Report:Warten auf die Revolution

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Künstliche Intelligenz, da denken viele an Maschinenwesen wie den Terminator. Andere befürchten, Menschen würden überflüssig. Ein Ausflug in deutsche Werkshallen zeigt: Die Realität ist davon weit entfernt.

Von Helmut Martin-Jung

So vielleicht? Könnte Sie so aussehen, eine künstliche Intelligenz, die in einem perfekt nachgebauten menschlichen Körper steckt? Ähnlich dem weiblichen Terminator oder der perfiden Ava aus dem Science-Fiction-Film "Ex Machina"? Nun ja, die junge Frau in der ehemaligen Bahnhofshalle am Berliner Gleisdreieckpark hat tatsächlich eine besondere Ausstrahlung. Ein bisschen nerdig wirkt sie mit ihrer eigenwilligen Bob-Frisur, doch ihre empathische Art passt so gar nicht zu einer Maschine. Und das würde auch völlig dem widersprechen, was Cassie Kozyrkov ihrem Publikum bei Boschs Hausmesse "Connected World" vermitteln will: "Science-Fiction ist eine gefährliche Ablenkung, man denkt dabei sofort an Roboter mit einer Persönlichkeit."

Kozyrkov ist Projektleiterin bei Google, dem Konzern also, dem man eine Führungsrolle bei der Forschung an künstlicher Intelligenz (KI) zuschreibt. Die gebürtige Südafrikanerin hat Uni-Abschlüsse in mathematischer Statistik, Wirtschaft, Psychologie und kognitiver Neurowissenschaft. Mehr als 100 Projekte zum Thema KI hat sie bei dem Internetkonzern bereits geleitet. Und sie ist sich sicher: Roboter mit einer Persönlichkeit gibt es nicht. Ständig werde davon geredet, dass die Technologie den Menschen ersetzen soll, sagt sie. Doch in Wirklichkeit gehe es darum, Langeweile aus dem Arbeitsleben zu vertreiben. Dann erinnert sie noch daran, dass die Geschichte der Menschheit eine von Werkzeugen sei . "Wir automatisieren, was wir können." KI würden übermenschliche Fähigkeiten zugeschrieben, "aber", sagt Kozyrkov, "das ist doch gerade der Sinn eines jeden Werkzeugs: Wir nutzen Werkzeug, weil es uns größer, weil es uns besser macht."

Die künstliche Intelligenz also nicht mehr als ein - Werkzeug? Eine Technologie, die an nur einem Tag selbständig lernt, ein Brettspiel besser als Menschen zu spielen, die soll nicht mehr sein als die moderne Version eines Hammers oder eines Schraubenschlüssels?

Der Roboter, ein Facharbeiter, der nie müde wird? Wohl eher nicht

Unwillkürlich denken die meisten bei dem Stichwort tatsächlich an Roboter. Nicht an die zwar präzisen und kräftigen, aber doch eigentlich von Haus aus eher dummen Industrieroboter, sondern an flexibel arbeitende, sich selbständig bewegende Maschinen, die alles können, was ein Facharbeiter kann, und selber Entscheidungen treffen. Nur dass sie nie müde werden und keiner Gewerkschaft angehören.

Das Problem ist: So etwas gibt es nicht.

Die Firma Kuka ist ein führender Roboter-Anbieter, und eigentlich sollte sie doch die erste sein, die ihre eigenen Maschinen einsetzt, um damit neue zu bauen, Roboter bauen Roboter quasi. "Das ist immer erst das Vorurteil, das ich zerstreuen muss", sagt Christian Liedtke, Leiter der internen Beratungseinheit bei Kuka. Bei einem Rundgang durch die Werkshallen in Augsburg zeigt sich schnell, warum. Sicherheit und Qualität spielten bei der Fertigung eine sehr wichtige Rolle. "Das sind hohe Anforderungen." Die am besten - und auch am wirtschaftlichsten - noch immer Facharbeiter erfüllen. Die allerdings werden Schritt für Schritt angeleitet von einem datengetriebenen System. Bei jeder Verschraubung werden Daten wie etwa das Drehmoment gespeichert.

Und dann tauchen sie doch noch auf, in einem abgetrennten Bereich der Halle: Roboter bauen tatsächlich Roboter, zumindest Teile davon. Ein gewaltiger Roboterarm bewegt dabei zentnerschwere Teile aus Gusseisen anscheinend ohne Mühe. Eigentlich, sagt der Kuka-Mann, rechne sich das gar nicht, aber es zeige eben auch, was möglich sei - mit anderen Worten: Es ist ein Demonstrationsprojekt, ein Showroom für Kunden und Besucher.

Ein Stück weiter vorn transportieren autonom fahrende Roboter Schrauben in Plastikboxen dorthin, wo sie gebraucht werden. Aber auch das sei "eher spielerisch", sagt Liedtke, denn Menschen könnten diese Aufgabe viel schneller erledigen. Es gehe dabei aber auch darum, die Belegschaft an die Anwesenheit automatisch arbeitender Systeme zu gewöhnen. Dies sei nötig, um trotz des Fachkräftemangels die Produktion auch künftig aufrechtzuerhalten, sagt Liedtke, der selbst lange in der Produktion, aber auch bei einer großen Beratungsfirma gearbeitet hat.

Aber was ist dabei eigentlich mit der KI? Die hält in den Produktionshallen tatsächlich nur langsam Einzug. Ein wichtiger Grund ist, dass kaum eine Firma nur Maschinen eines Herstellers verwendet. Und fast jeder Hersteller, oft sind das Mittelständler, geht eigene Wege, um zu klären, welche Daten eine Maschine wie erfasst und weitergibt.

Die automatisierte Fabrik: Roboter überprüfen Auto-Karosserien mit Sensoren auf Unregelmäßigkeiten. (Foto: imago/Stephan Görlich)

Einer, der das früh erkannt und für sich genutzt hat, ist Reinhold Stammeier. Er hat eine Firma gegründet mit dem Ziel, Maschinen zu vernetzen, Daten zu sammeln und auszuwerten. Das war bereits 2003, also zu einer Zeit, als noch keiner vom Internet der Dinge sprach. Device Insight, so heißt die Firma, ist mittlerweile eine hundertprozentige Tochter von Kuka. Sie betreut Kunden quer durch alle Branchen, von Autofirmen bis hin zu Getränkeherstellern, alle mit dem gleichen Problem: Wie sammle ich Daten aus dem Produktionsprozess, und wie gewinne ich daraus Erkenntnisse, die mich weiterbringen? Denn die sollen letztlich wieder an den Hersteller zurückfließen, ins Design der Maschinen eingehen und diese besser machen. Auch bei Kuka gibt es solche Vernetzungs-Projekte, etwa in der Zerspanung, also der Bearbeitung von Metall-Rohteilen.

Stammeier, studierter Informatiker und Elektromechaniker, ist Chief Digital Officer bei Kuka, also für die Digitalisierung verantwortlich. Ein Mann mit Jahrzehnten an Berufserfahrung, Typ Macher. Zwei Jahre hat er in den USA verbracht und dabei gelernt, dass es auf das ankommt, was man in den Staaten "ecosystem" nennt. Gemeint ist damit eine standardisierte Umgebung, in der eine Technologie gedeihen kann, so wie das Internet ja auch weltweit mit denselben Standards funktioniert. "Die Deutschen kennen kein Ecosystem-Denken", sagt er. Er will das ändern. Zusammen mit dem deutschen Software-Konzern SAP hat Kuka die Open Industry 4.0 Alliance ins Leben gerufen. Ziel ist es, "aus Daten und Prozessen Mehrwert zu generieren", sagt Stammeier. Das falle allen leichter, wenn es dafür eine standardisierte Plattform gebe.

Bei Bosch beschäftigen sich mittlerweile immerhin 1000 der 410 000 Mitarbeiter mit KI, 200 davon sind Forscher. Aber Bosch oder Kuka wollen eben gerade nicht den Super-Roboter bauen, der Einspritzpumpen selber wechseln, die Zahl Pi bis zur zehntausendsten Kommastelle berechnen und abends Babysitten kann. Vielmehr geht es um spezialisierte Anwendungen. Man könnte auch etwas gehässig sagen: um Fachidioten.

Firmen beginnen das Potenzial der Technologie erst allmählich zu verstehen

Von denen gibt es mehr und mehr. Der eine etwa kalkuliert für eine Supermarktkette aufgrund der vorhandenen Daten, wie viel Fleisch jeder einzelne Markt einkaufen soll. Weil die Entscheidung von vielen Faktoren abhängt, ist es für Menschen schwer, diese alle gegeneinander abzuwägen, für Maschinen dagegen nicht. Der andere durchleuchtet die Abläufe in Großfirmen, um Schwachstellen ausfindig zu machen - wenn erst einmal die dazu nötigen Daten vorliegen. Dann aber kommen Datenmengen zusammen, die Menschen unmöglich in vertretbarer Zeit bearbeiten könnten. Und selbst wenn sie die Zeit hätten, würden sie manche Muster und Zusammenhänge nicht erkennen.

Doch selbst für Computer ist die Datenflut oft zu groß. Reinhold Stammeier setzt daher darauf, die Daten schon nahe an den Maschinen auszusieben und nur die wichtigen zur Auswertung weiterzureichen. Er rät dazu, erst einmal klein und mit einfachen Algorithmen zu beginnen. Auf diesen Erfahrungen lasse sich dann aufbauen.

All diese spezialisierten KI-Anwendungen sind aber weit, weit weg vom ewigen Traum der KI-Forscher: dem Traum von einer allgemeinen künstlichen Intelligenz. Einer Intelligenz, die der des Menschen gleichkommt, ja sie sogar übertrifft. In der Matrix-Filmreihe etwa werden Menschen von hoch entwickelten Maschinen gehalten wie Nutztiere, ein Computerprogramm spiegelt den in einer Flüssigkeit schwimmenden Menschen vor, sie lebten ein ganz normales Leben. Solch raffinierte Maschinen sind schon deshalb weit weg, weil kein Computer auch nur annähernd so komplex ist wie das menschliche Gehirn mit seinen Milliarden an Neuronen, die untereinander Billionen von Verbindungen eingehen. Es bräuchte schon gewaltige Durchbrüche in der KI-Forschung, um dahin zu kommen.

Die gibt es aber nicht. Was derzeit passiert und immer mal wieder für Schlagzeilen sorgt, basiere zu weiten Teilen auf Forschung, die schon Jahrzehnte alt ist, sagt etwa Stuart J. Russell, Informatik-Professor und ein weltweit anerkannter Experte für künstliche Intelligenz. "Indem wir große Datensets gesammelt und sie auf riesigen Netzwerken mit der neuesten Hardware durchgerechnet haben, konnten wir einiges Interesse für künstliche Intelligenz erregen, aber wir waren damit nicht unbedingt die Speerspitze." Die Entwicklung hin zu einer allgemeinen künstlichen Intelligenz könnte also sehr viel länger dauern, als viele glauben. Nur besonders fortschrittsgläubige Experten vertreten die Meinung, es könnte schon in wenigen Jahrzehnten soweit sein. Die meisten anderen veranschlagen wesentlich mehr Zeit oder glauben erst gar nicht daran.

Trotzdem gibt es kaum ein Start-up, das sich nicht mit den zwei magischen Buchstaben KI schmückt. Das klingt gut und lockt Investoren an. Risikokapitalgeber in den USA pumpen Milliarden in entsprechende Unternehmen. In China ist es der Staat, der für seine ehrgeizigen Ziele enorme Summen investiert. Dabei geht es nicht um eine Hyper-Intelligenz, sondern sogenannte schwache KI - um Spezialanwendungen, sprich: die Fachidioten.

Davor darf man sich fürchten: Dieser Kampfroboter ist zwar auch ein Fantasieprodukt, aber die Vorstellung autonomer Kriegsmaschinen ist gruselig. (Foto: Shutterstock)

Man sollte sich freilich vom Begriff "schwach" nicht täuschen lassen: Diese digitalen Werkzeuge können in ihrem Spezialgebiet mehr als Menschen. Muss man sich davor nun fürchten? Im Prinzip, sagt Google-Forscherin Cassie Kozyrkov, sei KI doch bloß "eine Revolution in der Art, wie Software geschrieben wird. Würde es nicht KI heißen, würde es gar nicht so viel Aufmerksamkeit erregen". Wenn Systeme lernten, "drücken wir mit Beispielen aus, was wir wollen und lassen es die Systeme selbst herausfinden". Das sei eigentlich bloß "ein zweiter Weg, um mit Computern zu sprechen. Das ist die Revolution".

Fraglich ist, ob das die Bürger in China auch so sehen. Um sie herum wird derzeit mittels allumfassender Überwachung und KI eine Art Brave New World errichtet, wie sie Aldous Huxley in seinem verstörenden Zukunftsroman beschreibt. Daher ist es schon sinnvoll, sich Gedanken darüber zu machen, wie man es eigentlich halten soll mit der Ethik, wenn Maschinen mehr oder weniger selbständig Entscheidungen treffen, sei es bei der Kameraüberwachung an der Fußgängerampel, im Personalwesen oder gar bei autonomen Kriegsmaschinen.

Viele Menschen kommen inzwischen im Alltag ständig mit künstlicher Intelligenz in Kontakt - meist, ohne sich dessen bewusst zu sein. Sprachassistenten wie Siri oder Alexa zum Beispiel sind dank KI zumindest schon ganz gut darin zu erkennen, was ihre Nutzer sagen. Sie schwächeln aber ziemlich, wenn sie erkennen sollen, was das Gesagte eigentlich bedeutet. Richtig revolutionär, das geht anders.

Zugleich beginnen viele Firmen erst allmählich zu verstehen, welches Potenzial KI für sie birgt. Könnte sie etwa helfen, Personal einzusparen, also den Menschen als Arbeitskraft überflüssig zu machen?

Dazu gibt es Studien aus den USA und Großbritannien, die beängstigende Zahlen in den Raum werfen. Die Hälfte aller Jobs oder sogar noch mehr könnte wegen digitaler Technologien verschwinden, heißt es da. Doch stimmt das auch? Das träfe ja nur dann zu, wenn die Arbeit, die von Maschinen ausgeführt werden soll, sich dafür auch eignet. Sabine Pfeifer, Professorin für Arbeitssoziologie an der Universität Erlangen-Nürnberg, kommt daher zu anderen Schlüssen. Sie hat mit ihrem Team Arbeitsplätze untersucht, die als besonders gefährdet gelten, wie die von Maschinenführern und Chemikanten - mit überraschendem Ergebnis. Obwohl diese Jobs als solche mit einem hohen Anteil an Routinetätigkeiten identifiziert wurden, zeigten die Beobachtungen an Ort und Stelle, dass oft Eingriffe der menschlichen Bediener nötig waren, die genau das verlangten, was Maschinen nicht können: kreativ sein.

Insgesamt kam Pfeifer bei ihren Forschungen zum Schluss, dass etwa drei Viertel aller Menschen bereits heute an ihren Arbeitsplätzen häufig mit komplexen Situationen fertig werden müssen, mit Unwägbarkeiten und stetigem Wandel. Ihr Fazit lautet deshalb: Studien, die riesige Jobverluste prophezeien, "stehen auf tönernen Füßen", weil sie sich nur auf Daten beziehen, nicht aber auf qualitative Forschung an den Arbeitsplätzen selbst.

KI könnte Tausende Jobs vernichten, befürchten viele. Eine Forscherin widerspricht

Dieser Eindruck entsteht auch, wenn man sich bei Kuka oder der Messe von Bosch umsieht. Michael Bolle, bei Bosch im Konzernvorstand für Technologie und Digitalisierung zuständig, stellt dabei eine Anlage vor, die bei Einspritzpumpen die Qualitätskontrolle übernehmen soll. "Ein Mensch braucht dafür 16 Sekunden", sagt er, "das ist langweilig und fehleranfällig". Ende des Jahres sollen nun die ersten der Automaten, etwa so groß wie ein Kühlschrank, ausgeliefert werden. Sie können solche und ähnliche Bauteile schneller und vollautomatisch überprüfen. Sie tun dies mit Kameras und einer KI-Software, der man beigebracht hat, wie gute und wie schlechte Bauteile aussehen.

Eine Revolution? Eher nicht.

Zumindest noch nicht. Denn mittel- und langfristig werde KI "größer als das Internet", sagt Wolfgang Hildesheim, der in den deutschsprachigen Ländern für die KI-Aktivitäten des IT-Konzerns IBM verantwortlich ist, "das ist ein weltweiter Megatrend, vergleichbar mit Elektrizität." Zurzeit aber machen vor allem Beratungsunternehmen und die Anbieter von Cloud-Diensten wie Amazon und Microsoft das große Geld. In deren Rechenzentren werden die Daten gespeichert und verarbeitet.

Doch so mühsam und langwierig es auch sein mag, den Maschinenpark in einem Produktionsbetrieb zu vernetzen und Daten zu gewinnen, die dann irgendwann einmal Erkenntnisse liefern - eine Alternative dazu sieht Christian Liedtke vom Roboterbauer Kuka nicht: "Wo sollen sonst Verbesserungen herkommen?", sagt er. "Es gibt nichts anderes, das Potenzial kann nur aus solchen Technologien kommen."

© SZ vom 06.07.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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