Süddeutsche Zeitung

Report:Pensionopolis

Görlitz ist mehr als nur Siemens - schon seit Langem ist die östlichste Stadt Deutschlands mit niedrigen Mieten und ihren 4000 Baudenkmälern ein attraktiver Ort, um den Ruhestand zu verleben.

Von Michael Kuntz, Görlitz

Wer wirklich wissen will, wie Görlitz tickt, der sollte hier in die Jakobstraße 4a gehen. Im historischen Zentrum der Stadt an der Neiße gibt es einen Laden von "Kommwohnen", was ja irgendwie schon einladend klingt. Drinnen stehen bei der kommunalen Wohnungsgesellschaft mit dem doppeldeutigen Namen drei Schreibtische, von denen an diesem Morgen zwei besetzt sind. Vorne, sozusagen im Schaufenster, telefoniert eine Mitarbeiterin mit polnisch klingendem Namen und spricht die Sprache des Nachbarlandes, dessen Grenze gerade mal einen Kilometer entfernt ist.

Vor dem Schreibtisch dahinter in der Tiefe des vielleicht vierzig Quadratmeter kleinen Raumes sitzt eine gepflegt wirkende Frau Anfang Fünfzig auf dem Besucherstuhl. Ein Balkon wäre schön, sagt sie zuerst und dann einige Sätze später: aber am wichtigsten wäre überhaupt eine Wohnung. Der Mann von "Kommwohnen" hört geduldig zu und bleibt auch sehr freundlich, als die Frau nach einigen Minuten damit herausrückt, dass sie befürchtet, bald ihre Arbeitsstelle zu verlieren, in ihrem Alter werde sie wohl keine neue finden und dann, man spürt die Überwindung, die sie diese Worte kosten, also dann wird sie ihre jetzige Miete nicht mehr bezahlen können, wird es wohl für sie nicht anders weiter gehen als mit Hartz IV.

"Zur Einrichtung der Wohnung gibt es einen Erlass der Kaltmiete in den ersten zwei Monaten."

Der Herr von "Kommwohnen" hält auch dafür passende Angebote bereit, und die Frau verlässt den Laden in der Jakobstraße 4a nicht gerade fröhlich, aber doch ruhiger als vorher. Das war noch vor der Ankündigung der Weltkonzerne und größten Industrie-Arbeitgeber am Ort, Siemens und Bombardier, in Görlitz Arbeitsplätze abzubauen. Sie nehmen dabei zugunsten hoher Gewinne in Kauf, Menschen ins soziale Elend zu stürzen in einer Gegend, wo soziales Elend bereits ziemlich verbreitet ist.

Von Görlitz reden zur Zeit alle, weil Siemens dort ein Werk schließen, sich bei der Herstellung von Dampfturbinen zurückziehen will nach Mülheim an der Ruhr. Der Konzern konterkariert damit im Osten Deutschlands direkt an der Grenze zu Polen eine Entwicklung, die gerade in die entgegengesetzte Richtung ging. Die Bevölkerungszahl in Görlitz sinkt derzeit nicht länger, sondern hat sich nach Rückgängen bis zum Jahr 2006 entgegen mancher Prognose heute bei 56 500 zumindest stabilisiert.

Görlitz ist vielleicht doch attraktiver, als viele es sich vorstellen. Es gibt jedenfalls einige gute wirtschaftliche Gründe für einen Umzug in die östlichste Stadt Deutschland.

Auch Menschen in fortgeschrittenem Alter sind hier willkommen. Denn Bezieher von Renten oder Pensionen aus anderen Regionen haben nicht selten noch ein höheres Einkommen als viele Bewohner dieser strukturschwachen Gegend, die bei bundesweiten Kaufkraftvergleichen stets ganz unten auf der Liste landet.

Die GfK-Marktforscher in Nürnberg erstellen sie auf Basis des nominal verfügbaren Nettoeinkommens inklusive Kapitaleinkünften und Transferzahlungen wie Renten oder Arbeitslosengeld. Der Landkreis Görlitz stellt dabei mit 18 157 Euro pro Kopf weiterhin das Schlusslicht dar. Das Durchschnittseinkommen der Görlitzer liegt um rund 21 Prozent unter dem aller Deutschen. Zum Vergleich: Im reichsten Landkreis Starnberg beträgt die Kaufkraft pro Einwohner 33 102 Euro.

Vor diesem Hintergrund wirbt man in Görlitz um neue Bürger, möglichst finanzkräftige - und hat dabei auch originelle Einfälle. Zum Beispiel das Probewohnen. Einige Hundert Interessenten nutzten bereits diese Möglichkeit, um das knapp tausend Jahre alte Görlitz kennenzulernen und so vielleicht besser zu verstehen, warum es "für viele die schönste Stadt Deutschlands" ist, so jedenfalls lautet der offizielle Werbeslogan.

Ob mit Probewohnen oder ohne, Görlitz begrüßt seine Zuwanderer mit einem Gutscheinheft. Unter anderem gibt es drei Monate "freie Fahrt mit Bus und Bahn zum Kennenlernen der neuen Heimat", von den Stadtwerken eine Gutschrift über den durchschnittlichen Stromverbrauch für einen Monat. Von der Volksbank ein kostenfreies Konto und eine Hausratsversicherung für jeweils ein Jahr. Plus ein halbes Premierenabo für das Gerhart-Hauptmann-Theater. Und obendrauf die Familienkarte für den Tierpark und ein "Görlitz- Malbuch".

Das sind freilich nur die netten, doch eher kleinen Beigaben, die einen Umzug nach Görlitz schmackhaft machen sollen.

Denn vor allem gibt es bei mehreren großen Vermietern "zur Einrichtung der Wohnung einen Erlass der Kaltmiete in den ersten zwei Monaten und in der Umzugsphase zwei freie Übernachtungen für zwei Personen" in einer Pension, die sonst deutlich über hundert Euro kosten würden.

Ob mit Begrüßungspaket, für das man einen Mietvertrag mit mindestens 18 Monaten Laufzeit unterschreiben muss, oder ohne, über die Jahre kamen 2000 Neubürger - bisher.

Vor allem die im Krieg unzerstört gebliebene Altstadt von Görlitz lockt neue Bürger an, die sich vergleichbar geräumige Wohnungen in sanierten Jugendstilgebäuden in westdeutschen Großstädten niemals leisten könnten. Oftmals sind es ältere Menschen, denen in München oder Stuttgart, Frankfurt oder Berlin das Leben nach der Berufstätigkeit zu teuer wird.

Nirgends sonst in Deutschland ist die Wahrscheinlichkeit größer als in Görlitz, dass der Mensch, dem man begegnet, älter ist als 75 Jahre. Jeder Sechste zählt zu dieser Altersgruppe. Mehr als ein Drittel der Bevölkerung ist über 60 Jahre alt.

Görlitz als kostengünstiger und dennoch attraktiver Wohnsitz im Ruhestand, das hat eine lange Tradition. Schon im 19. Jahrhundert war das "Paris des Ostens" mit der Neiße statt der Seine bei preußischen Beamten als Wohnsitz für den Ruhestand sehr beliebt und bekam deshalb schon damals den Beinamen "Pensionopolis". Nach der Wende zogen etliche Pensionäre aus den alten Bundesländern hierher, so um die 250 pro Jahr sind es heute.

In der historischen Kulisse von "Görliwood" wurden über hundert Filme gedreht

Viele zieht es in die oberhalb des Grenzflusses liegende Altstadt oder in ihren Umkreis mit den ausgedehnten Jugendstilvierteln, jedenfalls in das Stadtgebiet mit den über 4000 Kultur- und Baudenkmälern. Für manche ist es das größte zusammenhängend deutsche Flächendenkmal, zumindest die Altstadt ist weitgehend restauriert. "Wir Görlitzer wissen natürlich, wie schön unsere Stadt ist", sagt die Fremdenführerin beim Rundgang zu ihren Gästen, und: "Der Rest von Deutschland merkt das jetzt auch und wir helfen da natürlich gern dabei."

Die um die 60 Jahre alte Dame erinnert an die Menschen, "die in der DDR-Zeit dafür gesorgt haben, das wenigstens die Eckhäuser abgestützt wurden". Ohne die Wende und die Sanierung danach stünde vielleicht vieles hier nicht mehr. So aber wirkt alles frisch herausgeputzt, und die Fremdenführerin erlebt immer wieder einmal, dass westdeutsche Steuerzahler sich leicht vorwurfsvoll erkundigen: "Da sehen wir ja, wo unser Soli geblieben ist?"

Zu sehen ist jedenfalls, was aus der berühmten Altstadt-Million geworden ist. Sie ist von 1995 an 22 Jahre lang jährlich gespendet worden; kleine Plaketten künden an vielen Gebäuden davon, dass dieses Geld oft als Anschub diente für die Finanzierung von 1200 Bauvorhaben. Erst wurden eine Million Deutsche Mark überwiesen, später 511 500 Euro, im Jahr 2016 letztmalig 340 000 Euro. Der Gönner blieb geheim, das war sein Wunsch.

Die Bild-Zeitung enthüllte mal, der Schokoladen-Erbe Thomas Sprengel könnte es gewesen sein, doch bei einer Dankes-Ausstellung der Stadt im Museum Kaisertrutz in diesem Sommer war alles wieder geheimnisvoll. Und am schönsten waren vielleicht die Gedanken, die sich Thomas Backhaus in all den Jahren gemacht hat, "was das wohl für ein Typ" ist, dieser geheimnisumwitterte Gönner. Der Architekt im Bistum Görlitz hegte "den Wunschtraum, dass es eine junge Frau ist".

Die Altstadt-Millionen des unbekannten Spenders oder der unbekannten Spenderin haben zwar viel bewirkt, aber sie waren nur ein kleiner Betrag im Vergleich zu den Milliarden Euro, die aus allen Quellen zusammen nach Görlitz geflossen sind. In eine Stadt, der man ihre wirtschaftlichen Wunden an immer noch ziemlich vielen Stellen deutlich ansieht.

So steht mitten in der Stadt das wunderschöne Jugendstil-Kaufhaus Görlitz an der Frauenkirche die meiste Zeit leer, es gibt Pläne für ein Modehaus und viel Hoffnung, große Worte, mehr nicht. Hier fanden die Dreharbeiten zum Spielfilm "The Grand Budapest Hotel" statt, aber das war von Oktober 2012 bis März 2013 und ist damit nun auch schon Geschichte.

Wo sonst finden Filmproduktionen Drehbedingungen wie hier? "Auf engstem Raum stehen in Görlitz authentische Kulissen aller Epochen zur Verfügung - vom Mittelalter bis zur Nachkriegszeit", wirbt die Stadt, und Einheimische wirken als Komparsen mit bei seit den 1950er-Jahren über hundert Produktionen in "Görliwood". Demnächst ausgestrahlt werden neue Wolfsland-Krimis, gerade abgedreht.

Allein: Das Filmgeschäft kann diese Stadt und ihre Bewohner nicht ernähren.

Viele Menschen sind deshalb fortgezogen, seit der Wende und dem Wegfall zahlreicher Arbeitsplätze waren es 15 000. Was das bedeutet, lässt sich weniger beim Bummel durch die Altstadt als an den Plattenbauten im nördlichen Stadtteil Königshufen sehen, wo etwa dreimal so viele Menschen wohnen wie in der historischen Kulisse. In Königshufen wurden ganze Etagen abgetragen. Die Tafeln mit den Klingelknöpfen blieben, die oberen Namensschilder sind nun frei. Fast schon zynisch, die Folgen dieser Rückbauten: Weil die Plattenbauten nicht mehr so hoch sind, scheint mehr Sonne und der Name Gartenstadt stimmt mehr als zuvor.

In Plattensiedlungen wie Königshufen gibt es nun barrierefreie Ein- bis Vier-raumwohnungen: "Perfekt für Senioren" mit 51 bis 114 Quadratmetern und Warmmieten zwischen 450 und 949 Euro. Angeboten werden zu ähnlichen Preisen Vier-raumwohnungen mit Mietergarten als "Traum für junge Familien". Und: "Für Gartenfreunde bauen wir bei Bedarf, gegen einen Aufpreis, ein Gartenhäuschen."

Paradiesische Zustände für Mieter, die allerdings gut zu Fuß sein sollten, weil die alten Tatra-Straßenbahnen erst einmal erklommen sein wollen, die nach Königshufen rattern, einmal quer durch das Stadtzentrum mit viel Kopfsteinpflaster. Am Hauptbahnhof erscheint Görlitz irgendwie stillgelegt, nur Trilex-Triebwagen sorgen für Anschluss an die Welt. Auf der ICE-Landkarte kommt Görlitz gar nicht vor. Der Bahnhof wirkt schön museal, aber wer ihn verlässt, schaut auf die Trostlosigkeit großer leer stehender Gebäude, der erste Eindruck von Görlitz ist nicht der beste.

Zwei bis vier Monate vor dem Umzug reichen, um noch nach Wunsch umzubauen

Die Lage der Stadt könnte nun noch schwieriger werden, als sie schon ist. "Sehr ruhig ist es bei uns geworden", sagt die Stadtführerin und meint Bombardier (Eisenbahnwaggons) mit 1200 und Siemens (Dampfturbinen) mit 960 bedrohten Arbeitsplätzen, um die herum etliche Zulieferer und Dienstleister noch Arbeit finden.

Was funktioniert ist der Tourismus, er wächst jährlich um zehn Prozent, und es sind zwei Millionen Menschen, die nach Görlitz pilgern, meist als Tagesgäste. Sie bevölkern die Landskron-Brauerei, besichtigen die Gärbottiche, besuchen Veranstaltungen in der Festhalle, verlassen den Souvenir-Shop mit Bierflaschen und Gläsern in Tüten mit dem Werbespruch "PrOST Deutschland", der irgendwie schon passt in diese Gegend, wo die AfD bei der jüngsten Bundestagswahl das Direktmandat holte und 32,9 Prozent der Zweitstimmen.

Nach Königshufen fahren die Touristen jedenfalls eher nicht - sie schlendern durch das Stadtzentrum voller Gegensätze, Neubauten stehen neben Bauruinen, die stattliche Repräsentanz der Deutschen Vermögensverwaltung gegenüber vom Vermietungsbüro. In der Jakobstraße 4a lächelt der freundliche Herr von "Kommwohnen", als er hört, dass der Görlitz-Interessent aus dem teuren München nicht auf die Altstadt fixiert ist, sich auch die Neubaugebiete angeschaut hat, sogar die Plattenbauten in Königshufen als preisgünstige Senioren-Residenz nicht generell ausschließt. Dort gibt es Wohnungen mit 110 Quadratmetern, vereinzelt auch welche bis 150 Quadratmetern, also ausreichend selbst für gehobene Rentneransprüche.

Dann gibt es noch Informationsmaterial mit auf den Heimweg nach Bayern. "Schließlich muss die Wohnung der Frau gefallen", sagt der Interessent. Es folgen ein verständnisvolles Männerlächeln, der Austausch von Visitenkarten und ein herzlicher Abschied mit kräftigem Händedruck. Renoviert wird bei "Kommwohnen" immer, wenn jemand auszieht.

Der freundliche und geduldige Mensch empfiehlt, sich drei bis vier Monate vor dem geplanten Einzug zu melden. Das reicht dann im Normalfall, um noch nach Wunsch umzubauen. Für einen Umzug nach Görlitz im kommenden Sommer gäbe es also noch etwas Bedenkzeit.

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Quelle:
SZ vom 23.12.2017
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