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(Foto: imago)

Ständig eröffnen neue Wettbüros. Überall sind Vorhersagen für Sportereignisse möglich - obwohl sie verboten sind. Über eine clevere Branche, das Versagen des Staates und die Verlierer.

Von Jan Willmroth, Berlin

Ein ganz normaler Abend in der Martin-Luther-Straße in Berlin-Schöneberg, wo die Autos in beide Richtungen drei Spuren Platz haben und das rötliche Licht aus einem kleinen Bordell heraus in die frühe Dämmerung schimmert. Gleich daneben, zuvor ein Sexkino und am Durchgang zum Hinterhof ein Automatenkasino, ist jetzt der Laden, den sie "Europas größten Wettshop" nennen, mit drei Eingängen und Platz für mehr als 200 Menschen. Vor einem Jahr, im WM-Jahr, haben sie hier Eröffnung gefeiert. "Wettmeister" steht über der hellen Fensterfront.

Donnerstag, sieben Uhr, Fußball-Abend, Europa League, später werden hier alle wichtigen Spiele gleichzeitig laufen. Dann werden die jungen Männer, die gerade noch auf den Bildschirmen der Automaten herumdrücken und ihre Wettscheine ziehen, in Lounge drei sitzen, Fenerbahçe Istanbul gegen Celtic Glasgow. Jetzt murmeln sie durcheinander, feilschen um Ergebnisse, auf den Köpfen Schirmmützen, an den Füßen Sneakers von Nike, helle, weit geschnittene Jeans, die meisten Mitte zwanzig und eher Türken als Schotten.

Das wird ein ganz normaler Abend in diesem Laden, den es so nicht geben dürfte, ebenso wenig wie die meisten der mehr als 4500 anderen Wettbüros hierzulande und die dazugehörigen Webseiten.

Binnen weniger Jahre ist mit der Wettbranche ein Multimilliardengeschäft entstanden gesetzlich nicht erlaubt, aber von den Behörden nicht verfolgt, verstrickt in komplizierte Gerichtsverfahren, in denen sich Staat und private Wettanbieter bekämpfen. Besuche in Wettbüros, Gespräche mit den Menschen, die in diesem Geschäft das Sagen haben und jenen, die es eigentlich regulieren wollten, erlauben den Blick auf ein beispielloses wirtschaftspolitisches Staatsversagen. Der Sportwetten-Bereich ist einer der wenigen im Glücksspielsektor, die noch nennenswert wachsen. Und inzwischen kaum noch zu kontrollieren.

Rot gefärbte Werbespots unterbrechen das Sky-Programm, Fußball, präsentiert von Tipico, ihre Wette in sicheren Händen, Oliver Kahn als Markenbotschafter, so heißt er bei dem Unternehmen. Und den FC Bayern nennen sie dort Platin-Partner.

"Ist schon unschön, wenn in Deinem Laden die Werbespots der Konkurrenz laufen", sagt Mathias Dahms, der Chef, und lacht auf. Er ist durch die Hintertür gekommen, in einer blauen Steppjacke, die er den ganzen Abend nicht ausziehen wird, in Fullbrogues und Jeans. Durch seinen Vollbart sieht man tiefe Lachfalten, eine Strähne fällt ihm in die Stirn. Er hat die Marke Wettmeister gegründet, nach langer Zeit als Vorstand einer anderen Wettfirma. Seit fast 20 Jahren ist er im Geschäft, hat dies und das schon gemacht, "eigentlich fast alles", er hat den ersten Lotto-Kiosk im Internet eröffnet, Ende der Neunzigerjahre, wilde Zeit damals. Jetzt endlich wieder was Eigenes.

28 Wettstudios in großen Städten hat er übernommen, man sieht, dass er ziemlich viel Geld ausgegeben hat. Kleine weiße Drehsessel aus Leder stehen in Vierergruppen an runden Tischen, die Wände sind gepflastert mit riesigen Bildschirmen, die Bar aus dunklen Hölzern, drei Mitarbeiter nehmen Wetten an, servieren Getränke. Auf den Bildschirmen blinken nervös die Quoten für die Begegnungen des Abends, es leuchtet grün, wenn eine Quote steigt und rot, wenn sie sinkt. Software-Systeme, die Fußball in Wahrscheinlichkeiten übersetzen, sie laufen permanent, alles steckt hier voller Technik. Direkt rechts neben den Quoten, in gleicher Größe, Sky Sport HD. All das auf mehr als 600 Quadratmetern. "So müssten Wettbüros künftig aussehen, oder?" Eine rhetorische Frage.

"Wir müssen dieses Image loswerden. Das Potenzial ist riesig."

Dahms stört das anrüchige Image seines Geschäfts in Deutschland, in anderen Ländern sei Buchmacher doch schon lange ein angesehener Beruf. "Wir müssen dieses Image loswerden", sagt er. Am Ende, glaubt er, werden nur die guten Läden überleben. Wie unterscheidet man die in einer Branche, die sich in einem rechtlichen Graubereich bewegt? Und die Einordnung, auch an ihr stört er sich: Anderswo gelten Sportwetten als Geschicklichkeitsspiel, in dem Kenner ihr Wissen ausnutzen, in Deutschland als Glücksspiel. "Das hat nicht nur mit Glück zu tun", sagt Dahms.

Er sitzt jetzt auf einem Sessel und gießt Warsteiner aus einer kleinen Flasche in ein Glas, seine Freundin kommt auf ihn zu, sie hat einfach drauf los getippt. "Eishockey in Italien, bist Du verrückt!?", ruft Dahms, ein Lachen, Handball in Schweden und: eine Siegwette auf Partizan Belgrad gegen den FC Augsburg, die Quote bei 5,5 recht hoch. Dahms zockt nicht, sagt er, dazu ist er zu sehr Geschäftsmann, Informatiker und Betriebswirt, den nach eigenem Bekunden vor allem die Algorithmen hinter den Wetten faszinieren. Sport in Zahlen und Geld.

Hier sitzt also der Cheflobbyist der Wettbranche und schaut nur beiläufig auf einen der Bildschirme. Dahms ist Präsident des Deutschen Sportwettenverbands, der gerade erst eineinhalb Jahre alt ist, besetzt mit bestens vernetzen Weggefährten, war seine Idee. "Wir haben viel Aufklärungsarbeit zu leisten", findet er, man müsse der Branche eine einheitliche Stimme geben, die gehört wird in der Politik. Der Verband hat 14 Mitglieder, fast alle Großen sind dabei: Tipico, der Bayern-Platin-Partner, mybet, das frühere Unternehmen von Dahms, der deutsche Spielautomaten-Senior Paul Gauselmann, 81, mit X-Tip. "Drei Millionen Menschen wetten regelmäßig", sagt der Wett-Präsident, "und es gibt 45 Millionen Fußballfans. Das Potenzial ist riesig." Die Wettfirmen eint das Ziel, möglichst viele Fans zum Wetten zu bewegen, mit Werbung, gern im Stadion, mit Rabattaktionen, mit Apps, mit kurzen Wegen zum nächsten Wettbüro.

Daran arbeiten sie seit einigen Jahren. Noch prägen Spielhallen manches Straßenbild, doch spätestens 2017, wenn die neue Spielverordnung voll wirkt, werden viele von ihnen verschwinden. Jetzt füllen Wettbüros die Lücke, die meisten sind noch nicht alt, jede Woche eröffnen neue. Hinzu kommen ungezählte Angebote im Netz, oft Wetten und Casino-Spiele auf der gleichen Webseite; viele Wettfirmen kämen ohne das Extrageschäft mit digitalen Spielautomaten und Blackjack-Tischen nicht aus.

Viereinhalb Milliarden Euro hat die Branche 2014 umgesetzt, in diesem Jahr werden es wohl mehr als fünf Milliarden. Man kann das nur abschätzen anhand der Wettsteuern, fünf Prozent auf den Einsatz, das lässt sich hochrechnen. Ob ein Anbieter illegal ist, ist dem Staat offenbar nicht so wichtig, wenn er Steuern kassieren kann.

Wie viele Wettshops es gibt, wie viele Menschen am PC oder unterwegs auf ihren Handys Geld verwetten, wie viele Anbieter tatsächlich von Deutschland aus erreichbar sind, wie viele von ihnen Steuern zahlen, all das ist nicht genau bekannt.

Die Schätzungen zum Schwarzmarkt sind wenig verlässlich.

Vielleicht noch zwei Milliarden Euro mehr? "Kommt hin. Genaue Daten gibt es ohnehin nicht, solange der Markt nicht reguliert ist", sagt Dahms. Nicht reguliert muss man übersetzen in diesem Fall, man müsste sagen: mit absolut strengen Verboten, die längst nichts mehr gelten. Dafür hat auch Mathias Dahms gesorgt, mit Lobby-Aktionen, mit Gerichtsverfahren, mit dem, was er den roten Faden in seinem 53 Jahre langen Leben nennt: Seit bald zwei Jahrzehnten kämpft er gegen das staatliche Lottomonopol, derzeit verfügt im Glücksspielstaatsvertrag von 2012, mit dem die meisten Glücksspiele noch immer illegal sind, Online-Kasinos, Poker, private Lotterien - und Sportwetten. All die Firmen, die als Sponsoren den Profifußball mitfinanzieren, sie bewegen sich in einem rechtsstaatlichen Vakuum, erzeugt von ihren Tricksereien und jenem dreieinhalb Jahre alten Gesetz, mit dem die zuständigen Bundesländer das Monopol erhalten und zugleich Sportwetten erlauben wollten.

Weil sie mussten: Der Europäische Gerichtshof hatte 2010 das Staatsmonopol bei Sportwetten gekippt. Die Länder handelten ein neues Gesetz aus, in dem nun ziemlich verloren steht, dass 20 Unternehmen probeweise eine Lizenz erhalten sollen. Maximal ein Jahr sollte die Vergabe dauern, zuständig war Hessen, die willkürliche Zahl 20 war Ergebnis eines mühsamen Kompromisses zwischen Ministerpräsidenten. Mehr als 70 Firmen hatten sich beworben, am Ende blieben 38 übrig, erst im Herbst 2014 lag die endgültige Liste vor. Von da an hagelte es Eilverfahren und Klagen der ausgeschiedenen Firmen. Tipico etwa, mit Abstand Marktführer in Deutschland, gehörte nicht einmal zu den ersten 20. Noch immer ist keine Erlaubnis erteilt, vor wenigen Wochen hat das oberste hessische Verwaltungsgericht das Verfahren als fehlerhaft und intransparent abgekanzelt und die Vergabe endgültig gestoppt.

Fast alle Bundesligaklubs werden inzwischen von privaten Wettanbietern gesponsert

Jetzt geht es von vorn los; wieder dürfte es Jahre dauern, bis die Bundesländer eine Lösung finden, die dann vielleicht doch keine ist. Jahre, in denen es sich die Wettanbieter in der Komfortzone dieses Graumarkts weiter bequem machen können. In denen weitere Verfahren die Auseinandersetzung komplizierter machen, als sie ohnehin schon ist. Anzahl und Bedeutung der Urteile in diesem Bereich überblicken nur noch erfahrene Juristen. Wer bessere Anwälte hat, gewinnt, "die verdienen sich eine goldene Nase daran", sagt Dahms. Und nicht nur die. Von 18 Bundesligaklubs haben 16 mindestens einen privaten Wettanbieter als Sponsor. Man kann die Summen nicht mehr kleinreden, mit denen Marken bekannt gemacht werden, etwa auf der Brust der Spieler von Hertha BSC, wo seit dieser Saison "bet-at-home" steht. Es ist nicht mehr zu übersehen, dass der Marktanteil der Staats-Sportwette Oddset, des noch immer einzigen offiziell erlaubten Angebots, auf drei Prozent geschrumpft ist und sie in der Bedeutungslosigkeit versinkt.

Zurück in Schöneberg, der FC Augsburg liegt zurück, null zu eins, die Quote für einen Sieg von Partizan Belgrad fällt von 5,5 auf 1,4. "Die Behörden sind systematisch überfordert", sagt Dahms, "sie stoßen regelmäßig an ihre Grenzen." In seiner Welt erhält jedes Unternehmen eine Erlaubnis, das sich an die Regeln hält. Wie streng diese Regeln dann sein sollten, ist Verhandlungssache. "Das eigentliche Problem ist der Schwarzmarkt", findet Dahms, "den bekommen Sie nämlich ohne geregelte Zulassungen nicht in den Griff."

Wie wenig momentan im Griff ist, erlebt Gordon Schmid jeden Tag. Über Kreuzberg scheint die Sonne, Schmid im engen Kurzarmhemd, mit kurz geschorenen Haaren und Tatoos auf den Oberarmen, geht voran in sein Büro. Er leitet das Café Beispiellos, die einzige Berliner Beratungsstelle speziell für Spielsüchtige, eingerichtet im Parterre eines Altbaus, Kaffee 50 Cent. Schmid setzt sich auf einen Schwungsessel in der Ecke seines Büros, auf dem Tisch eine Tempo-Box wie beim Psychotherapeuten. Viele, die herkommen, haben alles verloren: Job, Familie und Freunde, ihr Vermögen, falls sie welches hatten. Viele sind überschuldet, seit Jahren, und landen erst hier, wenn sie völlig am Ende sind. Sechs- bis siebenhundert Menschen jedes Jahr.

Bei den meisten dauert es zehn Jahre von der ersten Münze im Automaten bis zum ersten Termin in der Caritas-Beratung, bis sie zum ersten Mal die zurückhaltende, besonnene Stimme von Gordon Schmid hören. "Sportwetten sind gefährlich, weil sie ganz besonders junge Menschen anlocken", sagt er, "die gehen ins Wettbüro zum Fußball gucken, sehen das als Event, als Treffpunkt, und merken nicht, dass sie sich in eine Glücksspiel-Umgebung begeben." Oder sie glauben an ihr Geschick: Den Lieblingsverein kennen sie gut, die Liga, Fußball ist kein Zufall, viele spielen selbst in einer Mannschaft. Überhaupt sind Fußballer besonders gefährdet. Was hier fast jeder erzählt: Am Anfang ist es nur der eine Verein, am Ende völlig egal.

Schmid hat nachgeschaut, vor zehn Jahren waren noch fünf Prozent seiner Klienten süchtig nach Sportwetten. Heute ist es jeder Vierte. Überdurchschnittlich viele Migranten, und fast ausschließlich Männer. "Das Problem nimmt zu mit der Verfügbarkeit. Je sichtbarer Wetten sind, desto problematischer wird es." Die Hemmschwelle, es ständig zu verfolgen, mit dem Handy, im Stadion, auf dem Sofa, sei bei Sportwetten besonders gering. "Ich glaube, wir haben die Spitze noch lange nicht erreicht." Und das Argument mit dem Geschick, sagt Schmid, sei doch Unsinn: Wer hätte denn gedacht, dass der Weltmeister Spanien bei der vergangenen WM in der Vorrunde scheitert? So erinnert er die Menschen an die Macht des Zufalls im Fußball.

Auf der Rangliste der Spielformen, die besonders süchtig machen, stehen Sportwetten hinter dem Automatenspiel auf Platz zwei, wegen der schieren Vielfalt gleichzeitiger Angebote. Besonders Live-Wetten auf Torschützen, Satz-Siege im Tennis oder Punkte im Viertel eines Basketballspiels machen das Wetten riskant. Ereignisfrequenz heißt das in der Fachsprache: Die Frequenz, in der Gewinnmöglichkeiten aufeinander folgen. Von ihr hängt ab, wie gefährlich eine Spielform ist. "Je leichter ich die Ereignisfrequenz bestimmen kann, und das ist bei Sportwetten sehr einfach, desto riskanter wird es", sagt Schmid. Im Alltag finden Spieler auf der Webseite von Tipico Zehntausende Wetten, da wird die Frequenz beliebig hoch. Etwa ein Viertel der Menschen, die 2014 auf Sportereignisse gewettet haben, zeige "mindestens ein problematisches Spielverhalten", berichtet die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung.

Vor allem Menschen mit viel Zeit und wenig Geld.

"Natürlich haben wir ein Suchtproblem. Aber das hält die Gesellschaft aus."

Dahms lehnt sich zurück, eine glühende American Spirit in der Hand, sein Bier halb geleert. Für ihn machen sie eine Ausnahme, eigentlich Alkoholverbot. "Natürlich ist die Sucht ein Thema, wie bei vielen anderen Produkten auch", sagt er. "Aber das hält die Gesellschaft aus, wie sie viele weitere Süchte aushält. Exzesse können Sie nicht immer verhindern." An Spielsüchtigen habe auch kein Anbieter ein Interesse, das gebe nur Ärger. Und davon habe man doch schon genug.

Ärger, der sich offenkundig lohnt: all die Anwälte und Verfahren, die Investitionen; es muss sich lohnen, Vereine zu finanzieren und Oliver Kahn einzukaufen, der gerade mindestens zum achten Mal an diesem Abend referiert, bei Tipico sei eine Wette in sicheren Händen. Einige Millionen kassiert der FC Bayern dafür, dass Tipico in der Allianz-Arena werben darf und Fotos von Bayern-Spielern auf große Werbeplakate druckt. Etwa tausend Läden hat Tipico, verteilt in der Republik. Viel mehr als jeder Konkurrent.

Gleich in der Nähe einer dieser Filialen, in der Nähe des Münchner Viktualienmarkts, hätte auch Dahms beinahe ein Ladenlokal bekommen, er kam nur ein wenig zu spät. Also weitersuchen, in ähnlich guten Lagen, auf jeden Fall auch in München. "Da müssen wir hin, in die Mitte der Gesellschaft", sagt er. Noch steht er aber hier in Schöneberg, wo das Milieu zu Hause ist.

Belgrad hat gewonnen, drei zu eins, Dahms steckt den Gewinn ein, den seine Freundin auf den Tisch gelegt hat, aus fünf wurden 22 Euro. "Gut, das war jetzt doch nur Glücksspiel", grinst er. Ein kurzer Plausch mit dem Ladenbetreiber, Geschäftliches, ab ins Auto und hinaus in den Abend. Wen interessiert schon Fußball.

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