Süddeutsche Zeitung

Report:Mailand!

Einst eine sterbende Stadt, ist die Wirtschaftsmetropole nahe der Alpen aufgeblüht. Während Italien in Schuldenproblemen gefangen bleibt, berauschen sich die Mailänder am Wandel.

Von Ulrike Sauer, Mailand

Stefania rückt von Osten heran. Drei Zentimeter gräbt sie sich in der Minute Richtung Dom. Rund um die Uhr. Während sich der rotierende Kopf des stählernen Maulwurfs durch das Erdreich fräst, fügen sich Betonringe an der Rückseite zu einem wasserdichten Schacht zusammen. 15 Meter fertige Tunnelröhren der neuen U-Bahn-Linie M 4 hinterlässt Stefania am Tag. Ist ihr Job erledigt, wird man in 14 Minuten vom Flughafen Linate zur Piazza San Babila gelangen, mitten ins Herz Mailands. Dorthin, wo der Dom, die Einkaufsgalerie Vittorio Emanuele und die Scala dicht gedrängt stehen. "Die M 4 wird Mailand gewaltig verändern", sagt Alessio Bortolussi, 31. Der Ingenieur, Dreitagebart und gelber Helm, steht auf der Baustelle der U-Bahn-Station Argonne. Vom Fluch der italienischen Selbstblockade ist hier nichts zu spüren.

In Mailand, der Stadt der Weltausstellung 2015, wirken Veränderungen wie eine heilsame Droge. Italiens Wirtschaftsmetropole berauscht sich an ihrem Aufbruch.

Die neue U-Bahn wird die Stadt auf einer Strecke von 15 Kilometern in Ost-West-Richtung durchqueren. Durch die Anbindung dicht bevölkerter Viertel ans Zentrum sollen im Jahr 30 Millionen Autofahrten flachfallen. Zudem erschließt die M4 Neuland für die Expansion der Stadt. Denn Mailand wächst gerade über sich hinaus.

"Die Stadt hat das Licht angezündet."

Mailand? Die Börsen- und Bankencity des erstarrten Italiens? Bortolussi erlebt seine Heimatstadt ganz neu. "Mailand war depressiv und bedrückend, jetzt ist die Stadt aufgeblüht." Das ist beachtlich. Früher zogen die Italiener her, um Geld zu verdienen oder um Karriere zu machen. Deswegen war Mailand spröder und grauer als andere Orte Italiens. Heute streift man durch eine prickelnde, zukunftshungrige Stadt, die Talente anzieht und sich unablässig neue Herausforderungen sucht. Italien scheint weit weg. Bloß nicht an Rom denken. An Renzis abgebrochenen Reformanlauf. An die politische Perspektivlosigkeit. Man misst sich an der Dynamik europäischer Metropolen.

Die Mailänder Skyline am Fuß der Alpen ist kaum wiederzuerkennen. Die Stadt wurde zu einer der ersten Adressen der Gegenwartsarchitektur. Die Zahl der Einwohner nimmt stetig zu. Im Gegensatz zu Italiens Bevölkerung, die erstmals seit 90 Jahren deutlich schrumpft. Mailand zieht die Generation der Millennials magisch an: 46 000 junge Leute ließen sich in anderthalb Jahren nieder. Auch auf Touristen übt das antike Mediolanum plötzlich einen starken Reiz aus. 2016 kamen 7,7 Millionen Besucher. Im ersten Quartal 2017 nahm ihre Zahl um 14 Prozent zu.

Seit drei Jahren lockt Mailand mehr Touristen an als Rom. Mailand!

Porta Nuova ist der Inbegriff dieser Verwandlung. In einer verrufenen Gegend um den Bahnhof Porta Garibaldi entstand ein neues Innenstadtviertel. 1,3 Millionen Quadratmeter glitzernde Kulisse. Mittendrin liegt die Piazza Gae Aulenti, der spannende Mittelpunkt des neuen Milano. Das Quartier mit den Bürotürmen von Unicredit und Samsung, mit Flaniermeilen, Wasserspielen, Lokalen und Läden, gehört einem Investor aus Katar. Vor ein paar Tagen eröffnete die globale Beratungsfirma Accenture hier ihr Innovationszentrum für die Konsumgüterbranche.

In den blaugrauen Glasfassaden der Wolkenkratzer spiegelt sich der Bosco Verticale, der 120 Meter hohe vertikale Wald, für den der Architekt Stefano Boeri den Internationalen Hochhauspreis gewann, der von der Stadt Frankfurt am Main verliehen wird. 21 000 Bäume und Sträucher begrünen die Fassade der beiden Luxusappartement-Häuser. Unter der Erde gleitet die neue U-Bahn M 5 vorbei.

Früher war Garibaldi eine Grenze, die man nicht überschritt. Einer der hässlichen Flecken der Modestadt. Im Norden davon lag der heruntergekommene ehemalige Arbeiterbezirk Isola. Heute spannt Porta Nuova eine Brücke mitten in das neue Szeneviertel. In Isola wohnen jetzt Leute wie Bortolussi. Mailand habe viele solcher Lücken gefüllt, sagt der Ingenieur.

Eine dieser No-go-Zonen erschloss die Stiftung des Verlagshauses Feltrinelli mit einer transparenten, 200 Meter langen Wissensfabrik. Aus seinem gläsernen Büro im vierten Stock schaut Massimiliano Tarantino, 41, auf eine Stadt, die eine neue Glanzzeit erlebt. Sechs Jahre ist der Direktor der Fondazione Feltrinelli früher beruflich zwischen Rom und Mailand gependelt. Rom war für ihn die Stadt des Lichts. Mailand ihre introvertierte, langweilige Rivalin. Und die Heimatstadt von Silvio Berlusconi, in dessen Beziehungsgeflecht sie lange gefangen war.

Im vergangenen Dezember zog Tarantino unter dem gläsernen Spitzdach des Stiftungssitzes ein. Hier schlägt nun ein neues Herz Mailands, eines von vielen. Es ist ein strahlender Frühlingsmorgen, die Sonne flutet seine Denkstube. Tarantino sagt: "Mailand hat das Licht angezündet." Die Stadt glaube fest daran, ihren Platz in Europa zu haben. Sie glaube zudem daran, dass Kreativität und die spezialisierten Firmen-Cluster ein Schlüssel zum Globalisierungserfolg Italiens sind. Mailand hat Vertrauen in die eigenen Kräfte geschöpft, sagt er. Ein Leuchtturm im verzagten und wütenden Italien.

Das Feltrinelli-Gebäude, vom Schweizer Architektenduo Herzog & de Meuron entworfen, ist von ergreifender Schlichtheit. Ein Betonskelett verleiht ihm ein regelmäßiges Gittermuster. Glas die Offenheit. Die Stiftung hat hier ihr Forschungsinstitut, ein Kulturzentrum und eine Buchhandlung mit Café untergebracht. Das Kellerarchiv birgt elf Kilometer Zeitdokumente zu den internationalen Sozialbewegungen. Zwei Drittel des Gebäudes belegt Microsoft mit seinem italienischen Hauptsitz. Ein paar Schritte entfernt hat die Kette Eataly das leer stehende Kino Smeraldo in einen Gourmet-Treff verwandelt.

In den Neunzigerjahren wollten sieben von zehn Mailändern die Stadt verlassen. Nun wollen alle hin.

"Mailand ist krank." So begann Marco Alfieri 2009 sein Buch "Die Pest von Mailand". Ein Schock hatte die Seuche zum Ausbruch gebracht. Die Mailänder Staatsanwälte hoben 1992 mit ihrer Ermittlungsaktion "Saubere Hände" die Schmiergeldrepublik Tangentopoli aus den Angeln gehoben. "Seither droht die Metropole, die Italiens Modernisierung angetrieben hat, in einem Sumpf aus Reglosigkeit und Kurzsichtigkeit zu versinken", schrieb Alfieri. Mailand fehle es an einem Zukunftsentwurf. Die Chance, brachliegende Industrieareale für neue Bedürfnisse zu nutzen, werde verpasst.

Acht Jahre später ist die Metamorphose Mailands auch an den neuen "Fabriken" sichtbar. Tortona zum Beispiel, das frühere Industrieviertel, ist zum Designdistrikt geworden. Die Stahlfabrik Ansaldo beherbergt heute im Kulturmuseum Mudec die anthropologischen Sammlungen der Stadt. Nebenan bietet der Veranstaltungsort BASE Raum fürs Coworking. Giorgio Armani richtete im alten Kornspeicher von Nestlé sein Museum "Armani / Silos" ein.

Nicht weit entfernt wächst auf dem früheren Messegelände das Viertel Citylife in den Himmel, das sich um drei Wolkenkratzer der Architekturbüros Zaha Hadid, Arata Isozaki und Daniel Libeskind gruppiert. Im September werden 3000 Mitarbeiter der Münchner Allianz Versicherung in den 50-stöckigen Isozaki-Turm einziehen. Sie werden die Pioniere auf dem Areal von Citylife sein, das drei Mal so groß ist wie der Potsdamer Platz in Berlin.

"Dinge, die die Zukunft Italiens betreffen, ereignen sich entweder in Mailand oder gar nicht."

Im Norden Mailands entsteht eine Gesundheits-City mit Kliniken und Forschungsinstituten auf dem Gelände des Ex-Stahlwerks Falck in Sesto San Giovanni, dem früheren Stalingrad Italiens, das so genannt wird , weil hier die Kommunistische Partei stark und im Zweiten Weltkrieg der Widerstand gegen den Faschismus erbittert war. Im Süden ließ Miuccia Prada eine alte Destillerie von dem Architekten Rem Koolhaas in ein Kunstjuwel verwandeln. Der mit Blattgold überzogene Fabrikturm funkelt nun in der Sonne. Drinnen stellt die Designerin ihre Kunstsammlung aus. Im Palazzo Marino, dem Rathaus gegenüber der Scala, nimmt man sich nun die stillgelegten Rangierbahnhöfe vor. Die betroffenen Flächen sind so weitläufig wie das Vorzeige-Viertel Porta Nuova, sagt Städtebaudezernent Pierfrancesco Maran.

"Mailand ist dabei, seine neue Identität zu entdecken", sagt der 37-jährige Sozialdemokrat. Die Fabriken waren gestern. Heute gibt es acht Universitäten und 250 000 Studenten in der Stadt.

"Mailand hat eine neue Berufung", sagt Maran. Die Fernsehsender RAI, Mediaset und Sky Italia verschieben gerade ihre Redaktionen aus der Abstiegshauptstadt Rom hierher. "Sie ziehen dorthin, wo man die Dinge plant und entwickelt, die morgen Wirklichkeit werden", sagt Tarantino. Von der Pest zum Zukunftslabor - wie kann sich eine Stadt so radikal ändern?

Den Wendepunkt markierte die Weltausstellung 2015.

Die Italiener hatten sich wieder mal von ihrer schlechtesten Seite gezeigt. Die Vorbereitungen zu dem Großereignis waren durch eine Mischung aus Unentschlossenheit, Bestechungsskandalen und Mafia-Infiltrationen im Verzug. In einer wilden Aufholjagd sorgte man dafür, dass die Pavillons rechtzeitig fertig wurden. "Das heutige Mailand ist das Ergebnis dieses Kraftakts", sagt Stiftungsdirektor Tarantino. Die Stadt machte sich den Expo-Schub zu eigen. "Mailand hat aufgehört, sich die Flügel zu stutzen", sagt er. Und siehe da, nun hebt die Stadt ab.

Überraschend ist: Das Ende der sechsmonatigen Weltausstellung erlebte man nicht als Zielpunkt. Der Wettlauf setzt sich fort. Im April legte die Möbelmesse die ganze Stadt bis in die Nacht lahm. Eine halbe Million Menschen besuchte in diesem Jahr das Designfestival, auf dem Mailand seine wiedergewonnene Kreativität feiert. Im Mai lockte die Nahrungsmittelmesse Tuttofood die Massen - mit einer Formel, die Fachleute und Publikum gleichermaßen anspricht und das Expo-Motto "Den Planeten ernähren" inhaltlich fortführt. Barack Obama schenkte dem Branchentreff mit seinem Auftritt das Pop-Highlight.

Bürgermeister Sala möchte Mailand zum "Davos der Nahrung" machen.

Dass der ehemalige Telecom-Manager seit einem Jahr die 1,4-Millionen-Stadt regiert, liegt auch an der Expo. Als Italien mit der Ausrichtung des Events eine Weltblamage drohte, war Giuseppe Sala von der Regierung zum Sonderkommissar bestellt worden. Nach seinem erfolgreichen Expo-Einsatz drängte Premier Matteo Renzi ihn dazu, im Juni 2016 bei den Rathauswahlen für die Linke anzutreten. Jetzt sitzt der Troubleshooter an seinem großen Schreibtisch im Palazzo Marino. Das Zimmer des Bürgermeisters liegt im Halbdunkeln, gediegene Chesterfield-Polster, düstere Ölgemälde und marmorne Türportale verleihen seinem Büro die stickige Aura vergangener Zeiten. Doch das Erbe der Weltausstellung ist für Sala zukunftsweisend gewesen. "Sie hat den Mailänder Stolz entfacht und Energien freigesetzt", sagt der 59-Jährige. Und sie habe bewiesen, dass sich Investitionen in Mailand lohnen.

Apple verwandelt die Piazza Liberty mit dem Stararchitekten Norman Foster gerade in ein Amphitheater mit angeschlossenem iPhone-Store. Starbucks baut die Hauptpost an der Piazza Cordusio in einen 3000 Quadratmeter großen Coffeeshop um. Google investiert. Amazon investiert. "Die Unternehmen gucken sich bei ihrer Standortsuche nicht mehr Länder aus", sagt Sala. In Europa befänden sich heute die Metropolen im direkten Wettbewerb.

Die Nase vorn hat Mailand in der Mobilität von morgen. Mit fünf konkurrierenden Carsharing-Anbietern und 13 000 Mieten am Tag ist die Stadt führend. An den 280 Fahrrad-Stationen schwingen sich täglich 20 000 Nutzer auf den Sattel. Jedes fünfte Rad ist schon ein E-Bike. "Bald bieten wir Räder mit Kindersitzen an", sagt Sala.

Als Nächstes will der Mailänder vom Brexit profitieren und die europäische Aufsichtsbehörde für Arzneimittel EMA aus London in das sechseckige Pirelli-Hochhaus, ein ehemaliges Wahrzeichen der Industriemetropole, holen. Noch ehrgeiziger ist das Vorhaben, das verwaiste Expo-Gelände in einen der größten Forschungsstandorte Europas zu verwandeln. Human Technopole wird das Zentrum heißen. 1500 Wissenschaftler sollen in den Disziplinen Genetik, Krebsforschung, Ernährung und Big Data arbeiten, um mit Hilfe mathematischer Modelle, Krankheiten besser zu erfassen und Therapien zu entwickeln.

2016 trugen sich in das Register der Mailänder Handelskammer 24 000 neue Firmen ein. Auf der Rangliste der Financial Times der Städte mit den meisten innovativen Unternehmen schob sich Mailand in Europa auf Platz drei. Hinter London und Paris, vor Berlin. "Die hohe Zahl von Startups und ausländischen Unternehmen zeigt, dass die Stadt die Krise überwunden und sich neu erfunden hat", sagt Handelskammerpräsident Carlo Sangalli.

Den Planeten ernähren: Bürgermeister Giuseppe Sala möchte ein "Davos der Nahrung"

Dass Mailand anders tickt als Italien, spürt man in vieler Hinsicht. Jeder zehnte Mailänder ist ehrenamtlich tätig. Die Stadt stemmt die Aufnahme der Flüchtlinge vorbildlich. Am 20. Mai gingen 100 000 Menschen mit der Parole "Wir sind alle Migranten" auf die Straße. Mailand sei "fähig, den gemeinsamen europäischen Weg zu erleuchten", lobte Erzbischof Angelo Scola einmal.

Und Italien?

"Dinge, die die Zukunft Italiens betreffen, ereignen sich entweder in Mailand oder gar nicht", konstatierte der Soziologe Mauro Magatti. Das ist wohl die ultimative Herausforderung für die Stadt: dem ganzen Land den Weg aus dem Stillstand zu weisen.

Angelo Turi ist in seiner Steuerberaterkanzlei am Domplatz nah am Puls der lombardischen Unternehmer. Nach der großen Depression der Jahre 2012 bis 2014 haben sich die verzagten Mienen seiner Mandanten aufgehellt. Die Unternehmungslust steckte auch Turi an, der im Osten Mailands den Bau der Smart City Milano4You in Angriff nahm. In Segrate entsteht ein komplett vernetzter Smart District mit zunächst 800 Wohnungen auf der grünen Wiese. Milano4You will eine günstige, umweltschonende und zeitgemäße Antwort auf die Immobiliennachfrage im digitalen Zeitalter geben.

Vor 40 Jahren begann in Segrate der Aufstieg von Silvio Berlusconi. Der Selfmade-Unternehmer zog hier sein Retortenviertel Milano 2 hoch. Modern wie er war, sah der Baulöwe nicht nur den Anschluss fürs Kabelfernsehen vor, sondern auch vier Garagen pro Haushalt. "Wir bieten den Bewohnern nun Carsharing an", sagt Turi grinsend. Der Wandel Mailands hat ihn überrascht. Der gebürtige Apulier führt die Dynamik auf den Zusammenbruch eines Machtgefüges zurück, dessen tragender Pfeiler Berlusconi war. "Es ändert sich auf einmal viel", sagt Angelo Turi, der hierher 1985 zum Studieren kam. Mailand sei noch nie so schön gewesen. In 32 Jahren.

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SZ vom 17.06.2017
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