Süddeutsche Zeitung

Report:Wieder am Leben

Detroit stand für den Niedergang der US-Automobilindustrie, jetzt wird wieder investiert in der Stadt. Nicht alle profitieren davon. Doch die Menschen kämpfen für ihre City.

Von Viktoria Großmann, Detroit

In Detroit brennt wieder Licht. 65 000 LED-Straßenlampen hat die Stadt seit dem Ende der Zwangsverwaltung im Dezember 2014 aufstellen lassen. Die Zeiten, in denen sich ein gutes Stadtviertel dadurch auszeichnete, dass wenigstens jede zweite Laterne brannte, sind vorbei. Es fahren wieder mehr und öfter Busse, die Polizei kommt zuverlässiger, Straßen werden geteert. Die Stadt ist nicht mehr dunkel. Sie ist auch nicht mehr leer.

Die Stadt, die in den Zwanzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts die reichste Amerikas war, verlor mit dem Niedergang der Automobilindustrie auch viele ihrer Einwohner. Zum ersten Mal seit 60 Jahren geht die Bevölkerungszahl jetzt nicht mehr zurück. Optimisten, darunter Bürgermeister Mike Duggan, glauben: Die Stadt wird im nächsten Jahr über ihre 670 000 Einwohner hinauswachsen. Auch wenn Detroit wohl nie wieder 1,8 Millionen Einwohner haben wird, so wie 1950: Die Talsohle soll durchschritten sein. Lonely Planet, der Reiseführer schlechthin, hat die Motor City sogar auf Platz zwei der Orte gesetzt, die man 2018 unbedingt besuchen sollte.

Die ewige Frage nach den Ruinen können die Einwohner nicht mehr hören. Sie wollen nach vorn sehen

Die Stadt räumt auf. Innerlich und äußerlich. Es wird erinnert, nach Ursachen gesucht und gleichzeitig nach vorn geschaut. Die ewige Frage nach den Ruinen können die Einwohner nicht mehr hören. Die Erinnerung an die Autostadt ist glanzvoll, aber auch schmerzlich. Zwar steht die Stadt noch immer für Autos, Mitte Januar beginnt hier die Detroit Auto Show, eine immer noch bedeutende Automobilmesse. Doch von den Big Three, den drei großen US-Autoherstellern Chrysler, Ford und General Motors, produziert einzig GM noch in der Stadt. Detroit will jetzt die Stadt der Macher sein, der Tüchtigen und der Stehaufmännchen. Allenthalben gründen die Menschen, sehr oft Nonprofit, fast immer mit dem Anspruch, was auch immer - Jeans, Kuchen, Schmuck, Gitarren - lokal, vielleicht von Langzeitarbeitslosen, ehemaligen Drogenabhängigen oder früheren Gefängnisinsassen produzieren zu lassen. Die Botschaft: Wir kümmern uns umeinander, wir beleben unsere Nachbarschaft. Bei allem amerikanischen Hang zur Corporate Identity hat der Besucher das Gefühl, hier noch mehr Menschen mit T-Shirts ihrer Stadt herumlaufen zu sehen. Beliebter Spruch: "Detroit hustles harder". Detroit strengt sich mehr an.

Die Kehrseite: Detroit ist auch schlimmer gescheitert. Natürlich ist die Stadt in Michigan nicht die einzige, die mit Abwanderung und Arbeitslosigkeit zu kämpfen hat und sich fragt, was sie mit ihren Industrieruinen anfangen soll. Doch kaum eine andere Stadt wurde so schlimm getroffen wie Detroit. Viele ziehen den Umkehrschluss, dass Detroit deshalb auch bessere, nachhaltigere und allgemein gültigere Lösungen anbieten könne.

Eine ist universell. Sie heißt: Geld. Davon gibt es mit drei aus Detroit stammenden Milliardären und deren Familien einiges. Wiederbelebung der Stadt bedeutet für sie: viel Geld investieren. Dan Gilbert mit seinen Immobilienfirmen Quicken Loans und Bedrock kam als einer der ersten in die verwahrloste Innenstadt. Kaufte, riss ab, renovierte, baute wieder auf. Dann ist da die Familie Ilitch, die mit der Pizzeria-Kette Little Caesars reich wurde und eine gleichnamige Multifunktionsarena am Rande Downtowns erbauen ließ. Im September eröffnete sie und wurde zur Spielstätte der Eishockeymannschaft Red Wings, die zur Ilitch Holding gehört. Bleibt noch Manny Maroon, Besitzer des 1988 geschlossenen, denkmalgeschützten alten Bahnhofs und der Ambassador-Brücke über den Detroit River zum kanadischen Nachbarort Windsor.

Reiche Detroiter Unternehmer investieren kräftig in ihre Stadt. Nicht jedes Projekt kommt gut an

Was Dan Gilbert für die Stadt tut, lässt sich in Downtown gut sehen: Seit Sommer präsentiert sich der neoklassizistische Book Tower mit seinen Säulen und Bögen und dem Spitzdach mit sauberer, heller Fassade. Als nächstes ist der Klinkerbau des David-Stott-Hochhauses an der Reihe. In Detroit lässt sich Geld verdienen, das zeigen Gilberts Unternehmungen. Und, das rechnen ihm die Bürger an: Sein Name steht auf fast jeder Spendenliste. Der alte Bahnhof im Besitz von Manny Maroon hingegen: eingezäunt, abweisend, keine Perspektive. Im September wurde er zwar erstmals für eine Veranstaltung geöffnet, doch sein weiteres Schicksal ist ungewiss. Die Ilitch-Familie gilt als unzugänglich. Und hat sich mit ihrem Stadion, das der Kern eines neuen Viertels mit etwa 50 Geschäfts- und Wohnhäusern werden soll, nicht nur Freunde gemacht. Auch, weil bei ihren Bauprojekten schon mal etwas zusammenfällt, das eigentlich erhalten werden sollte.

Detroit baut, Detroit holt auf. An manchen Stellen viel zu schnell. Soziologen wie Larry Gant sehen die Gefahr, dass die rasante Entwicklung hin zu einer vordergründig aufgeräumten, belebten City eines der ältesten Probleme der Stadt nochmals verschärft: die Rassentrennung.

Es braucht nur einen kurzen Spaziergang in Downtown oder im hippen Midtown rund um die West Canfield Street oder die Wayne State Universität, um zu sehen, dass die Stadt dort, wo sie schicker wird, zugleich auch weiß wird. Detroits Bevölkerung ist zu 80 Prozent schwarz. Eine sichtbare weiße Mehrheit ist kein gutes Zeichen: Sie bedeutet Ungleichheit. "Das Ziel muss sein, dass vom Aufschwung der Stadt alle profitieren", sagt Larry Gant, Professor an der University of Michigan im benachbarten Ann Arbor. Obwohl sich die Arbeitslosigkeit seit den Krisenjahren vom zweistelligen in den einstelligen Bereich verringert hat, ist das Haushaltseinkommen drastisch gesunken - bei Schwarzen noch mehr als bei Weißen. Die Armutsrate liegt laut der Organisation Detroit Future City bei 40 Prozent. Das heißt, eine vierköpfige Familie hat im Jahr weniger als 24 339 Dollar zur Verfügung.

Noch immer werden Häuser abgerissen. Noch immer verlieren Menschen ihr Zuhause. Etwa 50 000 Häuser hat die Stadt abreißen lassen, jedes für etwa 15 000 Dollar. Während gleichzeitig in Downtown und Midtown neue Wohnungen entstehen - neue Spekulationsobjekte zu einer Zeit, da die Folgen der früheren Spekulation noch allzu sichtbar sind. Jene, die ihre Grundsteuern nicht bezahlen können, werden nicht dorthin ziehen. Steuern, die den Wert der Häuser bei Weitem übersteigen, aber nie angepasst wurden. Mittlerweile gibt es Möglichkeiten, die Steuern neu berechnen und die Schulden reduzieren zu lassen. Doch nicht jeder erfährt davon.

Kayana Sessoms will solchen Menschen eine Heimat und deren Kindern eine Ausbildung geben. Die 34-jährige Soziologin mit den langen Rastalocken und tellergroßen Ohrringen steht im Stadtteil Osborn, sieben Meilen vom Büro des optimistischen Bürgermeisters entfernt, und stellt einen umgefallenen Phönix auf die Füße. Den bunten Feuervogel aus bemalten Spanplatten und vier Rädern haben Jugendliche gebastelt. Das Tier, das sich aus der Asche erhebt, symbolisiert das Motto Detroits, das seit 1805 lautet: "Speramus meliora, resurget cineribus - Wir hoffen auf Besseres, Auferstehen wird sie aus der Asche." Zugleich soll es auch für einen Neubeginn in Osborn stehen. Sessoms arbeitet im Gemeindezentrum des Stadtteils. Noch bis vor Kurzem galt es als größte Leistung der dortigen Nachbarschaftsinitiativen, Türen und Fenster leer stehender Häuser mit Spanplatten zu sichern, Gestrüpp zu entfernen, Rasen zu mähen - auch, um Kriminellen keine Verstecke zu bieten.

Nun geht die Neighborhood Alliance in Osborn einen großen Schritt weiter: Sie hat ein Haus gekauft. Eines jener hübschen roten Ziegelhäuser, wie sie die gesamte Stadt prägen. Mit Veranda vor dem Haus, Rasen ringsherum. 10 000 Dollar hat es gekostet, für ungefähr 65 000 Dollar wird es renoviert. Zwei Familien sollen hier einmal wohnen können. "Wir möchten, dass die Leute bleiben. Sie sollen wieder Eigentümer werden", sagt Sessoms. Nach und nach soll so die gesamte Mapleridge Street hergerichtet werden. So sieht hier in Osborn die Hoffnung auf Wiederbelebung aus. Sie kostet Zeit und unendliche viele gering bezahlte oder ehrenamtliche Arbeitsstunden.

Unterstützt wird Sessoms zwar auch von der Stadt, aber in erster Linie von der Skillman-Stiftung. Ohne Stiftungen geht in dieser Stadt gar nichts. Kresge, Knight oder Ford stecken hinter fast jedem Projekt - von der Stadtentwicklung über den Kinderchor bis zum Straßenkunstmarkt. Skillman engagiert sich vor allem für Bildung und versucht, Einfluss auf die Politiker in der Regierung von Michigan zu nehmen. Denn die sind für die Schulen zuständig. "So lange die Schulen nicht gut sind, bleibt die Mittelklasse - ob schwarz oder weiß - nicht hier", sagt William Hanson von der Stiftung. Die ganz normalen Wohnviertel könnten mit dem Aufschwung Downtowns nicht mithalten. "Weiße Neubürger finden hier viele Chancen. Für die, die hier leben, ist es nicht so einfach."

Einer, der das Beste aus den Chancen macht, die so eine Stadt im Umbruch bietet, ist Wayne Ramocan. Auch er ein fester Teil dieses Netzes aus gegenseitiger Hilfe. Noch vor drei Jahren hat Wayne Ramocan in Osborn als Vorgänger von Kayana Sessoms mal einen leer stehenden Laden angestrichen - einfach, damit es nicht so trostlos aussieht. Mittlerweile hat der Mittdreißiger sich selbständig gemacht und eine ziemlich typische Detroiter Karriere hingelegt. Nach seiner Zeit in Osborn arbeitete der Uni-Absolvent im Detroit Build Institute - noch ein Nonprofit - und brachte anderen bei, wie man ein Unternehmen gründet. Dann baute er selbst eines auf: die Musikerplattform D-Cipher. Zum Gründungstreffen in einem schicken Co-Working-Space an der Woodward Avenue in Dowtown kamen nur schwarze Musiker: DJs, Rapperinnen, die Gründerin eines Plattenlabels. Ramocan hat damit sein Hobby, die Musik, zum Beruf gemacht und verbindet sie mit der Jugendarbeit von früher. Die Musiker von Detroit sollen wieder Gehör finden. Wenn mal wieder jemand vorbei kommt, um in den Ruinen Detroits einen Film zu drehen, dann soll er es leicht haben, die örtlichen Experten für Ton, Aufnahme und Musik zu finden. Auch Unterricht und Engagement an Schulen gehören zu Ramocans Vorhaben, für die er Unterstützung von der Knight-Stiftung erhält. "Ohne guten Musikunterricht an den Schulen wäre Motown nicht möglich gewesen", sagt er. "Der Abstieg Detroits begann, als Motown Anfang der Achtziger die Stadt verließ."

Schwarze wurden in Detroit lange systematisch benachteiligt. Das droht sich zu wiederholen

Jeder in dieser Stadt scheint seinen persönlichen Tiefpunkt zu definieren. Daraus ergibt sich eine ganze Kette von Rückschlägen. "Zwei Tage", sagt Professor Larry Gant. "Ich denke oft über diese zwei Tage im Jahr 1967 nach." Wesentlich für den Untergang der Stadt ist laut Gant ein bürokratischer Akt aus den Dreißigerjahren, der es der Stadt Detroit verbot, kleinere Orte einzugemeinden. So kommt es, dass es mitten im Stadtgebiet zwei eigenständige Kommunen gibt - Hamtramck und Highland Park - städtische Enklaven. "Zogen früher Menschen oder Firmen aus der Stadt weg, dann hat sich die Stadt diese einverleibt", erklärt der schwarze Professor in seinen raschen Sätzen mit ausschweifenden Gesten. In Weltwirtschaftskrisenzeiten wurde das untersagt. Die Stadt musste zusehen, wie Ford nach Dearborn zog - einen eigenständigen Nachbarort. Die Stadt verlor Einwohner, Industrie, Geld. 1967 sollte der Bann aufgehoben werden, der Staat Michigan hatte seine Zustimmung signalisiert. Die beschließende Sitzung stand noch aus.

"Dann begannen die Riots", sagt Gant und hebt bedauernd die Schultern. Die Straßenunruhen, die erst nicht und dann mit äußerster Gewalt niedergeschlagen wurden, sind eines der einschneidendsten Ereignisse in der Stadtgeschichte, die den Absturz beschleunigten. Jahrelange Unterdrückung der Schwarzen war ein Auslöser der Unruhen. Langsam setzt sich heute die Erkenntnis durch, dass die jahrzehntelange systematische und durch Gesetze gestützte Benachteiligung der schwarzen Bevölkerung auch ihren Teil zur Verarmung der Stadt beigetragen hat. Besonders die weißen Bewohner verließen nach 1967 die Stadt - jene, die es sich leisten konnten.

Viele Menschen zogen und ziehen bis heute nur wenige Meilen weiter über die Stadtgrenzen. Die Metropolregion hat in den vergangenen Jahrzehnten kaum Einwohner verloren - Detroit die Hälfte. Seit 2015 gehört Detroit nicht mehr zu den 20 größten amerikanischen Städten. Die viertgrößte war sie mal 1940. "Wir haben eine Art unerklärten Krieg erlebt", sagt Gant. Es werde Jahrzehnte dauern, Detroit wieder aufzubauen. "Dann wird die Stadt eine andere sein."

Die neue Tram nutzt nicht allen. Eine reine Touristenattraktion sei sie, schimpfen manche

Eine Stadt mit sicheren Fahrradwegen mitten durch Grüngürtel, mit einer Kilometerlangen Promenade am Detroit River, mit sehr viel Erfahrung in urbaner Landwirtschaft. Wie das mit den öffentlichen Verkehrsmitteln funktioniert, das lernen die Leute gerade. Seit Quicken Loans die erste Tram seit den Fünfzigern über die Magistrale Woodward Avenue fahren lässt. Die Q-Line. Schilder in der Bahn erklären genau, wie man Straßenbahn fährt. Trotzdem scheint einigen das Geruckel noch etwas unheimlich zu sein. Als reine Touristenattraktion kritisieren Leute wie Kayana Sessoms die Tram. Sie erreiche die Wohnviertel nicht. In der Autostadt Detroit haben wenige Leute ein eigenes Auto - zu teuer, auch wegen der Versicherung. Fahrradfahren wurde zur Notwendigkeit. Und dann auch schick. Das reicht natürlich nicht. Es müssen auch mehr Busse fahren - die nicht an der Stadtgrenze enden. Auch dazu ist es nötig, dass Detroit und seine Nachbarorte endlich zusammenarbeiten. Irgendwie müssen die Leute zur Arbeit kommen. Besser noch, die Arbeit kommt endlich wieder zu ihnen.

Ein bisschen Textilindustrie siedelt sich an. Detroit Denim oder Empowerment Plan, die Mäntel herstellen, die sich in Schlafsäcke verwandeln lassen - und dabei obdachlose Frauen in Arbeit bringen. Es gibt Hoffnungen, dass durch die Forschung zu abgasfreien und fahrerlosen Automobilen, Arbeitsplätze zurück kommen.

Die Big Three wären gefragt. "Wir brauchen große Arbeitgeber", sagt Gant. "Siemens, BMW, so wie ihr in München - sie schaffen die Grundlage für den Wohlstand vieler." Die vielen kleinen Start-ups werden das große Problem nicht lösen, glaubt er. Immerhin ihren Teil zur Belebung leisten sie. Detroit mit seinen günstigen Mieten und Immobilienpreisen bietet gute Voraussetzungen für Gründer. Start-ups, Millioneninvestitionen, Arbeitsplätze, Schulen, bezahlbare Häuser, Nahverkehr, Musik - das sind die Lösungen zur Rettung einer Stadt, die noch immer zu den kriminellsten und ärmsten der USA zählt. Detroit soll auferstehen. Daran arbeiten die Lokalpatrioten.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.3813830
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 05.01.2018
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.