Süddeutsche Zeitung

Rio de Janeiro:Olympia droht ein beispielloses Chaos

Rio ist kurz vor Beginn der Olympischen Spiele faktisch pleite. Deshalb muss der Bundesstaat den finanziellen Notstand ausrufen. Und das ist nur der Anfang.

Von Boris Herrmann, Rio de Janeiro

Wenn nicht noch etwas dazwischenkommt, dann werden in anderthalb Monaten die Olympischen Sommerspiele von Rio eröffnet. Noch sind die Aussichten gut, dass die größte Sportveranstaltung der Welt tatsächlich wie geplant stattfinden kann. Es ist aber nicht so, dass es an Kritikern mangelte, die dafür plädieren, das ganze Fest abzublasen. In Brasilien gibt es ja gerade wenig zu feiern. Von den unzähligen Krisen, die das Land derzeit heimsuchen, bereitete die Zika-Krise der Weltöffentlichkeit zuletzt die größten Sorgen.

Großes Aufsehen erregt auch weiterhin die politische Krise. An den Börsen der Welt freuten sich zwar schon einige auf das Ende der Regierung Dilma Rousseff und die Machtergreifung des deutlich unternehmerfreundlicheren Übergangspräsidenten Michel Temer. Das hat bisher allerdings weniger zur Wiederbelebung der Wirtschaft beigetragen als zur Verschärfung der Korruptionskrise.

Die Organisatoren der Sommerspiele zeigten sich von alldem unbeeindruckt. "Wir haben alles im Griff", hieß es mantra-artig aus Rio. Nun aber hat Francisco Dornelles, der Interimsgouverneur des Bundestaates Rio de Janeiro, erstmals öffentlich eingeräumt, dass das nicht stimmt. Am Wochenende rief er den öffentlichen Finanznotstand aus. Seine Landesregierung sei nicht mehr in der Lage, die mit der Ausrichtung von Olympia verbundenen Verpflichtungen zu erfüllen, teilte Dornelles mit. Er bat dabei um eine umgehende Hilfszahlung von der Bundesregierung in Brasília in Höhe von umgerechnet 750 Millionen Euro. Ansonsten sei der "totale Kollaps" in den Bereichen Gesundheit, Bildung, Verkehr und öffentliche Sicherheit zu befürchten. Wenn die Olympischen Spiele derzeit also konkret bedroht sind, dann von der desolaten Haushaltslage im Staate Rio.

Tausende Familien warten auf ihre Sozialhilfe, Pensionäre auf ihre Renten

Die brasilianische Wirtschaft schrumpfte im vergangenen Jahr um 3,8 Prozent. Für 2016 sehen die Prognosen nicht viel besser aus. Das liegt an einer fatalen Mischung aus strukturellen und konjunkturellen Schwächen, an der absurden Bürokratie und der systematischen Schattenwirtschaft sowie an der Krise der Rohstoffpreise auf dem Weltmarkt. Die größte Volkswirtschaft Südamerikas ist weiterhin extrem abhängig vom Export ihrer Bodenschätze.

Das gilt ganz besonders für den Bundesstaat Rio de Janeiro, vor dessen Küste die größten Ölvorkommen liegen. Seit der korruptionsverseuchte halbstaatliche Erdölriese Petrobras am Boden liegt, ist das Land Rio praktisch pleite. In öffentlichen Krankenhäusern mangelt es schon seit Monaten an Medikamenten, einige mussten komplett schließen. In vielen Schulen wurde das Mittagessen gestrichen, in Universitäten die Putzkräfte. Tausende Familien warten auf ihre Sozialhilfe, Pensionäre auf ihre Renten. Selbst die Leichenhäuser weigerten sich zeitweise, Leichen anzunehmen. Das letzte Geld wird für das teure Olympiafest gebraucht.

Die Bundesstaaten haben in der föderalen Republik Brasilien weitreichende Kompetenzen, die sich allerdings teilweise mit denen des Bundes überlagern. Streitereien über die tatsächlichen Zuständigkeiten bestimmen große Teile des Politikbetriebes - vor allem dann, wenn es ums Bezahlen geht. Das ist auch einer der Hauptgründe, weshalb die neue U-Bahnlinie 4 immer noch nicht fertig ist, die das Zentrum von Rio mit der Trabantenstadt Barra da Tijuca verbinden soll. Dabei handelt es sich um das wichtigste Nahverkehrsprojekt hinsichtlich der Spiele, denn in Barra finden die meisten Wettbewerbe statt. Dort befindet sich auch das Olympische Dorf.

Auf der stets überfüllten Küstenstraße zwischen Ipanema und Barra gehören zweistündige Staus schon an normalen Werktagen zur Normalität. Falls die U-Bahn nicht rechtzeitig eröffnet wird, dann erwartet die Olympiabesucher im August ein beispielloses Verkehrschaos. Die Bauarbeiten, so heißt es, "seien zu 95 Prozent" abgeschlossen. Um die Finanzierung der restlichen fünf Prozent streiten sich Bund und Land aber seit Monaten. Der Sekretär für Verkehr im Staate Rio warnte, es dürfe kein weiterer Tag ungenutzt vergehen, wenn die Strecke rechtzeitig in Betrieb gehen solle. Das war vor zwei Wochen.

Die Erklärung des Finanznotstandes ist wohl der letzte Versuch, die Bundesregierung in Brasília doch noch zur Übernahme der Kosten zu zwingen. Mit gewissem Recht kalkulieren sie in Rio, dass Übergangspräsident Michel Temer als Hauptsündenbock dasteht, falls die Einweihung der U-Bahn am föderalen Kompetenzgerangel scheitert. Das wäre fatal für das ohnehin schwer angekratzte Image Brasiliens in der Welt.

Sagenhafte Ineffizienz

Offiziell ist nun der 1. August als Eröffnungstermin für die seit Jahren geplante Streckenverlängerung vorgesehen - vier Tage vor Beginn der Spiele. Selbst wenn bis dahin tatsächlich die ersten Züge fahren sollten, bleibt die Geschichte von der U 4 aber ein eindrucksvolles Beispiel für die sagenhafte Ineffizienz des brasilianischen Staatswesens. Im ursprünglichen Plan waren sechzehn Monate Testbetrieb vorgesehen, zwölf ohne und vier mit Passagieren. Nun wird im besten Fall mit überfüllten Zügen voller Olympiatouristen getestet. Man muss keine Schreckensszenarien erfinden, um zu sagen, dass dies ein gewisses Sicherheitsrisiko birgt. Parallel zur U-Bahnstrecke wurde auch ein Panorama-Fahrradweg nach Barra gebaut, der neulich kurz nach der Einweihung ins Meer stürzte und zwei Menschen in den Tod riss.

Temer wird die aus Rio geforderte Finanzspritze wohl freigeben. Allerdings mit großen Bauchschmerzen. Einige Bundesstaaten wie etwa Minas Gerais stehen ebenfalls kurz vor der Pleite. In Brasília wird befürchtet, dass sie bald dem Beispiel Rios folgen und ihre Forderungen an den Bund mit Notstanderklärungen untermauern.

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SZ vom 20.06.2016/jps
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