Es ging um nicht weniger als einen Systemwechsel. Seit mehr als einem Jahrhundert, seit Bismarcks Reformen von 1889, war die Rente für die Normalverdiener eine Angelegenheit der staatlichen Rentenversicherung. Private Vorsorge mit Aktien und Fonds war die Sache der Besserverdiener, Millionen Lebensversicherungen waren vor allem steuerlich geförderte Sparprodukte und hatten wenig mit wirklicher Altersvorsorge zu tun.
Bundeskanzler Gerhard Schröder und Arbeitsminister Walter Riester, beide SPD, traten 1998 an, genau das zu ändern. Die staatliche Rente müsse gekürzt werden, weil sich die Gesellschaft das System aufgrund der alternden Bevölkerung nicht mehr leisten könne, so ihr Argument. Zum Ausgleich sollten Arbeitnehmer - auch die mit sehr niedrigen Einkommen - privat vorsorgen. 2001 verabschiedete die erste rot-grüne Bundesregierung die Rentenreform und beschloss neben der Rentenkürzung die Einführung der Riester-Rente.
Mit staatlichen Zuschüssen und steuerlichen Vergünstigungen wollte die Regierung vor allem Geringverdiener zum Sparen motivieren. Heute haben in Deutschland rund 16,5 Millionen Menschen einen Riester-Sparvertrag in der Schublade. Längst nicht jeder holt sich die Zulagen ab. Zuschüsse erhielten 2012 nur 11,3 Millionen von 15,7 Millionen Versicherten.
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Seehofer und die Grünen halten die Riester-Rente für gescheitert
Unbestritten ist: Für viele Sparer lohnt sich die Vorsorge mit staatlichen Zulagen. Für den Staat und damit die Gesellschaft ist Riester jedoch eine teure und höchst aufwendige Angelegenheit. Kein Wunder, dass der einstige Hoffnungsträger der deutschen Altersvorsorge immer mehr zum Gegenstand heftigen politischen Gezänks wird.
Im April erklärte CSU-Chef Horst Seehofer Riester für gescheitert. Auch die Grünen halten die Riester-Rente inzwischen für einen Fehlschlag: Zu selten werde sie in Anspruch genommen, zu gering seien die Renditen, zu hoch die Kosten. Die SPD-Linke will das Riester-Projekt am liebsten ganz abschaffen. Eine Reform des Konzepts fordert die Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung der CDU/CSU: Die Riester-Rente sollte zu einer weniger bürokratisch organisierten Zulagenrente ausgebaut werden, die nicht vollständig mit der Grundsicherung verrechnet wird.
Altersvorsorge:Riester-Rente gescheitert - endlich sagt's mal einer!
Die Renten sind vielleicht sicher, aber sie reichen nicht. Statt nur herumzudoktern, sollte die Politik jetzt über einen ganz anderen Vorschlag nachdenken.
Verwaltungskosten in dreistelliger Millionenhöhe
Ein Grund für die heftige Kritik sind die hohen Summen, die der Staat für diese Vorsorge aufbringen muss. Er polstert die Privatvorsorge jährlich mit Zulagen in Milliardenhöhe auf. 2015 erhielten Riester-Sparer etwa drei Milliarden Euro an Zulagen, seit dem Riester-Start 2002 zahlte der Staat 25 Milliarden Euro. Dazu kommt der Aufwand für die Zentrale Zulagenstelle für Altersvermögen (ZfA), die Zulagen an die Sparer verteilt und mit Versicherern, Banken, Bausparkassen und Besoldungsstellen der Finanzverwaltung kommuniziert. Die Behörde hat rund 1 400 Beschäftigte und wird von der Deutschen Rentenversicherung betrieben. 148 Millionen Euro sieht der Bundeshaushalt 2016 für die Verwaltungskosten der ZfA vor.
"Wir können nicht nachvollziehen, warum man einen so teuren bürokratischen Apparat aufbauen musste", sagt Axel Kleinlein, Chef des Bundes der Versicherten (BdV). "Statt eines sozialen Produkts wurde Bürokratie aufgebaut, für die der Steuerzahler aufkommen muss."
Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) hält trotz aller Kritik an Riester fest, sieht aber Reformbedarf. Mit dem Rentenpaket, das Nahles im November vorstellen wird, will sie die Förderung aufbohren. Für Sozialhilfeempfänger führt sie neue Sparanreize ein. Freibeträge sollen verhindern, dass die Riester-Rente voll auf staatliche Leistungen im Alter angerechnet wird, wie bisher der Fall. Zudem plant Nahles mehr Standardangebote und eine stärkere Produktregulierung.
Aus Sicht der Sparer ist die Vorsorge wegen der Zulagen durchaus lukrativ. "Mit einem guten Vertrag erzielen Riester-Sparer dank staatlicher Förderung eine ganz ordentliche Rendite auf ihre eingezahlten Riester-Beiträge", urteilt die Stiftung Warentest. Die Rendite sei oft höher als bei vergleichbaren Produkten ohne Förderung.
Aus Sicht der Sparer ist die Vorsorge wegen der Zulagen durchaus lukrativ
"Riester gibt den Menschen die Chance, das zu kompensieren, was durch die Rentenreform an Einschnitten kam", sagt auch Roland Weber, Vorstandsmitglied beim Versicherer Debeka. Vor allem Geringverdiener hätten durch Riester die Möglichkeit, eine zusätzliche Altersvorsorge aufzubauen, die sie sich sonst vielleicht nicht leisten könnten. Die Debeka hat rund 830 000 Riester-Verträge im Bestand, das Prämienvolumen lag 2015 bei 400 Millionen Euro.
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Am meisten rentiert sich die geförderte Altersvorsorge für Familien mit Kindern. Die Rendite liege bei Riester-Sparern ohne Kinder zwischen drei und fünf Prozent, sagt Kerstin Becker-Eiselen von der Verbraucherzentrale Hamburg. Sobald Kinder da sind, seien bis zu sieben Prozent Rendite möglich. Bei der Riester-Vorsorge erhält der Sparer eine jährliche Grundzulage von 154 Euro. Für jedes Kind, das bis Ende 2007 geboren wurde, gibt es zusätzlich 185 Euro, für Kinder, die später geboren sind, 300 Euro.
Verbraucherschützer empfehlen unabhängige Beratung
"Gute Riester-Produkte sind Bank- und Fondssparpläne", sagt Becker-Eiselen. "Mit Fondssparplänen kann eine höhere Rendite erwirtschaftet werden, sie weisen aber durch die Depot- und Fondskosten eine erhöhte Kostenstruktur auf." Bei geringen Prämien lohne sich ein Fondssparplan daher eher nicht.
Verbraucherschützer Kleinlein ist im Grunde gegen Riester, sieht aber ein, dass sie für viele doch attraktiv sein kann. "Wer riestern will, sollte einen unabhängigen Berater um Hilfe bitten", ist deshalb sein Rat. Das können unabhängige Versicherungsberater sein, Verbraucherzentralen, Kleinleins BdV oder unabhängige Verbraucherportale wie Ökotest, die Stiftung Warentest und das Verbraucherportal Finanztip.
Ein Hauptproblem der Riester-Rente sind die hohen Kosten. Insbesondere Versicherer berechnen ihren Kunden saftige Abschluss- und Verwaltungskosten. "Bei den Versicherern gibt es durchaus Anbieter, deren jährliche Kosten der Höhe der Zulagen entsprechen", sagt Verbraucherschützerin Becker-Eiselen. "In extremen Fällen können die Kosten höher sein als die jährliche Grundzulage." Bei der Allianz machten schon die Verwaltungskosten von 153 Euro jährlich die Grundzulage wieder zunichte, sagte sie.
Hinzu kommen noch die Abschlusskosten. Bei den meisten Gesellschaften liegen die Gesamtkosten bei mehr als zehn Prozent der eingezahlten Summe. Nicht selten zwacken Versicherer gar 15 Prozent und mehr der Summe ab, die Kunde und Staat zusammen einzahlen. Die Kosten fressen in den ersten fünf Jahren einen großen Teil der staatlichen Zuschüsse auf. Der Staat subventioniert indirekt die Versicherer und nicht die Bürger mit Niedrigeinkommen, sagen Kritiker.
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Kleinlein: "Versicherer rechnen mit zu hoher Lebenserwartung"
BdV-Vorstand Kleinlein, von Haus aus Versicherungsmathematiker, kritisiert neben den Kosten auch die Kalkulationsmethoden der Anbieter. Sein Vorwurf: Versicherer rechnen mit einer zu hohen Lebenserwartung der Sparer. "Sie schlagen in der Lebenserwartungsbetrachtung sechs, zehn oder mehr Jahre drauf", sagt Kleinlein. Entsprechend verteilt sich die angesparte Summe auf einen längeren Rentenzeitraum. "Das mindert die Rente und macht das Produkt ineffizient."
Kleinlein ist kein Gegner staatlicher Zulagen: "Die Förderung könnte sinnvoll sein, wenn die Produkte vernünftig wären, aber die Produkte sind mies und ineffizient", sagt er. "Wir sollten nicht über die Zulagenförderung Produkte effizient machen, sondern umgekehrt effiziente Produkte fördern."
Das ganze System hat etwas Paradoxes. Die Bürger sollen privat vorsorgen, weil sich der Staat die Zuschüsse zur gesetzlichen Rentenversicherung nicht mehr leisten kann. Aber damit der Bürger privat vorsorgen kann, muss der Staat hohe Milliardensummen einschießen, die vor allem den Anbietern zugute kommen. Effektiv bei der Verhinderung der Altersarmut ist das System nicht, die meisten der Riester-Verträge, die heute in Kraft sind, laufen auf Zusatzrenten von weniger als 100 Euro im Monat hinaus. Riester sollte die Antwort auf die demografische Herausforderungen sein. Aber in der jetzigen Form ist die Reform gescheitert.
Reicht die Rente in Zukunft zum Leben? Wie kann ich zusätzlich vorsorgen? Wie ändert sich das Leben alter Menschen? Die neue SZ-Serie "Unsere Zukunft, unsere Rente" beschäftigt sich mit den wichtigsten Aspekten des Ruhestands.