Süddeutsche Zeitung

Report:Scheitern erlaubt

Wegweisende Erfindungen und Streben nach Perfektion - das machte Bosch groß. Doch so funktioniert das heute nicht mehr.

Von Max Hägler und Stefan Mayr

Wer begreifen will, wie brutal die Revolution ist, die die deutsche Industrie gerade durchmacht, wie viel auf dem Spiel steht, der muss nur einmal an den Ort gehen, an dem vieles seinen Lauf nahm. Die Villa des Gründers Robert Bosch, hoch über Stuttgart. Von hier aus kann man auf das alte Bosch-Werk in Feuerbach hinab schauen und auf das Krankenhaus hinüber, das dieser Stiftungskonzern aus seinen Gewinnen finanziert und das natürlich den Namen des Unternehmers trägt.

Die Villa ist ein Gesamtkunstwerk samt weitläufigem Park, mit Marmor, Edelholz und einer ausgefuchsten Staubsaugeranlage: In jedem Zimmer sind Löcher angebracht, in diese konnten die Putzfrauen ihren Staubsaugerschlauch stecken. Eine Vakuumanlage verfrachtete den Dreck dann in den Keller. Der realisierte Traum eines jeden Schwaben anno 1911. Und Ausdruck eines langen, erfolgreichen Aufstiegs, den Robert Bosch, ein Mann mit imposant langem Rauschebart, zu Lebzeiten selbst einmal so zusammenfasste: "Es war mir immer ein unerträglicher Gedanke, es könne jemand bei Prüfung eines meiner Erzeugnisse nachweisen, dass ich irgendwie Minderwertiges leiste. Deshalb habe ich stets versucht, nur Arbeit hinauszugeben, die jeder sachlichen Prüfung standhielt, also sozusagen vom Besten das Beste war."

"Wir müssen auf Wandel in Welt und Technik reagieren, auch wenn es unangenehm ist."

Perfektion und Disziplin, damit hat Bosch diese Firma groß gemacht. Die leitenden Männer danach haben einen Konzern ausgeformt, der mittlerweile 380 000 Mitarbeiter hat und 73 Milliarden Euro Umsatz macht, fast so viel wie Siemens.

Doch all das ist in Gefahr. Nicht heute oder morgen, aber vielleicht übermorgen.

An altehrwürdiger Stätte, im Kaminzimmer der Villa, wie zur Mahnung, diskutiert der heutige Chef gern die Umbrüche. Volkmar Denner, 60, ist Physiker, und pflegt nicht nur beim Legen seines Scheitels eine ins Extreme neigende Disziplin. Insofern hat seine Analyse Gewicht: Disziplin und deutsche Gründlichkeit alleine sind nicht mehr alles. Im Gegenteil, die Tugenden können sogar zu einem existenziellen Risiko werden für diesen großen deutschen Konzern und für die anderen. "Es kann sehr unbequem sein, auf Umwälzungen von Markt und Technik zu reagieren", sagt Denner. "Doch täten wir das nicht, riskierten wir langfristig den Verlust nicht nur einiger, sondern aller Arbeitsplätze."

Nun treibt der Wandel in der Welt die meisten Unternehmen um. Aber kaum jemand setzt bei der Lösung so sehr wie Denner auf: Freiheit, Kreativität, ja Ungeplantheit und Fehlermachen. Tatsächlich. "Wir müssen das Wagen lernen", sagt Denner, "viel schlimmer als Scheitern wäre es, wenn es gar keine Ideen gäbe." Denn dann komme das Scheitern bestimmt. Es ist eine Revolution in einem Unternehmen, in dem keine Fehler passieren durften, das stolz vermeldet, wenn in einer Dieselinjektoren-Fabrik die Zahl defekter Teile von drei auf zwei gesunken war. Pro einer Million produzierter Teile.

Bosch stellt allerlei Dinge fürs Leben her, Bohrmaschinen, Gegensprechanlagen, Waschmaschinen, Handysensoren. Aber vor allem beliefert er so ziemlich alle Autohersteller dieser Welt. Im Durchschnitt stecken Produkte im Wert von 800 Euro in jedem Wagen, diese Teile machen mehr als die Hälfte des Bosch-Umsatzes aus. Doch das könnte bald vorbei sein. Antiblockiersysteme und Zündkerzen kann Bosch vielleicht besonders gut, aber es können auch andere. Zudem sind neue Spieler am Markt. Nicht mehr nur die Autohersteller führen die Debatte um das Fortbewegen, sondern auch Apple, Google und Uber. Und der Diesel, der seit bald 90 Jahren die bedeutendste Technik im Konzern ist, stirbt einen langsamen Tod - und wird ersetzt durch Strom. Wobei die Pointe kurios ist: Nicht zuletzt unter zentraler Mithilfe von Bosch, der die Technologie an fast alle Autobauer lieferte, wurde beim Diesel so getrickst. Das Image ist nun dahin, bei Bosch ermitteln auch noch die Staatsanwälte. So ist man in Stuttgart mit der Vergangenheit beschäftigt, dabei müsste man sich doch um die Zukunft kümmern.

Schraubenzieher, Messgeräte und dazu ein Trum, das aussieht wie "ET"

Aber womit verdient man eigentlich bei Bosch sein Geld nach dem Zeitalter von Diesel und Zündkerzen? Sie suchen ganz Neues und sie versuchen weiterzuentwickeln, was sie können, Elektromotoren für E-Autos, oder Sensoren, damit Fahrzeuge und Handys gewissermaßen Augen und Ohren bekommen. Auf jeden Fall wird alles digitaler. Und damit wird das Forschungszentrum in Palo Alto, USA, noch wichtiger. In einem dieser unscheinbaren, grau-braunen Häuser mit nur ein paar Stockwerken, die das Silicon Valley ausmachen, sind die Deutschen untergekommen. Wobei - die Deutschen sind in der Minderheit. "Wir haben darauf geachtet, dass dies hier ein lokaler Standort wird, keine Kopie der deutschen Zentrale", sagt Jiri Marek, 60, der das Zentrum leitet. Inder, Chinesen und US-Amerikaner führen die 250 Mitarbeiter starke Truppe zahlenmäßig an, Marek wiederum kommt aus Tschechien. "Wir sind ein Brückenkopf", sagt er, "reden mit anderen kleinen und großen Firmen, mit den Startups, mit anderen Geldgebern - versuchen zu hören und zu spüren, was als nächstes kommt." Das ist im Valley nicht schwierig, die Wege sind kurz: Eine E-Mail und schon trifft man sich, mit Konkurrenten, künftigen Geschäftspartnern, wer weiß das schon, hier ist alles in Bewegung. In einer vollgestellten Kammer sitzen drei von Mareks Leuten an billigen Möbeln. Um sie herum Paletten, Schraubenzieher, Messgeräte. Und ein Ding, das aussieht wie dieser nette Außerirdische ET, der im Kino immer so schön sagte: "Nach Hause...". Kindsgroß, dazu ein viereckiger, na ja, Kopf. Dieser Inbegriff eines futuristischen Lebewesens, das hier aber Alan PR 2 heißt, schaut einem namenlosen Bruderroboter zu, der nur aus einem Arm besteht und sich gerade an Übungen zum Greifen eines Wasserglases versucht. Derzeit gelingt das meist ohne Spritzer und Scherben.

Im Haushalt soll die Technik helfen, als dritte Hand quasi, die Waschmaschinen beladen kann oder staubsaugen. Vielleicht fließen die Erkenntnisse auch in Teile für das autonome Fahren ein. Da sei Bosch ja vorne, sagt einer der Programmierer, da sei Bosch "cutting edge". Das meint ungefähr: wegweisend. Wobei, auch nicht in allen Bereichen und auch nicht auf ewig, fügt er hinzu. Das sei ja immer eine Sache von Monaten, ein ständiger Wettbewerb! Der Mann dreht sich wieder seinem Bildschirm zu, die Arbeit drängt.

Der alte Robert Bosch fände dieses Forschen wohl spannend, er war ja Gründer im besten Sinne. Sein Start-up, die "Werkstätte für Feinmechanik und Elektrotechnik", 1886 gegründet, bastelte in den ersten 20 Jahren an Blitzableitern, Fotokamera-Gehäusen, Zigarettenspitzenabschneidern und Zündspulen. Aber er hätte wohl eines seiner "Gewitter" losgelassen, wenn er das hier sähe: Ordnung war ihm wichtig, so wie auch seinen Nachfolgern. Denner ist das in so einem Fall egal, oder viel mehr: Er fördert das kreative Chaos. Die Leute sollen ausprobieren. Was zählt, ist die Idee, gerade in der Kombination aus Software und Hardware. Künftig, so sein Plan, soll alle Technik der Welt verknüpft sein sein - und zwar möglichst oft von Bosch.

Als Denner vor fünf Jahren seinen Job antrat, erzählt er mit Erstaunen, dass ihn niemals jemand in seiner Bosch-Laufbahn, und die ist lang, gefragt habe: Wie wird sich eigentlich die Welt und damit das Geschäft ändern? Und: Sollen wir uns ändern? Seine erste Amtshandlung als Chef war dann konsequent. Per Intranet stellte er an alle die Frage: Was sollen wir ändern?

Es kamen Tausende Antworten. Und bei ihm festigte sich die Erkenntnis: Wir müssen auf diese computerisierte Welt setzen und sie vernetzen. Internet der Dinge heißt das und von Waschmaschinen bis zu Autos schaltet Bosch gerade alles zusammen. Wozu man das alles machen soll, womit man Geld verdienen kann, ist noch nicht so ganz klar. Aber Denner glaubt: Wir müssen schneller werden, agiler, kreativer. Das Problem in der Heimat, in Deutschland: Die jungen Leute wollen oft lieber als normaler Arbeitnehmer arbeiten. 35 Stunden-Woche, feste Planung. Denner sagt: "Besonders dringend brauchen wir eine Start-up-Kultur, auch in großen Unternehmen."

Auch deswegen setzt er so auf die USA, auf das Silicon Valley, wo er selbst geforscht und gearbeitet hat und wo sie am Fließband Firmen gründen. Bosch ist hier schon lange zugange, in den Zwanzigerjahren verkaufte man Motorentechnik, wegen der hohen Zölle produzierte man bald auch. Forschungschef Marek - drahtig, hohe Stirn, schnell und präzise im Auftreten - hat zuvor an einem Max-Planck-Institut promoviert, in Reutlingen bei Bosch gearbeitet. Der große Unterschied zwischen dem Valley und Deutschland? "Die Infrastruktur und das Mindset", sagt er. Im Umkreis von 50 Kilometern könne er zu jedem, aber auch wirklich jedem technischen Thema die besten Spezialisten der Welt finden, was vor allem an den Universitäten Stanford und Berkeley liegt. "70 Prozent der Absolventen wollen eine Firma gründen, das ist doch ein Geist!" Den wollen sie wenigstens ein bisschen einatmen. Das Silicon Valley ist seit Denner die Blaupause für Bosch - im Guten wie im Schlechten. Weil es hier ein wenig so ist wie früher in Stuttgart, zu Robert Boschs Zeiten.

So wie es wieder überall sein soll in der Bosch-Welt. Den Einstand als Chef begann Denner mit einem kleinen symbolischen Akt: Er schaffte in der Zentrale den Aufzug ab, der bislang für die Chefs reserviert war. Auch Hierarchie hemmt fruchtbare Kritik. Vor zwei Jahren dann der große Wurf: Die Kanzlerin weihte ein eigenes Bosch-Forschungszentrum ein. Auf dem alten Militärflugplatz von Renningen haben sie für eine halbe Milliarde Euro Labore gebaut, dazu einen Park, Sportplätze und ganz oben im 12. Stock eine Bibliothek samt Kreativraum zum Austoben. So können die Forscher von morgens bis nachts hier ihre Zeit verbringen. Auf der ausrangierten Landebahn flitzen die Testwagen hin und her. Das Vorbild: die USA. "Renningen ist das Stanford von Bosch", sagt Denner.

Und er gibt seinen Leuten nicht nur einen Raum, sondern auch die Zeit, ihn zu bespielen. Jeder Forscher darf zehn Prozent seiner Arbeitszeit unabhängig von seinen aktuellen Projekten zwanglos vor sich hinwursteln. "Concept Time" nennen sie das. Denn die besten Ideen kommen, wie man weiß, nicht am Schreibtisch beim verkrampften Nachdenken. Sondern beim Spazierengehen oder Kaffeeklatsch mit Leuten anderer Fachrichtungen. Hier in Renningen wollen sie beides zusammenbringen. Den alten Bosch und den neuen Bosch. Gemeinsam soll das nächste große Ding gelingen. So was wie das Antiblockiersystem, wie der Diesel, wie die Zündkerze. Deshalb forschen sie hier auch an einer neuen Generation von Elektroauto-Batteriezellen und an Künstlicher Intelligenz. Deshalb lässt Denner auch Tausende zusätzlicher Ingenieure einstellen.

Wer von ihnen eine konkrete Idee hat, muss nicht gleich die Firma verlassen, sondern kann sich für einen Platz am Standort Ludwigsburg bewerben. In dem Vorort von Stuttgart steht eine unscheinbare Fabrikhalle mit Shed-Dach, hier hat Bosch seine "Start-up-Plattform" untergebracht. Das klingt nach Raketenabschuss-Station, diese Assoziation ist gar nicht so falsch. Hier schnürt der Konzern ein Rundum-Sorglos-Paket für Leute aus dem Konzern, die eine guten Plan haben und an diesem weitertüfteln wollen. Die Raumteiler sind schnell verschiebbar - wenn jemand eine gute neue Projektidee hat, bekommt er mehr Platz. Nebenan ist eine Werkstatt mit 3-D-Drucker, Styropor und Werkzeug - zum Rumbasteln. Normalerweise dauert es bei Bosch Wochen, bis ein Vorgesetzter eine Versuchsanordnung genehmigt. In Ludwigsburg kann man sofort loslegen - und bei Bedarf auch einfach mal ganz schnell ein Hightech-Gerät bei Amazon bestellen. Ohne Genehmigung, so was ist im Konzern eigentlich undenkbar. Aber Start-ups müssen schneller sein, viel schneller. Gearbeitet wird nach der Scrum-Methode, die sie bei Bosch auch von Tesla kennen und die man so beschreiben könnte: einfach mal machen.

Bislang lief das ganz anders, gerade in der Autobranche. Ein Auftrag wurde in einem Lastenheft beschrieben, gern in Leitzordner-Dicke, dann diskutierten die Beteiligten monatelang, um wieder mehrere Monate etwas zu bauen, das bei der Abgabe dann möglichst perfekt sein sollte. Bei Tesla läuft das folgendermaßen, erzählen die Boschler: Die schicken eine Email aus dem Valley mit ein paar Zeilen - und wollen morgen schon ein erstes Modell haben, noch unfertig, aber das ist egal. Drei beinahe erwachsene Start-ups hat Bosch in Ludwigsburg laufen, die schon Umsatz machen. Etwa der Spargelsensor "Deepfield Connect". Das System ruft den Bauern auf dem Handy an, sobald die perfekte Erntezeit gekommen ist. Andrew Banda, 30, Mexikaner, ist seit elf Wochen in Ludwigsburg. Er gehört zu einem von vier "Discovery-Teams", die aus Konzern-Leuten weltweit zusammengetrommelt wurden, um neue Ideen weiterzuentwickeln, auch mal kleine, weil die großen so selten sind. "Es ist alles so aufregend", sagt der Ingenieur. "Ich absorbiere alles, die verschiedenen Arten zu denken."

Vor kurzem waren Banda und sein Team bei Bosch-Kollegen in Kenia und Tansania. Was genau sie vorhaben? Streng geheim, sagt er. Es geht um eine neue Technologie, die vielen Menschen das Leben erleichtern würde, vor allem in weniger entwickelten Ländern. In der kommenden Woche muss das Team sein Konzept präsentieren. Vor der Geschäftsführung und Kollegen. Dann wird entschieden, ob das Projekt fliegt. Oder abstürzt. Wobei abstürzen ausdrücklich erlaubt ist.

Robert Bosch selbst war das Scheitern übrigens so fremd nicht. Die ersten Jahre seien ein "böses Gewürge" gewesen, sagte er einmal, weil die Kunden nicht nachfragten, was er anbot. Zur Gründung seiner Hinterhof-Werkstätte war er ein hohes Risiko eingegangen: Er hatte sich seinen Erbanteil auszahlen lassen und Kredite aufgenommen. Damit er sich seine erste, pedalbetriebene Drehbank aus Gusseisen kaufen konnte, musste seine Familie für ihn bürgen. Und zwischenzeitlich war die Zukunft der jungen Firma ungewiss, Bosch musste die Belegschaft von 25 Mitarbeitern radikal auf zwei reduzieren.

Mittlerweile wird die alte Drehbank ab und an auf dem Anwesen des Gründers ausgestellt. Allerdings ist sie nicht mehr die alte: Sie wurde mit Sensoren versehen und ist jetzt mit dem Internet vernetzt. Was die Sensoren machen? Sie erkennen und melden vorab, dass ein Teil demnächst kaputt geht. Vor allem aber sollen sie der Welt zeigen: Der gute alte Bosch, er entwickelt sich weiter. Er versucht es zumindest.

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Quelle:
SZ vom 08.07.2017
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