Leben im Rentenalter:Wenn die Rentner in den Osten ziehen

Seniorendomizile in Deutschland können sich viele nicht mehr leisten. Osteuropa lockt mit niedrigeren Kosten. Aber wie geht es einem dort?

Von Cathrin Kahlweit, Nemesbük

"In meinem Alter hat man keine Freunde mehr", sagt Margot Reich lakonisch. Leicht sei es ihr daher gefallen, das heimische Göppingen zu verlassen, wo niemand mehr übrig ist, den sie kennt; 95 Jahre ist sie, fast blind, aber sehr wach im Kopf. "Das Hirn ist das Einzige, was noch funktioniert. Aber was hätte ich mit meinem Hirn daheim in Deutschland allein gemacht?"

Nun sitzt die betagte Dame im Foyer des "Seniorendomizils Életfa" im ungarischen Nemesbük, knapp 15 Kilometer vom Plattensee entfernt. Hier im Entrée der Anlage, wo ein paar Sessel für die rüstigeren und die neugierigeren unter den Bewohnern aufgestellt sind, und wo man, anders als im Speisesaal oder allein auf dem Zimmer, Kommen und Gehen beobachten kann, verschafft die Zugluft ein wenig Abkühlung von der sommerlichen Hitze eines südungarischen Augusttages.

Die alte Dame sieht den See zwar nicht mehr, den man von der Anhöhe, auf der das Dörfchen Nemesbük liegt, in der Ferne zumindest erahnen kann; sie verlässt das Haus sowieso kaum noch. Garten und Terrasse nutzt sie nicht, an den sporadischen Ausflügen der Heimbewohner nimmt sie nicht mehr teil. Warum auch, fragt sie? Die Tochter und ihr Mann kämen regelmäßig zu Besuch, das sei Ablenkung genug. Sie haben in der Nähe gebaut, der Schwiegersohn hat ungarische Wurzeln, beide sind mittlerweile selbst Rentner, und Margot Reich findet das alles sehr in Ordnung. Heimat, sagt sie, das sei nicht Göppingen, sondern die Familie. Und die ist mittlerweile selbst in Ungarn gelandet.

Am Ortsrand von Nemesbük leben knapp fünfzig Senioren, die Mehrheit sind Deutsche und Österreicher, ein paar Schweizer und eine Amerikanerin sind auch darunter, aber nur drei Ungarn.

Seniorendomizil Életfa

Am Ortsrand von Nemesbük leben knapp fünfzig Senioren. Die Mehrheit sind Deutsche und Österreicher, ein paar Schweizer und eine Amerikanerin sind darunter, aber nur drei Ungarn.

(Foto: PR)

Die meisten haben eine Beziehung zur Region; eine höchst virile alte Dame, die noch selbst Auto fährt, gerade von einer Arztvisite im Nachbarort kommt und nun im Foyer ein Schwätzchen hält, hat eine Weile in Spanien gelebt, ihre Kinder besaßen dort ein Hotel. Das wurde geschlossen, die Kinder sind, weil es sich am Balaton warm und vergleichsweise preiswert leben lässt, nach Südungarn gezogen, die Mutter ist ihnen gefolgt.

Wie es geht? "Mal so, mal so", sagt sie, und beklagt sich höchstens über die Sauerkirschen-Kaltschale, die es zum Mittagessen gab. Ansonsten sei sie heiter, weder einsam noch vernachlässigt, merkt sie lächelnd an, auch wenn dieses Klischee ja daheim in Deutschland gern gepflegt werde: arme Greisin vegetiert in ausländischem Heim vor sich hin.

"Warum nicht ins Altenheim im Ausland, knapp hinter der Grenze zum Beispiel?"

Aber ihr geht es gut - besser vielleicht als dem Nachbarn zur Linken, der sich nicht mehr mit seinem Sohn daheim am Attersee versteht und im gemeinsamen Haus nicht bleiben wollte, oder dem zur Rechten, der sich in seiner Villa in Wien nicht mehr allein versorgen konnte. Üblicherweise wird in solchen Fällen eine 24-Stunden-Pflegerin aus Osteuropa in den Westen geholt - mit hohen sozialen Folgekosten: zerrissene Familien in Moldawien, Polen oder Rumänien, elternlose Kinder, deren Mütter und Väter sich um andere Menschen kümmern und Geld nach Hause schicken, damit die Zurückgebliebenen ein Auskommen haben.

"Wenn deutsche Omas in die Slowakei fliehen müssen"

Schwarzarbeit und Ausbeutung sind Massenphänomene, die mit dieser importierten Betreuung einhergehen. Aber es gibt einen Gegentrend: Die Reise nach Osten, vom britischen Guardian mit Blick auf die hohen Pflegekosten und den tristen Alltag in deutschen Heimen als "trauriger Abschied" von Germany bezeichnet. Allerdings ist dies kein Massenphänomen. Die populäre These, die in deutschen Medien seit Jahren aufbereitet wird, ist überzogen: Immer mehr deutsche Familien, heißt es, verschickten ihre Omas und Opas in osteuropäische Heime. Denn die seien zwar weit weg, aber eben billiger. Auch wer seine dementen oder alzheimerkranken Angehörigen nicht selbst pflegen wolle oder könne, entscheide sich immer häufiger für eine Anlage in der Slowakei, in Ungarn oder Tschechien.

"Wenn deutsche Omas in die Slowakei fliehen müssen" oder "deutsche Rentner verdrängen Senioren Osteuropas aus den Pflegeheimen" heißen die entsprechenden Schlagzeilen, die suggerieren, dass ein Exodus gen Osten eingesetzt hat. Aus Kostengründen. Aus Bequemlichkeit. Aus Lieblosigkeit gar. Deutschlands bekanntester Experte und Kritiker des Renten- und Pflegesystems in Deutschland, Claus Fussek, wird gern mit dem Satz zitiert, es sei herzlich egal, wo Kinder ihre Eltern nicht besuchten - ob in Hamburg oder in Bratislava. Tatsächlich sieht Fussek die Sache weitaus differenzierter.

Man müsse dieses Thema endlich entmystifizieren, sagt er, denn angesichts der desaströsen Zustände in vielen deutschen Heimen sei es durchaus verständlich, wenn sich Familien für ein Heim im Ausland entscheiden. Das Preis-Leistungs-Verhältnis sei oft besser. "Mich wundert eher, dass es nicht noch viel mehr Menschen sind, die sich für ein Altenheim im Ausland entscheiden, knapp hinter der deutschen Grenze zum Beispiel", sagt Fussek.

In Deutschland ist Pflege eine Art Teilkasko-System: Einen Teil der Kosten übernimmt die Pflegeversicherung, in die jeder Arbeitnehmer einzahlt, ein Teil wird aus der Rente finanziert, und wenn beides nicht reicht, muss die Familie den Rest beisteuern. Viele Alte wollen ihren Kindern nicht zur Last fallen, viele Familien können die zusätzlichen Kosten nicht stemmen. Bei Heimkosten zwischen 3000 und 5000 Euro monatlich und Zahlungen aus der Pflegeversicherung je nach Pflegestufe bis 1600 Euro ist da häufig ein großer Batzen auszugleichen. Zudem werden Heime immer teurer, die Renten steigen kaum - und die alten Menschen leben länger.

Dennoch bleiben die meisten Rentner und Pflegebedürftigen lieber daheim, oder in der Nähe ihrer Angehörigen, in jedem Fall im eigenen Land. Tatsächlich sprechen auch die Zahlen eine andere Sprache als die Schlagzeilen: Im Jahr 2015 ließen sich nach Angaben der Bundesanstalt für Versicherte gerade mal 400 Deutsche ihre Rente in die Slowakei überweisen, etwa 4000 nach Ungarn, 2400 nach Tschechien.

Das heißt aber erst einmal nur, dass sie dort leben - eventuell mit ihren einheimischen Partnern, in ihren Ferienhäusern, oder als Rückkehrer, die zwischenzeitlich die deutsche Staatsangehörigkeit erworben hatten. Weit mehr Rentenzahlungen fließen an Auswanderer in Spanien etwa, in Australien oder Thailand.

Im Életfa mischen sich die Motivlagen. Einige alten Herrschaften sind dement, die wenigsten sind noch so fit, dass sie mit dem Bus ins nahe Thermalbad nach Heviz oder gar heim, nach Wien, an den Attersee, nach Stuttgart fahren.

Betreut werden sie von 28 Mitarbeitern, darunter einer Krankengymnastin und einer Ergotherapeutin, Friseur und Maniküre kommen ins Haus. Die Betreiber, Béata Bajan und Genco Cirobroglu, die beide große Gastronomiebetriebe im Englischen Garten in München geleitet haben, sind Tag und Nacht präsent. Gut möglich, dass das Seniorendomizil Életfa für den Besuch der Reporterin aufgehübscht oder durchgeputzt wurde, aber Einzelgespräche mit den Bewohnern lassen zumindest erahnen: Es ist ein nettes Altenheim, in dem sich, mit Kuchenbacken, Turnen oder Kreuzworträtseln nicht besser oder schlechter die letzten Jahre verbringen lassen als in vielen Einrichtungen zu Hause.

Pfleger arbeiten nicht nach Stoppuhr

Für alle Klienten ist das Geld ein Argument, natürlich: Ein Heimplatz in Nemesbük kostet beispielsweise pro Einzelzimmer im betreuten Wohnen ohne intensive Pflege um die 1000, mit Pflege etwa 1600 Euro; das ist weit weniger als ein durchschnittliches Alten- oder Pflegeheim in Deutschland, wo sich die Preise schnell mal oberhalb der 3000 Euro einpendeln.

Aber in Ungarn gibt es keine Pflegestufen, Zähneputzen, Fingernägelschneiden, Waschen wird nicht nach der Stoppuhr bezahlt, deutsches Fernsehen gibt es auch, in den Fluren dudeln deutsche Schlager aus den Lautsprechern, und zumindest ein Teil des Personals spricht Deutsch.

"Auch im Heimatland sind die Fahrstrecken für die Kinder oft einige hundert Kilometer."

Ildiko Hutflies hat wegen der Kosten ihre Mutter hier untergebracht, von der sie nur in lichten Momenten erkannt wird. Hutflies, gebürtige Ungarin, die 30 Jahre in Deutschland lebte, hat für die Pflege der Mutter den Job aufgegeben, aber selbst deren Rente und das Pflegegeld reichten nicht zum Leben in Deutschland. Nun sind beide hier, Hutflies lebt beim Bruder in Budapest und kommt einmal im Monat für vier Tage nach Nemesbük. Sie sucht wieder einen Job, aber sie will weiter regelmäßig anreisen. "Ich will sie nicht allein lassen, selbst wenn sie mich nicht erkennt."

Der deutsche Unternehmer Artur Frank, der Rentner und Pflegebedürftige in die Slowakei, nach Tschechien, Polen und Ungarn vermittelt und dafür eine Provision von den jeweiligen Heimen erhält, hat bis dato etwa 350 Klienten betreut. Er hat acht Heime entweder selbst mit aufgebaut oder kooperiert mit ihnen; darunter sind Heime speziell für Alzheimer-Patienten, aber eben auch das Haus am Plattensee. Frank gilt derzeit als der bekannteste

Makler für diese Kundschaft. Der ehemalige Pharma-Unternehmer hat 2006 seine Firma SeniorPalace gegründet und wirbt damit, dass neben der Kostenersparnis und bisweilen mehr persönlicher Betreuung die Entscheidung für ein Altenheim in Osteuropa nicht automatisch weniger Kontakt bedeute: "Auch im Heimatland sind im Zeitalter von Flexibilität und Mobilität oft Fahrstrecken für die Kinder von einigen hundert Kilometern zu überwinden. Bei der Entfernung besteht oft gar kein so großer Unterschied. Vielleicht sind die Besuche seltener, aber dafür intensiver."

Die medizinische Versorgung sei nicht unbedingt schlechter, zumal der Rentner Mitglied seiner deutschen Krankenkasse bleibe und die Sozialversorger im Gastland mit der Kasse daheim abrechnen. Aber, das räumt Frank auf der Terrasse des Életfa ein, dessen Aufbau er begleitet hat und dessen Einwohner er alle persönlich kennt: "Klar, so ein Umzug in die Ferne ist nichts für jeden. Muss ja auch nicht."

Eben: Muss nicht, ist auch nicht. Ein Pflegeheim für Oma und Opa tausend Kilometer weit entfernt von daheim, andere Sprache, andere Kultur, ist die absolute Ausnahme, nicht die Regel. Wer sich auf die Suche macht nach Heimen in Osteuropa, die von Anfragen deutscher oder österreichischer Rentner überrannt werden, der scheitert daher an der Realität.

Spontanvisite im Domus Bene in Senec, etwa 25 Kilometer außerhalb von Bratislava; das Haus, in dem vor allem stark pflegebedürftige Patienten betreut werden, steht in der Regel ganz oben auf den Internet-Suchlisten, wenn man "Pflegeheim und Osteuropa" eingibt. Es liegt in einer mit Schranke und Wachmann geschützten Wohngegend hinter einem Badesee, das Zimmer samt Intensivpflege kostet laut Webseite etwa 1800 Euro im Monat, aber offensichtlich gibt es keine deutsche oder österreichische Kundschaft, obwohl Wien nur knapp eine Stunde entfernt ist.

"Klar, so ein Umzug in die Ferne ist nichts für jeden. Muss ja auch nicht. "

Eine Angestellte, die vor dem Tor steht, winkt ab, ein Lieferant, des Deutschen mächtig, sagt: Es gebe keine Ausländer hier, obwohl es für die nicht zu teuer sei, "für viele von uns schon". In der Slowakei liegt die Durchschnittsrente bei 400 Euro, da können sich nur die wenigsten ein Heim leisten, das in den Augen deutscher Klienten fast schon ein Schnäppchen ist.

"Es gibt immer wieder Anrufe von Kunden, die betreutes Wohnen suchen und auch Kunden, die intensive Pflege benötigen. Bis jetzt hat sich niemand für unsere Pflegeheime entschieden", sagt auch der Leiter eines Heims in Galanta in der Slowakei. "Wir haben keine deutschen Klienten", schreibt eine Betreiberin aus Bratislava, deren Anlage auf deutschsprachigen Webseiten für "Pflegeheime in Osteuropa" ebenfalls beworben wird. Viele Heime in den Visegrad-Staaten wären wohl durchaus interessiert an westeuropäischer Kundschaft und betreiben ein entsprechendes Marketing; aber der Run hält sich in Grenzen.

Das weiß zum Beispiel Janeta Hantabalova zu berichten; sie ist Managerin bei einer slowakischen Holding, die neben vielen anderen Projekten, Golfplätzen etwa, auch Pflegeheime betreibt. Eines davon, und durchaus kein schlechtes, liegt in dem kleinen Dorf Jablonove außerhalb von Bratislava. Das Dorf ist abgeschieden und ruhig, man könnte auch sagen, hier sei der Hund begraben.

Aber den meisten Bewohnern des Hauses "Avalon", das zur Seniorville-Gruppe gehört, fällt das nicht mehr auf, sie sind schwer dement oder leiden an Alzheimer. Auf zwei Stockwerken werden alte Menschen medizinisch und therapeutisch betreut, der Fernseher läuft, aber kaum jemand schaut hin, eine Pflegerin verteilt entkernte Pflaumen. Im Avalon wird noch gefüttert, Magensonden sind nicht üblich.

Die Heimleiterin, eine Ökonomin, und die Leiterin des Sozialdienstes, zwei junge Damen, sind stolz auf die Leistungen des Hauses, auf den Krankengymnastik-Raum und die Tier-Therapie, aber Deutsch spricht hier keiner - nicht einmal die alte Dame, deren Tochter seit Jahren in Bayern lebt, aber derzeit nicht zu Besuch kommen kann, weil sie selbst sehr krank ist. Es ist eher anders herum: Elisabeth Görrer, Dolmetscherin mit Wohnsitz Brüssel, übt hier Slowakisch. Sie habe eine weitere Sprache lernen wollen, sagt sie, und das mit ehrenamtlicher Arbeit verbinden wollen. Also kommt sie einmal im Jahr einige Wochen nach Jablonove, singt mit den Patienten, holt Kaffee, und hat "ein Zuhause-Gefühl".

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