Report:Nachhilfe für Champions

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Wird Baden-Württemberg zum nächsten Ruhrgebiet? Mit Industrieruinen, wo es vor Kurzem noch Autofabriken gab? Eine Delegation musste beim Besuch in China erkennen: Die Gefahr besteht.

Von Stefan Mayr, Hangzhou

Nicole Hoffmeister-Kraut steigt in das silber-weiße Auto und schnallt sich brav an. Dann steigt sie aufs Gas. Vollgas! Der Wagen mit rotem Dach und roten Rückspiegeln braust laut wummernd davon. Erschreckt macht ein schwarz uniformierter Sicherheitsmann große Augen. Er schüttelt ungläubig den Kopf und schaut der Wirtschaftsministerin aus dem fernen Stuttgart hinterher, wie sie vor dem Hauptquartier des chinesischen Autokonzerns Geely ein paar Testrunden dreht. Dann steigt sie verschmitzt lächelnd aus. "Haja", sagt sie leicht schwäbelnd, "wenn ich eine Probefahrt mach, dann schau ich auch, was das Auto kann." Ihre Meinung über den Lynk& Co aus dem Hause Geely: "Ich sehe nach wie vor eine Überlegenheit unserer Fahrzeuge aus Baden-Württemberg." Straßenlage, Fahrgefühl und Beschleunigung seien bei Mercedes und Porsche schon noch besser, sagt die CDU-Politikerin.

Noch? Noch.

Nicole Hoffmeister-Kraut ist mit einer Wirtschaftsdelegation aus Baden-Württemberg in China unterwegs. Sie besucht vor allem Autohersteller und Unternehmen, die sich auf künstliche Intelligenz (KI) spezialisiert haben. Offizielles Ziel der Tour: Kontakte knüpfen und pflegen, Kooperationen anbahnen. Aber hinter vorgehaltener Hand sagt ein Unternehmer, worum es vor allem geht: "Wir wollen einen Blick in die Waffenarsenale des Feindes erhaschen." Martialische Wortwahl. Aber vielleicht trifft sie das deutsch-chinesische Verhältnis ganz gut. Die Ministerin selbst drückt sich ganz ähnlich aus: "Wir sind im Wettbewerb der Systeme."

Das offizielle Ziel des Trips lautet: Kontakte knüpfen und pflegen. (Foto: Sascha Baumann/all4foto.de)

Der Autokonzern Geely hat ein klares Ziel: Daimler und BMW überholen

Die Reise geht durch vier Millionen-Städte: Nanjing, Hanzhou, Shanghai und Shenzhen. Und egal, wo die 46-Jährige mit ihrer Entourage aufschlägt, überall ist vom großen Umbruch die Rede. Und der geht so: Früher flogen die Politiker und Unternehmer aus dem Ländle nach China, um dort voller Stolz ihre Produkte zu präsentieren und jede Menge Aufträge nach Hause zu bringen. Oder sie vergaben Aufträge für schlichtere Teile, die sie auf ihrer verlängerten Werkbank schön günstig herstellen ließen. Doch diese Reise 2019 steht unter ganz anderen Vorzeichen. Schon beim ersten Briefing im Yin Xing Room des Hotels Fairmont in Nanjing sagt Kai Schmidt-Eisenlohr von Baden-Württemberg International, der Wirtschaftsförder-Gesellschaft des Landes: "Wir wollen vor allem schauen und lernen."

Die Champions sind gekommen, um Nachhilfestunden zu nehmen. Nachhilfe im schnelleren Planen, im schnelleren Produzieren, im schnelleren Denken. Oder noch zugespitzter: im Überleben der Welle, die von China aus auf Deutschland zurollt. Unangemessene Panikmache? "Es ist kein Naturgesetz, dass Daimler ewig besteht", sagte Daimler-Chef Dieter Zetsche neulich in Barcelona. Wenn selbst der notorisch selbstbewusste Hersteller der legendären Mercedes-Limousinen so etwas sagt, dann sollte man das ernst nehmen.

Das Interesse am China-Trip ist jedenfalls riesig. 100 Personen haben sich angemeldet, neuer Rekord. Viele Chefs von stolzen Mittelständlern sind dabei, drei Mann vom weltgrößten Autozulieferer Bosch, Vertreter der Verbände Südwestmetall, ILV, VDMA und der IHK. Was sie sehen, bringt sie durch die Bank ins Staunen.

Blick auf das Modell einer Smart City beim BYD-Konzern. (Foto: oh)

Auf dem Geely-Areal in Hangzhou bietet sich ihnen ein skurriles Bild: Auf der einen Seite der Jiangling Road steht der graue, 25-stöckige Verwaltungsklotz des aufstrebenden Geely-Konzerns. Oben an der Dachkante prangt, in kräftigem Blau und nicht in chinesischen Schriftzeichen, der Firmenname. Und auf der anderen Straßenseite steht ein Mercedes-Autohaus, das viel, viel kleiner ist. Auch hängen die drei schwarzen Flaggen mit dem Stern deutlich niedriger als die zwei Dutzend Flaggen auf dem Geely-Areal.

Man wird den Eindruck nicht los: Der Riese aus Beton könnte den Zwerg aus Glas leicht plattmachen. Wenn er nur wollte. 2018 hat Geely-Eigentümer Li Shufu fast zehn Prozent an Daimler übernommen, völlig überraschend und ohne Rücksprache mit dem Stuttgarter Management. Shufu ist somit größter Einzelaktionär der deutschen Industrie-Ikone. Die Frage, ob Daimler Übernahmekandidat ist, ist durchaus ein Thema für Ministerin Hoffmeister-Kraut und die Delegationsmitglieder.

Geely-Präsident Conghui An begrüßt die Ministerin aus der Daimler-Heimat überaus freundlich, doch die große Frage nach den weiteren Plänen mit Daimler lässt er unbeantwortet. Doch später kündigt sein Sprecher Victor Young in einer Power-Point-Präsentation zumindest indirekt gleich zwei Attacken an: "Wir wollen in die Top Ten der Autohersteller der Welt." Auf seiner Folie ist klar erkennbar, was das heißt: Noch ist Geely mit 2,3 Millionen verkauften Fahrzeugen pro Jahr die Nummer 13. Sollte der Sprung unter die ersten zehn gelingen, würden sie Daimler und auch BMW überholen. Diese nehmen auf Youngs Tabelle die Plätze elf und zwölf ein. Der Name Daimler ist darauf falsch geschrieben. "Daimeir" steht da. So könnte auch eine Zwei-Mann-Werkstatt in Berchtesgaden heißen.

Der zweite Angriff ist 2020 geplant: Dann wird Geely sein erstes Auto in Europa verkaufen: Den Lynk & Co 01, jener schicke Plug-in-Hybrid, den die Ministerin kurz zuvor über den Vorplatz geheizt hat. Noch muss Premiumhersteller Daimler den Herausforderer nicht fürchten, wie Hoffmeister-Kraut betont. Aber sie sagt auch: "Die sind auf einem guten Weg."

Dass sie sich ans Steuer des künftigen Geely-Flaggschiffs gesetzt hat, kommt bei manchem Delegationsmitglied nicht gut an. Ein Verbandsvertreter tut im kleinen Kreis seinen Unmut kund. Nicole Hoffmeister-Kraut ist das egal, sie macht ihr Ding. Aber die Kritik ist auch ein Zeichen für die Nervosität unter den eigentlich so stolzen schwäbischen Unternehmern.

So ändern sich die Zeiten: Als Li Shufu noch kein Milliardär war, hat er einen Mercedes-Klon gebaut, der schamlos alle Details des deutschen Vorbilds möglichst genau kopierte. Heute schmückt Geely seine Autos mit chinesischen Design-Elementen wie etwa Ornamenten. Das neue Selbstbewusstsein demonstriert auch der Claim von Geely: "Take Geely to the World." Dieser Spruch sagt alles über die Pläne des Konzerns. Da ist es fast schon egal, dass dessen Vertreter bei der Frage-Antwort-Runde nach dem Referat etliche Detailfragen offenlassen.

Ähnlich freundlich und verschlossen werden die Deutschen in Shenzhen beim Autohersteller BYD empfangen. Auf dem Firmengelände schweben zwei Monorail-Züge über die Köpfe der Besucher hinweg, ein großer schneller für die Langstrecken, ein kleinerer für Stadtfahrten. Die Stelzen der Trassen sind mit Plastikblumen und Grünzeug versehen. Das erinnert an den Europa-Freizeitpark im badischen Rust, eine Mischung aus Kitsch und Science-Fiction. Neben den Produktionshallen hat BYD auf dem Areal ein Dutzend Wohnblöcke hochgezogen. Die Hälfte aller hiesigen 36 000 Mitarbeiter wohnt hier. Auch zum Einkauf im Supermarkt müssen die Menschen in ihren beige-grauen Firmenjacken das Gelände nicht verlassen.

Einkaufen mit dem Handy in einem digital ausgerüsteten Supermarkt: Ministerin Hoffmeister-Kraut mit Wirtschaftsprofessor Han Zheng. (Foto: Sascha Baumann/all4foto.de)

Insgesamt beschäftigt BYD weltweit 220 000 Menschen, der börsennotierte Konzern ist viel mehr als ein Autohersteller: Angefangen hat das Unternehmen 1995 als Batterie-Produzent für Handys. Heute stellt BYD Elektrobusse und -Pkws her und gilt als einer der weltgrößten Hersteller von Batteriezellen, die in jedem vierten Handy und in unzähligen Autos weltweit verbaut werden. Der Name BYD ist die Abkürzung für "Build your Dreams" - baue deinen Traum. Er steht für den Ehrgeiz der chinesischen Unternehmer und Bürger.

China kann bei der Mobilität die ganz Wertschöpfung unter Kontrolle bekommen

Unter der lautlosen Schwebebahn rauscht plötzlich ein bronzener Straßenkehr-Truck ums Eck, vollelektrisch versteht sich. Wer hier nicht aufpasst, könnte leicht überrollt und hinweggefegt werden von der Zukunft der Mobilität. Plötzlich kommt einem BMW in den Sinn - und die Frage, wie lange die Bayerischen Motoren-Werke in ihrem Namen noch die Vergangenheit mitschleppen werden.

Wird Baden-Württemberg oder gar ganz Süddeutschland das neue Ruhrgebiet? Mit Ruinen von stillgelegten Autofabriken und Zulieferbetrieben? Bei der IG Metall in Stuttgart stellen sie sich diese Frage schon länger. Sie haben so etwas ja schon einmal mitgemacht. Als die Textil-Industrie in den Achtzigerjahren zusammenbrach oder auch viele Hersteller von Unterhaltungselektronik aufgeben mussten, weil sie nicht schnell genug auf die asiatische Konkurrenz reagiert hatten.

"Wir haben keine Zeit mehr", sagt David Hermanns. Der Geschäftsführer des CyberForums Karlsruhe sitzt im Hilton-Hotel von Shenzhen auf einem Stuhl, der mit einer silberfarbenen Husse überzogen ist. Zum zufriedenen Zurücklehnen ist ihm nicht zumute. "Wir sind im Ausnahmezustand", ruft er. "Wenn wir nicht Gas geben, dann sind unsere Autohersteller bald nur noch Zulieferer."

Während in Europa noch diskutiert wird, ob eine eigene Batteriezellenfertigung Sinn hat oder nicht, preschen die Chinesen davon. Sie haben die historische Chance, bei der Mobilität die komplette Wertschöpfung in ihre Hände zu bekommen. Befördert durch Protektionismus und Industriepolitik der eigenen Regierung, durch die Masse an Käufern im eigenen Land. Und durch das Klein-Klein in Europa. "Wir brauchen wie China eine eigene europäische Wirtschafts-Agenda 2025", fordert Hermanns. Aber er ist skeptisch: "Wenn wir weitermachen wie bisher, bekommen wir weder im Bund noch in Europa eine einheitliche Strategie hin."

So ändern sich die Zeiten. Es gibt Studien, wonach bis 2030 in der deutschen Autoindustrie wegen der Elektrifizierung der Fahrzeuge 70 000 Arbeitsplätze wegfallen werden. Das ist jeder zehnte Job von heute. Die IG Metall arbeitet derzeit an einem "Transformationsatlas". Um die größten Problemzonen zu erkennen und Gegenmaßnahmen zu entwickeln. Man könnte das Werk auch Krisenatlas nennen.

Deutsche Unternehmen müssen die Flucht nach vorn antreten, mit Innovationen

Für Ministerin Hoffmeister-Kraut lautet die Überlebensstrategie so: "Innovation, Innovation, Innovation." Den besten Anschauungsunterricht hierzu erhielt sie in der Stadt Shenzhen, die selbst ein riesiges Hightechlabor ist; Das einstige Fischerdorf wurde von der kommunistischen Regierung zur ersten Sonderwirtschaftszone erkoren, in der freies Unternehmertum erlaubt und sogar gefördert wurde. Heute hat der Großraum 20 Millionen Einwohner, doppelt so viele wie ganz Baden-Württemberg. Und weil das noch nicht genug ist, schließt sich Shenzhen nun mit Hongkong und Macao zusammen zu einem 50-Millionen-Konglomerat. Es ist der größte Ballungsraum der Welt. Mehr als halb so groß wie Deutschland mit seinen 80 Millionen Einwohnern.

Schon jetzt ist Shenzhen ein unfassbares Gebilde: Hochhaussiedlung reiht sich an Hochhaussiedlung, mit 50-stöckigen Wohntürmen. Diese Wohndschungel sind unendlich lang, unfassbar dicht, unglaublich hoch. Und mitunter unbewohnt. Potemkinsche Protzbauten? Ergebnisse eines Konjunkturprogramms am Markt vorbei? An Kapazitätsgrenzen werden sie hier jedenfalls nicht so schnell stoßen.

Im Stadtzentrum sind die Wolkenkratzer von oben bis unten mit LED-Lampen übersät. Wenn es dunkel wird, bilden sie eine einzige blinkende Werbefläche, auf denen ganze Filme gezeigt werden. Der Times Square in New York ist dagegen ein schlecht beleuchteter Hinterhof. Alle Straßen sind versehen mit Kameras, die im Abstand weniger Sekunden blitzen und fotografieren. Smart City nennen sie das. Die Stadt weiß immer, wer wann wo unterwegs ist. Das gilt auch für Gehwege und Plätze. 700 000 Kameras gibt es in Shenzhen. Und dahinter läuft die Gesichtserkennung. Jeder Passant ist identifizierbar. Was für Deutsche ein Horror ist, macht viele Chinesen glücklich: Die Kriminalität sei stark gesunken, betont eine Sprecherin von Cloudwalk, einem der vielen Start-ups, die KI beherrschen und Gesichtserkennungsprogramme verkaufen. Dass die Kameras auch zur Vergabe von Minuspunkten dienen können, die Verkehrssündern später Probleme beim Kreditantrag bescheren, ist für viele Chinesen ebenfalls kein Problem.

In Shenzhen besucht die Delegation auch die Hightechkonzerne Tencent und Huawei. Tencent ist das Facebook Asiens, Huawei ist der Ausrüster von IT-Infrastruktur, dessen Beteiligung beim Aufbau des deutschen 5G-Netzes umstritten ist. "Wir haben bei 5G ein Jahr Vorsprung zur Konkurrenz", sagt Huawei-Sprecher Carsten Senz selbstbewusst. Wie weit die Technik in China jener in Deutschland voraus ist, wird beim Rundgang durch den prächtigen Showroom eher nebenbei deutlich, als der englisch sprechende Museumsführer das Huawei-Handynetz für das chinesische Schnellzugnetz erklärt. "Bei Tempo 350 wird es mit dem Wechsel zwischen den Funkzellen schwierig", sagt er, und ergänzt: "Wenn man auf der deutschen Autobahn 200 fährt, geht das." Da schauen sich die Damen und Herren aus Schwaben verstohlen an und einer flüstert: "Wenn der wüsste, dass das bei uns schon mit 120 nicht klappt."

So rast China mit Vollgas Richtung Vernetzung, Verkameraisierung und Versmartphonisierung. Beim Spaziergang durch Shanghai lässt sich die Ministerin zeigen, wie man im Supermarkt mit dem Handy bezahlt. Überhaupt wird in China kaum noch in bar gezahlt, das ist Vergangenheit. Die Gegenwart in China ist, dass Kinder schon im Kindergarten mit kleinen Lego-Robotern spielerisch an das Thema KI herangeführt werden. "Mich hat das ein bisschen schockiert", sagt Klaus Baumgärtner von der Stuttgarter Unternehmensberatung BridgingIT.

Auch für Schulkinder gibt es altersgemäße Programme, davon seien bereits Hunderte an Schulen verteilt worden. In Russland und in den USA sogar Tausende. Und in Europa? Nur nach England. Deutschland ist ein weißer Fleck. "Dabei haben alle Programme zum Selberdenken angeregt", sagt Baumgärtner.

Ist für Baden-Württemberg also schon alles verloren? Bei der Abschlussbesprechung in der China Merchants Hall des Hilton-Hotels zählt Nicole Hoffmeister-Kraut auch Lichtblicke auf: So haben chinesische Forscher zum Thema KI zwar viel mehr Veröffentlichungen als ihre deutschen Kollegen. Aber wenn man berücksichtige, wer auf internationaler Ebene zitiert werde, dann sei Deutschland noch weit vorn. Klingt gut. Aber da ist es schon wieder dieses Noch. Überhaupt dominieren in ihrer Rede die Warnungen: China sei in vielen Bereichen Technologieführer und Europa "klar voraus". Die Dynamik der Wirtschaft sei "schwindelerregend", die Risikobereitschaft "beeindruckend". Und bei der Finanzierung "kochen die Chinesen eben nicht nur mit Wasser", sagt sie angesichts staatlicher Unterstützung. "Unsere Demokratien sind herausgefordert. Da müssen wir in Baden-Württemberg besser werden."

Die Ministerin lässt sich von Start-up-Unternehmern künstliche Intelligenz erklären. (Foto: Sascha Baumann/all4foto.de)

Aber was konkret tun? "Sollen wir China kopieren?", fragt Hoffmeister-Kraut in die Runde. Ihre Antwort: "Ich glaube nein."

© SZ vom 09.03.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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