Report:So einfach

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Deutschlands größte Softwarefirma SAP will anderen Unternehmen helfen, die Digitalisierung zu bewältigen. Aber ist sie dazu bereit? Ein Besuch auf der Hausmesse Sapphire.

Von Helmut Martin-Jung

Wie lange braucht ein großer Dinosaurier, um sich umzudrehen? Vor allem: Dreht er sich schnell genug? Schnell genug, um die Welle zu sehen, die da von hinten in einem Affenzahn auf ihn zurollt? Der Mann auf dem Podium findet, das sei die falsche Frage. Hasso Plattner, mittelgroß, gedrungen, schlohweißes fülliges Haar, macht erst einmal einen Tontechniker der Messehalle in Orlando, Florida, zur Schnecke. Weniger Bass, mehr Höhen, fordert er. Er ist ein Mann, der es gewohnt ist, Forderungen zu stellen und sie auch prompt erfüllt zu bekommen. Plattner, mehrfacher Milliardär, ist einer der fünf Väter von Deutschlands bisher größter IT-Erfolgsgeschichte. Er hat SAP mitgegründet, am Börsenwert gemessen die drittgrößte reine Softwarefirma der Welt, sie ist derzeit rund 86 Milliarden Euro wert, das sind fast 20 Milliarden mehr als VW.

Plattner, 72, inzwischen Chef des Aufsichtsrates, sagt also, er verstehe die Frage nicht. Dinosaurier seien doch "langsam, unbeweglich und tot". SAP dagegen habe "alles nur Menschenmögliche getan zu zeigen, dass wir eben kein Dinosaurier sind." Also weder langsam, noch unbeweglich und schon gar nicht tot. Dabei ist die Frage auf der Sapphire, SAPs jährlicher Konferenz für Kunden, Analysten und Journalisten, durchaus berechtigt. Die Frage, ob sich der Konzern schnell genug drehen könne. Gegründet vor 44 Jahren, ist SAP in der schnelllebigen IT-Branche ein Urviech, und so viele davon gibt es gar nicht mehr.

Sie haben eine andere Richtung eingeschlagen. Oder sie sind tot. Weggespült von einer Welle, die sie nicht haben kommen sehen.

Das Geschäft lief doch gut, meinten viele. Warum also alles ändern?

Das hätte auch SAP passieren können. Geradezu verlockend gut lief das Geschäft mit Firmensoftware rund um den Globus. 76 Prozent aller geschäftlichen Transaktionen weltweit werden über SAP-Systeme abgewickelt - darauf ist man stolz in Walldorf, dem Hauptsitz der Firma. Alles umreißen, jetzt? "Viele fragten, warum", sagt Jonathan Becher. Der Amerikaner, der schon mehrere Start-ups gegründet hat, gehört zu den Menschen, die einen Raum sofort ausfüllen, wenn sie ihn betreten. Bei SAP hat er seit zwei Jahren zwei Jobs. Er kümmert sich von Palo Alto im Silicon Valley aus um neue Digitalprojekte, quasi Start-ups innerhalb der Firma. Und er soll außerdem SAP, den Software-Dino, fit machen fürs Digitalzeitalter. Wie auch könnte eine Firma, die selber noch alten Zöpfen nachhängt, ihren Kunden helfen, die Digitalisierung zu bewältigen?

"Das Schwierigste ist die Kultur", sagt Becher. Der Software-Riese aus Deutschland kaufte 2007 eines seiner Start-ups, und er dachte eigentlich, er würde nicht allzu lange bei dem Konzern bleiben. Doch nun, sagt er, finde er seinen Job extrem spannend. "Wenn man die Mitarbeiter zu etwas zwingt, ihnen Angst einjagt, läuft es nicht", sagt Becher, "man muss zeigen, was es ihnen bringt." Und, ziemlich schlau: Um den Budgetverantwortlichen in der Firma die Sorge zu nehmen, dass ein Digitalisierungsexperiment sich negativ in der Bilanz niederschlägt, hat er einen eigenen Topf dafür.

20 bis 30 kleinere Projekte pro Jahr pro Jahr zieht er seither durch, "das ist besser als drei oder vier große", sagt Becher. Hat eines der Mini-Versuchsobjekte Erfolg, wird es in größerem Rahmen umgesetzt. Ein Beispiel? Bis vor Kurzem konnte man bei SAP Software nur über Berater kaufen. Doch für manche der weniger mächtigen Programme aus Walldorf ist das völlig überzogen, das derzeit günstigste kostet nur 21 Euro pro Nutzer und Monat. Also hat Becher erstmals einen Onlineshop einrichten lassen. Erst nur für wenige Länder, mittlerweile kann man SAP-Software in 195 Ländern online per Kreditkarte kaufen. Einfach so. So einfach.

Keine Maschinen, keine Kohle, keine Blaumänner: Ein Blick in den die Zentrale des Software-Konzerns SAP in Walldorf, Baden-Württemberg, einem Vorzeigeunternehmen des Dienstleistungssektors. (Foto: Krisztian Bocsi/Bloomberg)

Bechers Leute haben sogar festgestellt, dass es reicht, das Angebot nur in Englisch zu formulieren, mit simplen Google-Textanzeigen. "Jetzt bekommen wir Aufträge aus Sri Lanka oder Oman." Und wie bei der Konkurrenz bieten die Deutschen Software nun auch zur Miete "aus der Cloud" an. Das heißt: Der Kunde muss nichts installieren, die Programme laufen in Rechenzentren von SAP oder von Partnern, bedient werden sie über einen gewöhnlichen Internetbrowser.

Die Welle, die seit ein paar Jahren mit steigender Wucht mehr und mehr Industriezweige erfasst, nur mit dem IT-Modewort Cloud zu beschreiben, wäre aber zu kurz gegriffen. Dass inzwischen auch kleine und mittlere Firmen sich vermehrt Gedanken machen über Daten und IT-Dienstleistungen, das liegt auch an anderen Entwicklungen, für die der Trend zur Cloud bloß ein Symptom ist. Zum Beispiel Geschwindigkeit und Kundenorientierung. Wer seine Firma nicht daran ausrichtet, was die Kunden wollen, wer dabei nicht zackig genug ist, kann schneller von der Bildfläche verschwinden, als man sich das noch vor Kurzem vorstellen konnte.

Im Fall einer Firma wie SAP heißt das: Nur einfach weiter so einen guten Job zu machen, ist zu wenig. Wer es gewohnt ist, auf dem Smartphone mit wenigen Klicks fast alles erledigen zu können, mag auch im Büro nicht mehr komplizierte Menüs bedienen. "Früher brauchte man fast einen Doktortitel, um Informationen aus einer Datenbank zu holen", gibt Bernd Leukert zu, er ist im SAP-Vorstand für Produkte und Innovation zuständig. "Heute geht das ganz einfach." Oder, wie Apple-Gründer Steve Jobs einst sagte: "There's an app for that" - dafür gibt's eine App.

Konkurrenten hatten es vorgemacht: Salesforce etwa, das aggressiv wachsende Software-Unternehmen aus San Francisco, wirbt ganz gezielt damit, wie einfach es mit ihrer Cloud-Software sei, den Überblick über die wichtigen Unternehmensdaten zu behalten und die Information an die zu verteilen, die sie brauchen. An die Chefs, die Bereichsleiter oder die Vetriebler draußen, die mit wenig Aufwand per App auch unterwegs erfahren könnten, was für sie wichtig ist.

"Unser Anspruch ist: Wir können das am besten."

Auch Salesforce lädt einmal im Jahr ein zu einer Zusammenkunft - und lässt es dabei ganz bewusst mächtig krachen. Obwohl die Firma noch viel kleiner ist als SAP, kommen um die 150 000 Besucher dafür nach Kalifornien. Eine ganze Straße mitten in der Innenstadt von San Francisco wird tagelang zur Partymeile. Die Keynotes, die einführenden Ansprachen also, sind eine Mischung aus Werbeveranstaltung und Promi-Zirkus, 2014 etwa waren Hillary Clinton da und Al Gore, die Beach Boys traten auf, Alt-Rocker Neil Young schaute vorbei, der Rapper Will.i.am auch.

Bill McDermott, der Chef, der durch einen Unfall ein Auge verlor und seither dunkle Brillen trägt, verordnete dem Konzern eine Radikalkur. (Foto: Bloomberg)

Verglichen damit ist der Auftritt von SAP eher nüchtern, bieder. Kein buntes Markttreiben vor der Halle, die Besucher werden um Business-Kleidung gebeten, nur die Krawatte lassen die meisten weg. Als Zuckerl für die 20 000 Messebesucher gibt's am letzten Abend ein Konzert von Coldplay, der gefälligen Mainstream-Band. Apple-Mitgründer Steve Wozniak lässt man ein wenig aus seinem Leben plaudern. Der einzige Rocker ist - wenn man so will - Amateurgitarrist Hasso Plattner, der bei seiner Keynote eine launige Mischung aus zerstreutem Professor ("Haben wir da jetzt einen Film oder ist der Mann hier in der Halle?") und visionärem Grandseigneur gibt.

Aber erst als zwei Mitarbeiter aus dem SAP-Zentrum für Forschung und Entwicklung in Potsdam den Prototypen einer digitalen Kommando- und Informationszentrale zeigen, brandet zum ersten Mal spontan und lautstark Beifall auf.

Weil am konkreten Beispiel erst so richtig klar wird, was eine schnelle Datenbank und intelligente Algorithmen zusammen bewirken können. Demonstriert wird der fiktive Fall eines Autoherstellers, der in den USA Probleme hat mit den Klimaanlagen bestimmter Fahrzeuge. Wo sind die Ausfälle aufgetreten? Ein Klick, eine Karte mit roten Punkten erscheint, jeder Punkt ist ein Auto mit einer kaputten Klimaanlage. Wie war das Wetter an diesen Orten, als die Klimaanlagen ausfielen? Der Mitarbeiter zieht per Maus die Wetterkarte auf die Karte mit den roten Punkten, und verzögerungsfrei erscheint das Ergebnis: Es war richtig heiß - Problem erkannt. Noch bis vor Kurzem hätte man weder die Daten gehabt, geschweige denn die Möglichkeit, sie so blitzschnell und ohne jegliche Programmierkenntnisse auszuwerten.

Darauf, auf diese enorme Geschwindigkeit und einfachere Möglichkeiten, Daten zu speichern und auszuwerten, baut SAP. Das Kürzel S/4 Hana - es bezeichnet die neue Business-Programmsammlung und eine vollständig im Speicher laufende superschnelle Datenbank - ist allgegenwärtig auf der Hausmesse. "Wir fürchten uns nicht vor der Konkurrenz", sagt Stefan Höchbauer, der für das Geschäft in Mittel- und Osteuropa zuständig ist. "Unser Anspruch ist schon: Wir können das am besten."

Verschiedentlich waren daran schon Zweifel laut geworden, vor allem, weil SAP lange kaum Cloud-fähige Programme zu bieten hatte. "Als das Portfolio vor zweieinhalb Jahren gebündelt wurde, gab es eine Diskussion darüber, ob Deutschland in Sachen Cloud schon affin genug ist", sagt Höchbauer. Bei der Mehrheit der Unternehmen ist der Fall inzwischen längst klar, quer durch alle Industrien und Unternehmensgrößen sei nun die Bereitschaft für Cloud-Angebote da, "selbst die größten Bedenkenträger weichen auf", sagt Höchbauer. Und SAP, das nicht nur das eigene Angebot umgebaut, sondern sich auch mit milliardenschweren Zukäufen von Cloud-Firmen wie etwa Concur weiter verstärkt hat, spürt das: "Das Wachstum ist deutlich zweistellig."

Das klingt nach viel, doch SAP ist bei Cloud-Angeboten von einem niedrigen Niveau aus gestartet, manche Konkurrenten wachsen mit 30 Prozent pro Jahr und mehr. Müsste SAP nicht auch viel aggressiver werben? "Das liegt uns nicht", sagt Höchbauer, "aber dafür liefern wir auch." Man tue viel für die Positionierung, "aber ohne aggressives Marktgeschrei". In Europa habe man in den vergangenen beiden Quartalen die bisher höchste Zahl an Neukunden gewinnen können, SAP werde als strategischer Partner für den digitalen Wandel wahrgenommen.

Auf der SAP-Hausmesse Sapphire in Orlando stellt McDermott sich den Fragen der Kunden. (Foto: Andy Matheson)

Aber womöglich noch nicht von allen: Als Firmenchef Bill McDermott vor wenigen Wochen in San Francisco mit den Technikvorständen von 30 Konzernen zusammensaß, hatte er eine Art Erweckungserlebnis. Denn die IT-Experten sparten nicht mit Kritik: SAP erkläre sein neues Produkt - S/4 Hana - aus der Sicht von Ingenieuren, also nur über die technischen Merkmale. "Aber es hat so viel Einfluss auf Business-Faktoren." McDermott, der nach seinem Unfall, bei dem er ein Auge verlor, immer mit Sonnenbrille auftritt, stellte seine Rede ganz unter das Motto Kundenorientierung. Sein Credo: "Wir sind nicht empathisch genug." SAP habe sich in der Vergangenheit nicht genug in die Lage seiner Kunden versetzt - und die von deren Kunden. Und wenn man sich unter Kunden umhört, dann kommt auch immer wieder das Argument, dass der Umstieg auf die neue Lösung in der Praxis erheblich diffiziler ist als in den Hochglanzbroschüren des Herstellers beschrieben.

Dabei ist McDermott, dem gewinnenden Verkäufer, schon klar: "Was SAP tut, ist nicht einfach." Die gesamten Daten eines Unternehmens zu verwalten inklusive der jeweiligen steuerrechtlichen Vorschriften und anderer verzwickter Dinge, ist in der Tat hochkomplex. "Aber wenn wir es schaffen, das Schwierige einfach zu machen", sagt McDermott, "dann haben wir eine Riesenchance." Und schiebt gleich noch hinterher: "Meine E-Mail-Adresse ist bill.mcdermott@sap.com. Wenn wir das nicht einlösen, schreiben Sie mir!"

"Die Tage der Dinosaurier, die glauben, sie könnten die Kunden kontrollieren, sind vorbei."

Vielleicht verzichten ja einige Firmenbosse auf das Verfassen böser E-Mails, wenn ihr Konferenzraum erst einmal so aussieht wie der, den der oberste IT-Chef von SAP, Christian Klein, vorstellte. Auf einem riesengroßen intelligenten Surface-Hub-PC von Microsoft erscheinen alle relevanten Unternehmenskennzahlen - und zwar in Echtzeit. Und hat der Chef mal eine bohrende Nachfrage, kann er das sofort selber überprüfen - in nahezu beliebiger Detailtiefe. Indem er einfach draufklickt. Auch Was-wäre-wenn-Szenarien lassen sich in diesem digital boardroom in Sekunden ausprobieren.

Vor allem aber: Man muss dazu keinen Serverpark betreiben. Die junge US-Firma Sports Basement hat nicht einmal eine IT-Abteilung. Sie nutzt Software von SAP in der Cloud, um nicht nur Bestellungen und Warenlager zu verwalten. Die Chefs können auch in Echtzeit sehen, was die Kunden suchen, aber entweder nicht finden oder nicht kaufen. Und sie können dann entsprechend reagieren.

Die Echtzeit-Lösung hat, seit sie im vergangenen Herbst vorgestellt wurde, schon viele Firmenchefs elektrisiert. "S/4 Hana ist unser am schnellsten wachsendes Produkt", sagt Bill McDermott. Das Problem: SAP arbeitet für 25 verschiedene Industrien, und jede hat ihre Spezifika. Einen genauen Zuschnitt aber konnte SAP erst für einige Branchen erarbeiten - die Firma hat schlicht unterschätzt, wie gefragt ihr neues Angebot sein würde. Viele Altkunden würden lieber heute als morgen umsteigen, und auch viele neue Kunden melden sich, weil das Angebot mit der Turbo-Datenbank momentan ziemlich konkurrenzlos ist.

Ist also jetzt das Gröbste vorbei, der Wandel geschafft? "Alle großen Schachzüge sind gemacht", sagt Bill McDermott, "jetzt geht es um viele kleine Schritte." Und das heißt, die Kunden mit ihren Sorgen abzuholen, denn: "Die Tage der Dinosaurier, die herumlaufen und glauben, sie könnten ihre Kunden kontrollieren, sind vorbei. Die Kunden kontrollieren die Firmen."

Leicht war es nicht, den Konzern mit seinen 78 000 Mitarbeitern so umzusteuern: "Sobald man am Geschäftsmodell herumschraubt, fragen viele sofort, was das soll", sagt Bill Mc Dermott, "aber um auch in den nächsten Jahren erfolgreich zu sein, mussten wir einfach zu einer Cloud-Firma werden. Wir wollten kein ,Ferner liefen' sein, und, ja, das hat Kosten verursacht." Ziemlich hohe Kosten sogar: Ein 50-Milliarden-Dollar-Programm hat SAP 2010 für die eigene Erneuerung aufgelegt. Doch was wäre gewesen, wenn der Saurier einfach weitergetrampelt wäre? McDermott glaubt die Antwort zu kennen: Alles müsse sich heute doch immer schneller ändern, sagt er, und: "Wer zu lange an einem alten Geschäftsmodell hängt, ist der, der morgen nicht mehr da ist."

© SZ vom 28.05.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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