Report:Wo die Bäume weinen

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Seit mehr als 2000 Jahren wird auf der Ägäis-Insel Chios ein besonderes Harz geerntet: Mastix. Begehrt von der Pharma- und Kosmetikindustrie und Gastronomen.

Von Christiane Schlötzer

Chios ist eine griechische Insel in der nördlichen Ägäis, die türkische Küste ist nah. Chios hatte schon viele fremde Herren, sie interessierten sich nicht im Geringsten für die Pinienwälder oder die Strände mit den feinen Kieselsteinen im Norden der lang gestreckten Insel, aber immer für ihren Süden. Weil hier gedrungene, immergrüne Bäume wachsen, aus denen ein Wunderharz tropft: Mastix. Weltexklusiv, seit mehr als zweitausend Jahren.

Schon die Ärzte der Antike wussten, dass sich mit diesem Harz heilen lässt, Brandwunden und Magenverstimmungen, dass man darauf kauen kann und es den schlechten Atem nimmt, im Harem des Sultans von Istanbul war Mastix deshalb sehr beliebt. Süßigkeiten lassen sich damit auch veredeln, und als Räucherwerk soll es noch böse Geister vertreiben.

Die strauchartigen Gewächse sind mit der Pistazie verwandt, sie gedeihen auch an anderen Küsten des Mittelmeers. Aber nur auf Chios dringt aus ihren rissigen Stämmen so viel wässrig weißes oder gelbliches Harz, dass sich daraus ein lukratives Geschäft machen lässt. Die Bauern auf Chios sagen, ihre Mastix-Bäume "weinen". Wie machen sie das nur?

Die Sonne ist gerade aufgegangen und hat doch schon Kraft. Giannis Koutroumbes trägt eine verwaschene Schirmmütze, Vollbart, graue Trainingshose. Der Bauer steht auf seinem Feld, die Erde ist knochentrocken, die harten Blätter seiner Mastix-Bäume aber sind sattgrün. Sie mögen die Hitze, Regen ist ihr Feind. Mit der flachen Hand greift Koutroumbes ins Geäst eines brusthohen Strauchs. "Das ist eines meiner Babys", sagt er. Den jungen Baum hat er vor vier, fünf Jahren gepflanzt. Die alten Bäume haben gedrechselte Stämme, nach etwa 70 Jahren hören sie auf, Mastix zu produzieren. Koutroumbes führt seine Finger zur Nase. "Das Aroma ist in den Blättern", sagt er. Mastix hat einen feinen, leicht süßlichen Duft.

Das Erste, was Giannis Koutroumbes über Mastix lernte, hat ihm sein Großvater beigebracht. Als Kind lief er mit ihm über die steilen Hänge, hat gesehen, wie man im Juli mit einem scharfen Metallkeil zehn bis 15 Millimeter lange und vier bis fünf Millimeter tiefe Schnitte in die Stämme ritzt. Immer nur ein paar, und nach ein paar Tagen dann noch mehr. Dann geben sie ihr Harz her. "Du fängst mit den kleinen Bäumen an, damit du es ihnen beibringst", sagt Koutroumbes. "Wenn ich sie eine Weile dann nicht verletze, vergessen sie es wieder." Dann tropft das Harz nicht mehr. Der Bauer redet, als habe er nie etwas anderes getan, als Mastix-Bäume zu streicheln und zu verletzen. Aber das stimmt nicht. Eigentlich ist er Elektroingenieur.

Die Mastix-Dörfer sind gebaute Zeugnisse einer frühen hochkapitalistischen Kultur

Er hat auf Kreta studiert, lernte dort seine Frau kennen, hätte bleiben können. Doch dann entschloss er sich, mit seiner Frau und dem kleinen Sohn zurückzukehren, weil er glaubt, "dass ich hier eine gute Zukunft habe". Denn Mastix ist heute wieder so begehrt wie vor vielen hundert Jahren. Von der Pharma- und der Kosmetikindustrie, und auch von Meisterköchen.

Dabei hatten viele auf Chios schon ihre besonderen Bäume aufgegeben, ließen sie verwildern. In der Generation von Giannis Koutroumbes wollten viele weg von der Insel, an die Universität, weg von den ausgedörrten Feldern. Vorher schon wanderten viele Chioten aus, nach Amerika, Kanada, Deutschland. Die alten Dörfer verfielen, die Bäume verlernten das Weinen.

Dabei waren Chios und Mastix (Griechisch: Mastiha) immer untrennbar. Die ganze Geschichte der Insel ist geprägt von diesem Naturprodukt. Die Dörfer sind eher kleine Wehrstädte, mit hohen Mauern zur Verteidigung nach außen und gefängnisartiger Enge im Innern - und das alles wegen Mastix. Gebaut haben diese 21 Mastix-Dörfer - die Griechen nennen sie Mastihohoria - im 14. Jahrhundert Geschäftsleute aus Genua. Sie hatten zuvor das Recht erworben, die Insel auszubeuten. Die Genueser gründeten dazu eigens eine Aktiengesellschaft, zwölf Familien bekamen je 1000 Aktien. Sie setzten alle hinter ihren Namen den Zusatz "Giustiniani", weil das Hauptquartier ihrer Firma im Palazzo Giustiniani in Genua lag.

Welche Folgen hat Europas Wirtschaftspolitik für seine Bürger? Wir erzählen ihre Geschichten. (Foto: SZ-Grafik)

Alle Mastix-Bauern mussten auf Druck der Genueser in die neu errichteten 21 Wehrdörfer umziehen, dort hatten die Giustiniani sie unter Kontrolle. Kein Krümel des begehrten Harzes sollte verloren gehen. Illegaler Besitz der Mastix-Perlen wurde von den christlichen Genueser Herren mit mittelalterlichen Körperstrafen geahndet: dem Abschneiden von Ohren oder Nase bis zum Tod am Strang.

Viele der Mastix-Dörfer existieren heute noch, sie sind gebaute Zeugnisse einer frühen hochkapitalistischen Kultur, in der alles der Profitmaximierung untergeordnet war. Olimpi ist ein solcher Ort. Wer sich den Stadtmauern nähert, sucht eine Weile nach einem Eingang ins Innere des Gassengewirrs. Deren Plan erschließt sich dem Besucher kaum. Die Häuser lassen wenig Lücken, die Bewohner konnten auf den flachen Dächern von Haus zu Haus laufen. Das Labyrinthische sollte es Fremden unmöglich machen, den Ort einzunehmen und die Mastix-Vorräte zu erbeuten. Die Bauern waren geschützt - und gefangen zugleich.

Ein Holzmodell von Olimpi ist im Mastix-Museum ausgestellt. Dieses Museum wurde erst vor zwei Jahren in einen steilen Hang gebaut, bei Pyrgi, dem größten erhaltenen Dorf. Vom Fuß des Berges aus scheinen die Schrägdächer des Gebäudes in der Höhe zu schweben. Es ist ein eleganter Bau aus Holz und Glas, er wurde mit rund neun Millionen Euro großteils aus einem EU-Programm finanziert. Ein Schild am Eingang weist darauf hin. Bislang kamen 120 000 Besucher, sagt der Direktor, Dimitris Gavalas. Er arbeitet für die Kulturstiftung der Piraeus-Bank, sie brachte die restlichen Mittel auf und sorgt für den laufenden Betrieb. Das Museum erzählt erstmals die ganze Mastix-Geschichte, es diene auch als Bildungszentrum, sagt Gavalas. Denn das Wissen hätte auch verloren gehen können. Schließlich wurde es immer nur mündlich weitergegeben, von Generation zu Generation, und da gab es zuletzt schon Brüche. So war nicht sicher, ob Chios seinen Schatz bewahren würde. Aber nun gibt es das Museum, und bald wird noch ein Mastix-Forschungsinstitut entstehen, auch mit Hilfe der EU.

Der Bauer Giannis Koutroumbes sagt auf seinem Feld: "Mein Vater hat mich ermahnt, du darfst die Bäume nicht zu sehr verletzen. Aber jeder macht es hier ein bisschen anders." Koutroumbes will "etwas experimentieren". Er sieht ja, dass die Bäume unterschiedlichen Ertrag geben. "Der Durchschnitt liegt bei 250 Gramm Mastix bei einem Baum von etwa 15 Jahren." Aber er hat auch Bäume, die schenken ihm mehr "Diamanten". So nennt er die glänzenden Tropfen. Je klarer das Harz ist, desto wertvoller ist es. "Das Allerhellste ist schwer zu erzeugen." Der Preis hängt von der Qualität ab, sagt der Bauer, "zwischen 20 und 86 Euro pro Kilo" bekomme er von der Verkaufsgenossenschaft.

Diese Genossenschaft ist ebenfalls eine historische Errungenschaft, manche sagen auch, sie sei ein Zwangssystem. Gegründet wurde sie 1938, in diesem Sommer feiern sie Jubiläum. An die Genossenschaft liefern die Bauern bis heute ihre Ernte ab, sie übernimmt die Vermarktung. Gegründet wurde sie in einer Krise, der Preis für Mastix war stark gesunken. Schon 1890 war in den USA die erste große Kaugummifabrik entstanden, die ganz ohne Mastix auskam. Chios war damals noch Teil des Osmanischen Reichs, aber auch das Reich des Sultans verfiel und mit ihm der Appetit auf Mastix. In Chios fällten viele Bauern ihre Bäume und setzten Tabakpflanzen auf die Felder.

„Wir decken den Tisch“, sagen die Bauern, wenn sie im Sommer weißes Pulver unter ihre Mastix-Bäume streuen, damit das Harz, das aus den rissigen Stämmen tropft, nicht auf dem Boden verklebt. (Foto: Christiane Schlötzer)

Die Osmanen hatten Chios 1566 von den Genuesern übernommen, sie nannten die Insel Sakız Adası (sakız für Mastix, ada für Insel). Den größten Teil der Ernte beanspruchte der Sultan gleich für sich. Aber weil er Mastix so schätzte, gewährte er den Bauern besondere Privilegien: Sie durften ihre 21 Dörfer selbst verwalten. Fremden war der Zutritt während der Erntezeit verboten, denn wieder sollte kein Gramm in die falschen Hände geraten. Mastix war unverzichtbar für eine türkische Köstlichkeit, die es bis heute in jeder türkischen Konditorei gibt: Lokum. Zäh und süß, klebt sofort an den Zähnen. Die zu reinigen, dafür diente dann wieder Mastix, zum Kauen.

Nach 2000 Jahren wieder eine geniale Vermarktungsidee: Aus Luxusgut wird Lifestyle-Produkt

Es dauerte lange, bis sich die Chioten gegen die Osmanen auflehnten. Als sie es 1822, angestachelt von angereisten griechischen Rebellen, taten, endete das mit einem grässlichen Massaker. 25 000 Menschen wurden von osmanischen Soldaten getötet, Tausende als Sklaven verschleppt. Sultan Mahmud II. erboste damit allerdings seine Schwester Esma, weil die Einnahmen aus dem Mastix-Handel in ihre Schatullen flossen. Esma gab keine Ruhe, bis der Sultan den Verkauf der Sklaven aus Chios stoppte. Wer noch lebte, wurde befreit. Nur, um die Mastix-Dörfer wieder zu bevölkern. Die bekamen dann noch ein Freihandelsabkommen, womit die Bauern erstmals ihre Produktion selbst vermarkten durften. Und die Chioten erwiesen sich als gute Händler. Noch bis 1912 blieb die Insel unter osmanischer Herrschaft.

Giannis Koutroumbes hat einen Eimer in der Hand, voll mit weißem Pulver. Großflächig streut er das Pulver um einen Baum, in einem Kreis, so groß wie die Spannweite der äußeren Äste. "Den Tisch decken" nennen sie das. Im Juli bekommen alle Mastix-Bäume solche weißen Tischdecken aus Kalziumkarbonat, damit die wertvollen Tropfen nicht auf die blanke Erde fallen und verkleben. "Du musst diese Arbeit lieben, sonst kannst du sie nicht machen", sagt der Bauer. Den ganzen Tag ist er auf den Beinen, das ganze Jahr mit seinen Bäumen beschäftigt. Nach der Ernte im August und im September muss er seine Bäume düngen, pflegen, schneiden, bis sie aussehen wie Tänzer, die sich um die eigene Achse drehen. Und nach der Ernte müssen die Mastix-Perlen mühsam mit der Hand gesäubert werden. Auch wie das geht, haben die Jungen immer von den Alten gelernt.

Das Haus der Produzentengenossenschaft liegt im Zentrum von Chios-Stadt. Die Eingangshalle erinnert an die Lobby eines historischen Bankgebäudes, mit Säulen und breiten Treppenaufgängen. Im ersten Stock, in einem Büro mit altmodischen brauen Schränken, sitzt Ilias Smyrnioudis, er ist Mikrobiologe, hat in London studiert und kam zurück. Die Bauern sagen über Smyrnioudis: "Er weiß alles über Mastix." Er selbst sagt: "Ich will den Menschen hier auch künftig ein gutes Einkommen mit Mastix sichern."

Deshalb baut er das "Mastix-Forschungszentrum" auf, das die EU mitfinanzieren soll. Mastix habe vor allem in der pharmazeutischen Industrie eine große Zukunft, sagt der Experte. "Die Europäische Medizinagentur hat 2015 die Bedeutung von Mastix als traditionelles Mittel bei Verdauungsproblemen und bei der Wundheilung bestätigt." Studien zeigten auch Wirkungen gegen das Bakterium Helicobacter, Effekte bei Diabetikern würden ebenfalls weiter erforscht, zudem Wirkungen bei der Cholesterinsenkung. Die Nachfrage übersteige inzwischen weit die Kapazität der etwa 2,2 Millionen Bäume auf Chios, sagt Smyrnioudis.

In 45 Länder werde Mastix aus Chios jetzt exportiert. In den USA wird damit ein Pflaster bestrichen, das die Wundheilung fördert. "Das wurde angeblich von den Deutschen im Ersten Weltkrieg erfunden." In alten medizinischen Schriften hat Smyrnioudis aber entdeckt, dass schon die Türken, die Verbündeten des deutschen Kaisers, Mastix dafür nutzten. Großabnehmer sitzen auch heute im Orient und der arabischen Welt, selbst im armen Mauretanien, wo man vor allem den Rauch von brennendem Mastix schätzt.

Smyrnioudis sagt, wegen der griechischen Finanzkrise seien mehr Chioten zu ihren Bäumen zurückgekehrt. Neue Bäume würden gepflanzt, weil es sich nun lohnt. Auch in der Türkei und in Italien haben sie das mit dem Mastix probiert, aber es funktioniert nicht, die Bäume weinen nicht. Smyrnioudis sagt: "Es ist das Mikroklima hier, milde Winter und sehr trockene Sommer, dazu der besondere Boden und die jahrtausendealte Zucht."

Dazu kommt wohl noch das Vermarktungsgeschick der Chioten. Schon in hellenistischer Zeit stempelten sie ihre Produkte mit einem besonderen Siegel: einer Sphinx. Gut zweitausend Jahre später hatten ein paar Leute von der Insel wieder eine ähnlich imageprägende Idee: Sie schufen "Mastiha Shop", eine elegante Ladenkette mit einheitlichem, modernem Design. "Das war eine kleine Revolution", sagt Giannis Mandalas, der Gründer, er ist 56 Jahre alt, hat graue schulterlange Locken und kann das Rauchen nicht lassen. Mandalas trifft man nicht auf Chios, sondern in einem Athener Café, er ist immer ein bisschen atemlos, das Handy auf dem Tisch klingelt fast ohne Pause.

Mandalas erzählt, dass die sehr traditionellen Mastix-Bauern zunächst skeptisch waren, als er vor 15 Jahren seine Ideen präsentierte, aber der Erfolg kam rasch. Sieben Mastiha-Shops gibt es derzeit in Griechenland, vor Beginn der griechischen Krise waren es fünf mehr. Weitere Läden haben sie in Saudi-Arabien, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Katar und auf Zypern eröffnet. Es gibt dort Körperpflege und Zahncremes mit Mastix, Marmelade, Nudeln, Pillen und Pülverchen. Die Gesundheits- und Lifestyle-Welle hat geholfen, aus einem nur noch von Kennern gesuchten Luxusgut ein begehrtes, breit verwendbares Naturprodukt zu machen. Auch bei Mastiha Shop ist die Genossenschaft von Chios der größte Anteilseigner.

Für das von der EU mitfinanzierte Museum gab die Genossenschaft den Grund und Boden, es beherbergt im Keller ihr Archiv. "Die EU hat unsere kleine Revolution unterstützt", sagt Mandalas, "nun hilft sie uns, das Forschungszentrum aufzubauen. Das wird die nächste Revolution."

Shop-Gründer Mandalas und der Biologe Smyrnioudis sind nicht die Söhne von Mastix-Bauern. Ihre Väter waren Kapitäne, sie waren jedes Jahr viele Monate auf hoher See. Die Seefahrt ist die zweite Passion der Chioten. Mandalas sagt, "mein Vater hat alles getan, damit ich vom Meer wegbleibe". So hatte er nur eine Wahl: Mastix.

© SZ vom 04.08.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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