In Berlin-Mitte würde man ihn heute wahrscheinlich einen "Hipster" nennen, diesen Mann mit dem markanten Backenbart. Er würde zusammen mit seinen Jungs in irgendeinem Loft sitzen, die Bionade vielleicht aus der Flasche trinken, sich um sein Techie-Start-up kümmern und an neuen Ideen tüfteln. Irgendwann würde er auf einer Gründermesse auftauchen und die Leute würden ihn "disruptiv" nennen, den Werner. Weil er gerade dabei ist, alles Mögliche neu zu erfinden und damit irgendwie auch Industrie und Gesellschaft neu ordnet. Und, natürlich, dieser Hinterhof-Faktor.
Werner, der Backenbart-Mann, begann in der Schöneberger Straße 19 in Kreuzberg, er zog aus dem Nichts ein Unternehmen hoch. Allerdings ist das lange her: Werner aus dem Hinterhof hieß mit Nachnamen Siemens, später von Siemens, und wurde vor genau 200 Jahren geboren, deswegen ist das mit dem Berlin-Hipster schon mal so eine Sache. Aber: Er hat es weit gebracht.
Der Geist brodelte ziemlich damals, und es brodelt heute schon wieder
Siemens, das Münchner Weltunternehmen mit heute mehr als 350 000 Mitarbeitern, besinnt sich gerade seiner Wurzeln, mit großem Aufwand wird der 200. Geburtstag des Gründers gefeiert. Am nächsten Dienstag soll es in der Mosaikhalle bei Siemens in Berlin eine große Party zu Ehren von Werner von Siemens geben, sogar Kanzlerin Angela Merkel (CDU) ist angekündigt. Es erscheint eine neue 576-Seiten-Biografie über Werner von Siemens, verfasst von dem bekannten Historiker Johannes Bähr, der auch schon über die Vergangenheit der Münchener Rück und den Flick-Konzern geschrieben hat. Und Nathalie von Siemens, die heute den Familien-Clan mit ihrem Vetter führt, hat ihre ganz persönliche Auswertung der Korrespondenz ihres Urur-Großvaters unter dem Titel: "Der brodelnde Geist" vorgelegt. Das Buch, das nächste Woche erscheint, ist voller Briefe und Passagen, die weniger die Erfindungen des Menschen beschreiben als vor allem sein Innenleben ausleuchten.
Aber warum ausgerechnet jetzt diese Reise in die Vergangenheit? Und warum gleich so groß? In Zeiten, in denen aggressive Unternehmen vor allem aus dem Silicon Valley von Kalifornien aus die Welt erobern, will Siemens zeigen, dass man modern ist und genauso angefangen hat. Ausgerechnet der mittlerweile so etablierte und hierarchisch geprägte Konzern, der weltweit noch immer wie kaum ein anderer für deutsche Ingenieursarbeit steht, will ihn beschwören, diesen Gründergeist. Und der soll Siemens in die Zukunft tragen. "In Deutschland wurde schon Gründerzeit praktiziert, da gab es im Silicon Valley noch nicht mal Garagen", sagt Vorstandschef Joe Kaeser. Ein Mann also, der seine Garage wohl eher für Premium-Autos als für Erfindungen nutzt.
Siemens, so jedenfalls die Botschaft des heutigen Konzernchefs, weiß, wie es geht.
Heute ist die kleine Werkstatt übrigens hinter großen Glasscheiben gleich neben dem Eingang der neuen glitzernden Siemens-Zentrale in München zu sehen. Als liebevoller Nachbau einer vergangenen Zeit: Da stehen die alten Werkbänke, auf dem Boden liegen Holz- und Eisenspäne, in der Ecke steht ein Schreibtisch mit halb fertigen Zeichnungen - so, als wäre Werner von Siemens nur gerade mal für eine Stunde raus und gleich wieder da. Hier wurde vor einigen Monaten auch die Gründung der neuen, Siemens-eigenen Start-up-Holding Next 47 bekannt gegeben. Bis zu einer Milliarde Euro will Konzernchef Kaeser in junge Firmen investieren und so Anschluss an die digitale Welt halten.
Von Werner zu Next47.
Werner von Siemens ist präsent, seine Büste ist nicht nur in fast jeder größeren Siemens-Niederlassung zu finden, sondern auch in einer aufwendig renovierten Schwabinger Gründerzeitvilla. Es ist ein weiter Weg von den alten Industriequartieren Berlins, von der ersten Werkstatt in diese holzvertäfelte Münchener Gediegenheit, wo Villa neben Villa steht. Das Gebäude der Siemens-Stiftung ist so, wie man sich Stiftungsgebäude vorstellt.
Alte Holztreppe hoch, erster Stock rechts, und da steht er, der Werner, streng schaut er vom Podest herunter, neben der Büste ein großes Büro. Wer mit jemandem sprechen möchte, der den Namen des alten Werner von Siemens trägt, ist hier richtig.
Willkommen im Reich der Nathalie von Siemens, direkte Nachfahrin des Konzernahnherrn, heute Vorstandsvorsitzende der Siemens-Stiftung und einziges Familien-Mitglied im Aufsichtsrat des Konzerns - eine Frau mit großem Namen und viel Verantwortung. Die 45-Jährige kommt durch die Tür, trägt Jeans und Blazer, lacht, schüttelt Hände, trinkt Kaffee mit Milch. Die Frau steht nicht im Rampenlicht, sie sucht es auch gar nicht. Sie gehört zu der kleinen Gruppe der sehr stillen Konzernerben, die nicht gerne in der Öffentlichkeit stehen - so wie etwa auch die BMW-Familie Quandt.
Aber der berühmte Urur-Großvater mit dem markanten Backenbart, der auch sehr gesellig gewesen sein soll, ist Nathalie von Siemens dann doch ein großes Anliegen. Sie nennt ihn "Werner", wie einen alten Vertrauten, jemanden, den man schon lange kennt. Sie selbst habe ihn erst richtig kennengelernt, als sie zusammen mit Experten und Historikern in den vergangenen Monaten seine Briefe gelesen, sortiert und editiert hat. "Er verkörpert eine unfassbare Mischung aus Neugier und Tatkraft", sagt sie.
Zur Neugier und Tatkraft kam die Verzweiflung. "Man muss doch endlich einmal suchen, irgendwo festen Fuß zu fassen", schreibt Werner Siemens Mitte des 19. Jahrhunderts. Da hatte er schon einiges ausprobiert: Feuerwerksraketen in Spandau entwickelt, Löffel vergoldet, ein Patent auf künstliche Steine angemeldet.
Was ihm aber gerade am Anfang fehlte, war der entscheidende Sprung nach vorne. Etwas, das die Welt verändert. Etwas, das man heute "disruptiv" nennen würde.
So etwas wie: den Telegrafen.
Im Jahr 1846 entwickelte der damals vermögenslose Offizier den elektrischen Zeigertelegrafen. Ein Jahr später - da war er im Hauptberuf immer noch Offizier - gründete Siemens gemeinsam mit dem Feinmechaniker Johann Georg Halske in einem Hinterhof die "Telegraphen-Bau-Anstalt von Siemens & Halske". Was da am 12. Oktober 1847 entstand, war die Vorgängerfirma des späteren Weltkonzerns Siemens. Zunächst stellte das Unternehmen Telegrafen, Eisenbahnläutwerke, Drahtisolierungen und Wassermesser her. Später konzentrierte sich der Firmengründer auf die damals gerade aufkommende Elektrotechnik, entwickelte den ersten elektrischen Generator (1866), später die erste elektrische Eisenbahn der Welt (1879) und den weltweit ersten Oberleitungsbus (1882). Als Werner von Siemens, geadelt 1888 von Kaiser Friedrich III., im Dezember 1892 in seinem Haus in Berlin-Charlottenburg starb, hatte das Unternehmen 6500 Mitarbeiter, unterhielt Niederlassungen in Großbritannien, Frankreich, Österreich, Ungarn, Russland sowie den USA.
Der Geist brodelte ziemlich damals, und es brodelt heute schon wieder.
Die Technologien von einst, sagt man bei Siemens, haben mit der heutigen Digitalisierung vielleicht nur wenig gemein. Aber die Menschen, die waren schon immer da. Und manchmal ticken sie vielleicht auch gar nicht so unterschiedlich.
Früher gründeten sie Betriebe in Berlin, heute Start-ups im Silicon Valley oder Berlin-Mitte. Vor mehr als hundert Jahren standen Betreiber von Pferdedroschken unter Druck, weil Daimler seine Autos auf die Straße schickte. Heute sind die Autohersteller unter Druck, weil IT-Konzerne wie Google und Apple aus Kalifornien offenbar der Meinung sind, dass sie das bisschen Autoindustrie jetzt eigentlich auch gleich noch mit erledigen könnten. Irgendwie ist immer jemand unter Druck, aber selten war der Druck so groß wie heute.
Alte und neue Welt, Nathalie von Siemens sieht hier Parallelen. "Damals wie heute gab es einen Paradigmenwechsel durch disruptive Technologien, die Elektrifizierung damals wirkte ähnlich wie die Digitalisierung heute, die Vernetzung nahm zu, die Prozesse beschleunigten sich, die Arbeit veränderte sich."
Es kann sehr beruhigend sein, sich der eigenen Vergangenheit zu vergewissern, wenn schon die Gegenwart so kompliziert und unübersichtlich ist. Auch Siemens steckt ja, wieder einmal, mitten im großen Wandel. Vorstandschef Joe Kaeser, der 1980 im Konzern anheuerte, will aus dem alten Unternehmen, das bei einer Korruptionsaffäre vor zehn Jahren beinahe unter die Räder kam, einen digitalen Industriekonzern machen. Das Medizintechnikgeschäft soll an die Börse gegeben werden. Das Kommunikationsgeschäft, in dem Siemens seine Wurzeln hat - schon lange weg. Die Lichttochter Osram - längst an der Börse; Siemens hält nur noch einen Anteil von 17,5 Prozent.
Siemens, das ewige Laboratorium: Das Buch vermittelt wunderbare Einblicke in die formativen Jahre. Im Juli 1879 schreibt Werner etwa einen Brief an seinen Bruder Carl - eine sehr private Schilderung über den Anfang eines Geschäfts, von dem sich der Weltkonzern erst kürzlich trennte, weil er keine Zukunft mehr darin sah. Damals ist die Euphorie noch groß.
"Gestern hatten wir Probe(be)leuchtung meines Gartens in Charlottenburg für heute Abend (letztes Gartenfest). Die 12 Glocken mit neuen Lampen waren hoch in den Bäumen angebracht und der Effekt prachtvoll! [...]Durch die neuen Lampen und die Wechselstrommaschinen ist jetzt eine neue Basis gewonnen, und es wird jetzt eine großartige Entwickelung des elektrischen Lichtes eintreten."
Licht an, Licht aus, Licht an - man betreibe "nicht Rückbesinnung nur der Rückbesinnung willen", sagt Nathalie von Siemens. Werner sei immer schon da gewesen und sie habe noch mit keinem Siemensianer gesprochen, der nicht gewusst habe, wer er ist und für was er steht. "Siemens ist eben keine Abkürzung oder ein Kunstname, dahinter steht die Geschichte von einem Menschen." Der Mann ist die Botschaft - so einfach ist das, wenn ein Konzern so heißt wie sein Gründer. Wie fühlt man sich eigentlich, wenn es ans Allerheiligste eines Konzerns geht? "Es geht uns nicht um den 'heiligen Werner'", sagt Nathalie von Siemens. Aber er sei "der wichtigste Referenzpunkt". Eineinhalb Jahre lang hat ihr Stiftungs-Team 6000 der noch 9000 vorhandenen privaten Briefe von Werner von Siemens gesichtet. Man kann das schön umrechnen: Bis zu drei Stunden am Tag muss er am Schreibtisch gesessen und geschrieben haben. Wäre er nicht der Gründer eines Ingenieur-Konzerns geworden - er hätte wohl auch einen guten Kurzgeschichten-Schriftsteller abgegeben.
Werner, der Telegrafenbauer, der Gartenparty-Ausleuchter und Tüftel-Freak - es war eine Zeit des Aufbruchs damals.
"Wir sind keine Kaufleute, stehen darin jedem gewöhnlichen Geldsack nach."
Heute wird immer noch getüftelt und erfunden, und doch ist alles anders. Erst vor wenigen Tagen kündigte Siemens den Kauf des US-Softwarespezialisten Mentor Graphics für 4,5 Milliarden Dollar an, denn heute ist das so: Man kann sich zwar noch in einer Garage einschließen (so wie man sich damals in einem Berliner Hinterhof verbarrikadierte) und forschen und etwas Neues erfinden und es dann den Menschen verkaufen. Meistens aber läuft es anders. Man kauft sich einfach ein anderes Unternehmen, das die Technologie hat, die man braucht. Natürlich wissen wir nicht, was der Mann mit dem Backenbart zu Akquisitionen, Portfolio-Management und den Sum-of-the-parts-Analysen von Investmentbankern und Unternehmensberatern gesagt hätte. Zumindest war der Ingenieur Werner von Siemens skeptisch, wenn es um Gelddinge ging.
"Mit kaufmännischen Unternehmungen", schrieb er, habe man "noch immer Malheur gehabt. Wir sind keine Kaufleute, stehen darin jedem gewöhnlichen Geldsack nach." Ein sehr offenes Bekenntnis.
"Das Charmante an den Briefen ist: Wir können mit Werner reden, auch wenn er nicht mehr sprechen kann", sagt die Urur-Enkelin, die einen anderen Weg gewählt hat: Sie hat in München und Paris Philosophie studiert. Ihre Doktorarbeit hat sie über Aristoteles und dessen Begriff von Freundschaft geschrieben. Siemens und Philosophie - auch das geht irgendwie zusammen. Nathalie von Siemens arbeitete gut acht Jahre in verschiedenen Abteilungen des Unternehmens, seit 2012 ist sie bei der Stiftung und muss dort über ein Stiftungskapital von 390 Millionen Euro wachen. Seit 2015 ist sie auch im Siemens-Aufsichtsrat; dass sie dort bald Nachfolgerin von Chefaufseher Gerhard Cromme wird, gilt aber als wenig wahrscheinlich.
Der Konzern, mit all seinen ungeschriebenen Gesetzen, mit seinen großen Inszenierungen und Ritualen, ist von der Vergangenheit heute weit entfernt. Eher bescheiden ging es zu, als der Gründer am 13. Dezember 1816 in Lenthe bei Hannover als viertes von 14 Kindern geboren wurde. Der Vater stammte aus einer wenig erfolgreichen Gutspächterfamilie, seine Kindheit: von Entbehrung geprägt. Später absolviert er drei Jahre lang eine Fachausbildung an der Artillerie- und Ingenieurschule in Berlin, mit 30 Jahren wurde er Gründer. Bis heute sind die Nachfahren am Konzern beteiligt. Die Familie besteht aus rund 300 Mitgliedern und nur noch die wenigsten tragen den berühmten Namen. Aber einige sollen noch im Konzern arbeiten - inkognito. Seit weit mehr als hundert Jahren sind die Familienmitglieder über einen Poolvertrag aneinandergebunden. Sie haben gemeinsam etwa sechs Prozent der Aktien, das Paket ist 5,5 Milliarden Euro wert. Es wird nicht nur kassiert: Die Familie habe "ein emotionales Verhältnis zum Unternehmen", sagt Nathalie von Siemens.
Emotionen, Milliarden und die Technik: Es gebe heute viele Gründe, die Briefe zu lesen, sagt die Ururenkelin. Man verstehe dann, "dass Werner von Siemens schon in seiner Zeit etwas besaß, das wir heute Fehlerkultur nennen. Dazu kamen sein sehr besonderer Humor und seine Selbstironie". Selbstironie, das ist etwas, das in der Wirtschaft heute eher selten vorkommt. Bleibt die Frage: Wenn Werners Hinterhof-Gründung eine Art Start-up des 19. Jahrhunderts war, was ist Siemens dann heute? "Siemens ist heute kein Start-up mehr, es ist ein Stay-up", sagt die Erbin. Will heißen: War schon früh da. Und gibt's immer noch.