Süddeutsche Zeitung

Wirtschaftsminister:Habeck setzt auf BIP plus X

Wie läuft's denn so in der deutschen Wirtschaft? Zum ersten Mal präsentiert der Minister Habeck seinen Jahresbericht. Er verlangt eine neue Messung des Wohlstands.

Von Michael Bauchmüller, Berlin

Robert Habeck war glücklich. "Jetzt sind wir endlich gut bewaffnet", freute sich der Grüne. Es gebe jetzt Stoff "für eine völlig neue wirtschaftspolitische Diskussion". Denn was wirklich Wohlstand bringe und was nicht, was wirklich der Wirtschaft nutzt, das lasse sich nun ganz neu messen. "Da gilt ab jetzt die Beweislastumkehr."

Mehr als zehn Jahre ist die Freude her. Habeck war seinerzeit Fraktionschef der Grünen im Kieler Landtag, bei einem Team um den Ökonomen Hans Diefenbacher hatte er den Wohlstand Schleswig-Holsteins nach Maßstäben eines "nationalen Wohlstandsindex" durchrechnen lassen. Wohlstand in Form häuslicher und ehrenamtlicher Arbeit, von privatem Konsum und Artenreichtum - und nach Abzug negativer Effekte wie Ungleichheit, Kriminalität oder Alkohol- und Tabakkonsum. Ergebnis: Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) im Norden war zwar nur wenig gewachsen. Der Wohlstand aber, der war um satte 7,4 Prozent gewachsen. Mit der Erkenntnis fühlte sich Habeck für alle weiteren Debatten gerüstet. Bis zum heutigen Tag.

Am Mittwoch hat Habeck, mittlerweile Bundeswirtschaftsminister, seinen ersten Jahreswirtschaftsbericht präsentiert. Jeder Wirtschaftsminister darf diesem Bericht seinen Stempel aufdrücken, und im Falle Habecks ist es der Stempel des grünen Wachstums. "Ziel ist es, die soziale Marktwirtschaft zu einer sozial-ökologischen Marktwirtschaft weiterzuentwickeln und damit ihre Erfolgsgeschichte innerhalb der planetaren Grenzen fortzuschreiben", postuliert der Bericht.

Die Opposition wittert Verrat am Erbe Ludwig Erhards

Umweltfolgen des Wirtschaftens müssten mehr Berücksichtigung finden, ebenso die Chancen, die ein klimafreundlicher Umbau für ein Land wie Deutschland berge. Nötig sei "eine Neugewichtung der wirtschaftspolitischen Schwerpunkte", heißt es in dem Bericht. Klassische wirtschaftspolitische Kennzahlen wie das Bruttoinlandsprodukt müssten durch "zusätzliche Wohlfahrts- und Nachhaltigkeitsindikatoren" ergänzt werden. "Dies verbessert die Grundlage für eine offene und faktenbasierte gesellschaftliche Diskussion über die relative Bedeutung der jeweiligen Dimensionen von Wohlfahrt." Die Opposition dagegen wittert Verrat am Erbe Ludwig Erhards. Habeck leite einen "wachstumskritischen Abgesang der sozialen Marktwirtschaft" ein, warnt Julia Klöckner, die wirtschaftspolitische Sprecherin der Unionsfraktion. "Das BIP bleibt national und international zentraler Wachstumsmaßstab."

Die Diskussion gärt seit Jahren. Noch unter dem Eindruck der Finanzkrise setzte der Deutsche Bundestag im Jahr 2010 eine Enquetekommission ein, die nach drei Jahren Arbeit und viel Streit ebenfalls eine alternative Wohlstandsmessung vorschlug. Selbst die möglichen Indikatoren dafür lieferte sie mit. 2013 stießen Union und SPD einen groß angelegten Dialog zum "guten Leben in Deutschland" an, für den Kanzlerin und Minister durchs halbe Land tourten. Ein ausführlicher Bericht entstand darüber, dazu ein Satz von zwölf Indikatoren mit insgesamt 46 Unterzielen, die sich heute noch im Internet finden lassen. Die Zahlen sind allerdings nicht mehr ganz taufrisch. Denn die Sache versandete.

Das soll sich nach Habecks Vorstellungen nun ändern. Wie jeder Jahreswirtschaftsbericht gibt auch dieser wider, was die Bundesregierung wirtschaftspolitisch so vorhat. Kurz nach der Bildung der neuen Regierung liest er sich deshalb wie eine Neufassung des Koalitionsvertrags in anderen Worten, mit einem sehr ausgeprägten Abschnitt zum grünen Ausbau der Wirtschaft.

Darauf aber folgt ein 21-seitiges Sonderkapitel zu den "Dimensionen der Wohlfahrt". Der Anteil der Frauen in Führungspositionen findet sich da als Indikator, die Gründung neuer Unternehmen, der Breitbandausbau, aber auch Geburtenraten und Ganztagsbetreuung, Luftschadstoffe und der Anteil erneuerbarer Energien. "Kein Beiwerk und kein Schmückwerk" sei das Kapitel, sagt Habeck, sondern eins der weitreichendsten im ganzen Bericht. Und, wie es dort heißt: "Dies ist lediglich als erster Schritt zu einer insgesamt stärker integrierten Betrachtung von Wohlfahrtsaspekten in der Wirtschaftspolitik zu begreifen." Ein Aggregat dieser Zahlen, eine Art Inzidenzwert des gesellschaftlichen Wohlstands, den liefert der Bericht noch nicht.

Die Orientierung liefert deshalb dann doch wieder das Bruttoinlandsprodukt - jene Größe, in die auch die Prügelei zwischen zwei Brillenträgern als Plus eingeht, wenn beide danach zum Optiker müssen. Demnach rechnet die Bundesregierung in diesem Jahr mit einem Wirtschaftswachstum von 3,6 Prozent. Vor allem der private Konsum sei hier der Treiber. Der Staatskonsum stagniere, auch die Investitionen wachsen nur leicht. Die Inflation bleibe hoch, bei 3,3 Prozent, und werde sich erst 2023 wieder bei jenen zwei Prozent einpendeln, die auch die Europäische Zentralbank anpeilt. Alle Umstände, die dieses Wachstum beeinträchtigen könnten, nennt auch Habecks Bericht "Risiken". Zumal Habeck mittlerweile keine Alternative mehr sucht zum BIP. "Es geht nicht darum, etwas zu ersetzen", sagt er, "sondern besser zu verstehen, wie sich das BIP zusammensetzt."

Just am Mittwoch legt das gewerkschaftsnahe Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung den neuesten "nationalen Wohlstandsindex" vor, erstellt unter anderem von jenem Hans Diefenbacher, der einst im Auftrag Habecks den Wohlstand Schleswig-Holsteins untersuchte. Ergebnis: Im Pandemie-Jahr 2020 schrumpfte nicht nur das BIP, sondern auch der Wohlstand. Gleichen Kosten hätte oft geringerer Nutzen gegenübergestanden - etwa bei Freizeitaktivitäten, die nur mit Maske und Abstand möglich waren. Dieser Effekt auf den privaten Konsum habe sich aber nur grob überschlagen lassen. "In der Ausnahmesituation der Corona-Pandemie", schreiben die Wissenschaftler, "zeigen sich auch die Grenzen dieses Konzepts."

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