen Schuldenberg rapide wachsen; er ist in fast allen Industrieländern heute noch höher als vor der Krise.
Selbst Negativzinsen vermögen die Deflationsgefahr nicht zu bannen
Jetzt befindet sich die Welt in einem gefährlichen Zustand: Die Notenbanken haben die Zinsen auf Null gedrückt und zeigen, dass sogar Negativzinsen durchsetzbar sind, was früher als unmöglich galt. Trotzdem ist es nicht gelungen, die Deflationsgefahr zu beseitigen. Im Gegenteil: Die Anzeichen für eine Abkühlung der Weltwirtschaft mit sinkenden Preisen mehren sich. Die Regierungen sind hoch verschuldet und weder willens noch in der Lage, mit Ausgabenprogrammen gegenzusteuern, sollte es zu einer neuen Rezession kommen.
"Insgesamt leiden wir unter einem Schuldenüberhang, der so schwer ist, dass es keinen klaren Ausweg zu geben scheint, sagte Turner im Rahmen der "Münchner Seminare" von Ifo-Institut und Süddeutscher Zeitung. "Angesichts dieses Schuldenüberhangs und des unangemessenen Wachstums scheinen wir ohne Munition dazustehen." Hier kommt Turners Punkt: "Ich glaube, dass es Umstände gibt, in denen es für Notenbanken die beste und die am wenigsten riskante makroökonomische Maßnahme ist, Geld zu drucken und damit staatliche Defizite zu bezahlen."
Was der Brite vorschlägt, unterscheidet sich grundlegend von der jetzigen Praxis der EZB. Gegenwärtig kauft die Zentralbank große Mengen an Staatsanleihen aus dem normalen Markt, also von Investoren und nicht in den Regierungen direkt. Damit "druckt" sie zwar auch Geld, wie es immer heißt, im übertragenen Sinne jedenfalls. Sie kann dies Geld aber auch jederzeit wieder vernichten, wenn sie will. Dazu muss sie lediglich die Anleihen wieder verkaufen.
Bei direkter Staatsfinanzierung geht das nicht. Das Geld ist für staatliche Projekte fest gebunden, die Geldschöpfung dauerhaft. Es ist offenkundig, dass dem Missbrauch hier Tür und Tor geöffnet werden. Geld drucken in diesem Sinne ist für alle Beteiligten unglaublich bequem, anfangs wenigstens. Die Quittung kommt immer hinterher. Besonders Deutschland ist in dieser Hinsicht traumatisiert. Die Hyperinflation des Jahres 1923, eine der schlimmsten der Geschichte, war das Ergebnis direkter Staatsfinanzierung. Die Nationalsozialisten finanzierten nach 1933 den Aufbau der deutschen Kriegsmaschine mit Wechseln einer Scheinfirma namens Metallurgische Forschungsanstalt. Die berüchtigten "Mefo-Wechsel" wurden bei der Reichsbank diskontiert.
Turner bestreitet nicht, dass direkte Staatsfinanzierung gefährlich ist. Das Risiko lasse sich aber durch klare Regeln begrenzen, etwa indem man die Notenbanken an ein Inflationsziel bindet. Ob sie sich daran halten, oder nicht, vergleicht Turner mit der Einstellung zu Alkohol. Die einen würden schon ein einziges Glas ablehnen, weil sie sich selbst nicht über den Weg trauen, die anderen würden sich erlauben, ein Glas ohne schlechtes Gewissen zu genießen. Die große Frage ist: Beim wem stimmt die Selbstwahrnehmung?
Alle, die Sympathien für Turners Gedanken haben, können sich auf einen unverdächtigen Zeugen berufen: Milton Friedman (1912-2006) von der Universität Chicago, Begründer des Monetarismus und späterer Nobelpreisträger, erzählte 1969 die Parabel vom "Hubschrauber-Geld": Ein Hubschrauber fliegt über eine Gemeinde und lässt 1000-Dollar-Noten regnen. Zweifellos werden die Bewohner aufsammeln was sie können und den größten Teil davon auch ausgeben. In der realen Welt würde die Notenbank keinen Hubschrauber losschicken, sondern der Regierung einen Kredit geben; die würde ihn dann für eine Steuersenkung verwenden. Es wäre das radikalste denkbare Konjunkturprogramm.
Martin Wolf, der einflussreiche Kolumnist der Financial Times, ist davon überzeugt, dass Regierungen und Notenbanken neue Wege gehen müssen, um Nachfrage zu schaffen: "Die Politiker müssen sich auf eine neue Normalität einstellen, in der die politischen Methoden unbequemer werden, unkonventioneller oder beides." Und die Deutsche Bundesbank, die schon die jetzige Politik der EZB für falsch hält, muss sich wohl bald auf noch viel unangenehmere Debatten einstellen.