Report:Las Vegas hat sich verzockt

Earth Hour 2010 Recognized Around The World

Die leuchtenden Kasinos der Wüstenstadt.

(Foto: AFP)

Seit der Finanzkrise machen die Kasinos Verluste. Damit das Geld zurückkommt soll die Stadt einen Ruf loswerden: dass hier nur gezockt, gesoffen und gehurt wird.

Reportage von Jürgen Schmieder, Las Vegas

Frank Sinatra schlendert lässig durch das Sands in Las Vegas. Wer ihn sieht - und es ist unmöglich, ihn nicht zu sehen - der weiß sofort, warum er Ol' Blue Eyes und Sultan of Swoon genannt wird. Er bestellt an der Bar einen Drink, er zündet dem einsamen Herzchen im weißen Abendkleid eine Zigarette an, er wirft Silberdollar in Spielautomaten, dann sieht er die nächste Frau, die er mit den blauen Augen ohnmächtig werden lassen könnte. Eine Hand von Sinatra befindet sich in der Hosentasche, die andere am Rücken der bezaubernden Patrice Wymore. Er flüstert ihr ins Ohr, drückt einen Kuss auf ihre Wange und lässt seinen Zimmerschlüssel ins Dekolleté gleiten. Sie lächelt verlegen.

56 Jahre ist diese wunderbare Szene aus dem Film "Ocean's Eleven" nun her, noch immer stellt sich der Besucher einen Abend in Las Vegas genau so vor: Er zieht sich schick an und besucht eine Show, bei der jemand mit Dean-Martin-Stimme die Textzeile "My life is gonna be beautiful" singt. An der Bar gibt es Old Fashioned im Tumbler und Schönheiten im Abendkleid, in beide wird der Gewinn beim Blackjack investiert. Das Leben ist schön, und sehen wir in Anzug und Abendkleid nicht alle ein bisschen aus wie Sinatra und Wymore?

Las Vegas, Gegenwart. Das Sands heißt mittlerweile The Venetian, niemand sieht hier aus wie Sinatra oder Wymore, noch nicht einmal ein bisschen. Eher wie Bademeister oder Kreisliga-Fußballtrainer.

2007 war das letzte Jahr, in dem die Kasinos Gewinn erwirtschaftet haben

Zu hören ist nicht Dean Martin, sondern das Gedudel der Spielautomaten und das Klacken der Pokerchips. Wer einen Anzug trägt, der verschandelt ihn durch eine Messeteilnehmer-Krawatte. Drei junge Frauen im zu kleinen Bikini torkeln an den Spieltischen vorbei, sie kommen von einer Poolparty und werden sogleich von zwei Männern im Schlabber-Jogginganzug angesprochen: "Hey, was geht? Bock auf Party?" Die Frauen kichern nicht verlegen, sie brüllen: "Verdammt noch mal: Ja!" Man muss sich diese Apokalypse vorstellen wie eine Mischung aus Firmen-Weihnachtsfeier und Uni-Party.

Wer Sinatra noch live singen gehört hat, der schüttelt bei diesem Anblick erschüttert den Kopf. Las Vegas hat sich verändert in den vergangenen fünfzig Jahren, es hat sich verändert in den vergangenen zehn Jahren. Dieses unfassliche Gebilde in der Wüste von Nevada, dieser amerikanische Traum von Spektakel und Dekadenz, dieser Ort für Magier und Musiker und Showgirls und Stripper, er ist zum ökonomischen Albtraum geworden.

Wer wissen will, wie es den Vereinigten Staaten gerade geht, der muss den Puls von Las Vegas fühlen.

2007 war das letzte Jahr, in dem die Kasinos auf dem Strip Gewinn erwirtschaftet haben, insgesamt 709,4 Millionen Dollar. Das galt damals schon als kniffliges Jahr, weil der Profit ein Jahr zuvor noch bei 1,6 Milliarden Dollar gelegen hatte. Die einfache Regel zu dieser Zeit: Das Haus gewinnt immer. Die Gäste werden mit günstigen Zimmern, Gratis-Alkohol im Kasino und Freikarten für die Shows in eines der Hotels gelockt, das sie möglichst nicht verlassen und wo sie dann brav beim Glücksspiel verlieren.

Das Haus gewinnt nicht mehr. Es verliert.

Was in Vegas passiert, das bleibt in Vegas - und weil alles, was in Vegas passiert, mit Geld zu tun hat, bleibt auch das Geld in Vegas. Wie beim Investieren in Dotcom-Unternehmen oder scheinbar prächtige Immobilien sind die Amerikaner derart von ihrer eigenen Großartigkeit beseelt, dass sie nicht bemerken, wie sie da gewaltig abgezockt werden.

2008 folgt der Crash. Vielen Amerikanern fehlt aufgrund der Rezession das Geld für diesen dekadenten Kurztrip nach Vegas. Der Verlust auf dem Strip in jenem Jahr liegt bei 4,1 Milliarden Dollar. Noch immer sind die Zahlen verheerend: 2013 liegt das Minus bei 1,5 Milliarden Dollar, im Jahr danach bei 943,6 Millionen, zuletzt sind es 923,3 Millionen; auch in diesem Jahr soll der Verlust im dreistelligen Millionenbereich liegen. Natürlich begünstigen sämtliche Glücksspielvarianten - mit Ausnahme einiger weniger Video-Poker-Automaten - noch immer die Kasinos. Allerdings: Das Haus gewinnt nicht mehr. Es verliert.

Es kommen mehr Menschen - aber die zocken nicht

Laut der Las Vegas Convention and Visitors Authority haben im vergangenen Jahr lediglich 63 Prozent der Vegas-Besucher unter 40 Jahren auch gezockt. Diese Generation, die ständig Angst hat, etwas im Leben zu verpassen, will nicht stundenlang alleine vor einem Automaten sitzen und auf Knöpfe drücken in der Gewissheit, am Ende doch zu verlieren. Das ist absehbar und öde. Die Millennials laufen an den Automaten vorbei direkt zu den Poolpartys, bei erfolglosen Balzversuchen in die Stripklubs.

Welcher vernünftige Mensch, und das mag eine Lehre aus der Finanzkrise sein, zockt schon freiwillig, wenn er weiß, dass er am Ende doch verliert?

Der Umsatz mit Glücksspiel in den Casinos auf dem Las Vegas Strip ist im März gegenüber dem Vorjahresmonat um vier Prozent auf 487 Millionen Dollar zurückgegangen. "Es kommen immer mehr Menschen nach Las Vegas", sagt Mike Lawton vom Nevada Gaming Control Board, das für dieses Jahr einen Rekord von 42 Millionen Besuchern prognostiziert: "Der Gesamtumsatz auf dem Strip dürfte der höchste in der Geschichte dieser Stadt werden, doch das Glücksspiel hinkt hinterher. Deshalb verlieren wir Geld."

Don Puhto steht auf dem nördlichen Abschnitt des Strips, er zeigt auf den Schandfleck dieser Straße. Das Fontainebleau ist mit 224 Metern das höchste Gebäude der Stadt, es ist jedoch eine Ruine. Im Oktober 2007 hatten die Bauarbeiten begonnen, 20 Monate später wurden sie wegen Insolvenz des Betreibers eingestellt. Der Investor Carl Icahn sicherte sich das Objekt, seit fünf Monaten will er es für 650 Millionen Dollar verkaufen, die Fertigstellung dürfte noch einmal 1,2 Milliarden Dollar kosten. Gar nicht mal so viel für ein 3889-Zimmer-Hotel auf dem Strip mit 9300-Quadratmeter-Kasino, das 2010 eröffnete Cosmopolitan hat 3,9 Milliarden Dollar gekostet. Es gibt Interessenten für das Fontainebleau, aber noch keinen Käufer. Das Fontainebleau steht da wie eine Warnung, nur ja nicht aus blindem Optimismus zu investieren.

Nachts, wenn es funkelt, da sieht der Strip aus wie ein Freizeitpark

"Was für eine Schande", sagt Puhto. Er ist 73 Jahre alt, er lebt seit 58 Jahren in dieser Stadt. Er hat an den Schleichwegen zum Mandalay Bay gearbeitet, die Handtuchhalter in den Toiletten des Bellagio gebastelt und Teppiche im MGM Grand verlegt. Sachen, die keiner bemerkt, wenn er in Vegas ist. Puhto hat Sinatra singen gehört, Elvis Presley und Barbara Streisand. Marlene Dietrich hat er knapp verpasst. Britney Spears und Jennifer Lopez, die derzeit im Planet Hollywood auftreten, hat er sich bislang erspart.

Beim Spaziergang über den Strip deutet Puhto auf das SLS, das früher mal Sahara geheißen hat, seit der Wiedereröffnung im Jahr 2013 nur Verluste geschrieben hat. Er zeigt einem das Cosmopolitan, das mit finanziellen Problemen zu kämpfen hatte. Das Caesars Palace, dessen Betreiber Caesars Entertainment Operations Co. (CEOC) Gläubigerschutz beantragt hat und dieses Filetstück verkaufen will. "Das sind Mahnmale gegen den Größenwahn", sagt Puhto: "Die haben alle gedacht, dass sie hier ein Disneyland für Erwachsene bauen können." Nachts, wenn es funkelt, da sieht der Strip tatsächlich aus wie ein Freizeitpark, es gibt Nachbauten einer mittelalterlichen Burg, eines römischen Palastes, einer ägyptischen Pyramide - statt mit Mickey Mouse oder Donald Duck lässt man sich hier um Mitternacht mit leicht bekleideten Frauen vor den Fontänen am Bellagio ablichten. Im Hintergrund wird "Big Spender" von Shirley Bassey gespielt, diese wunderbare Hymne auf ein Mädchen, das dem reichen Typen möglichst viele Dollars für ein paar aufregende Stunden entlocken will.

Zurück im Venetian, Eingangsbereich. "Gucken Sie mal, Mr. und Mrs. Coleman checken ein", sagt Puhto und deutet auf ein Ehepaar. Die beiden heißen natürlich nicht Coleman, sie werden nur aufgrund der Kühlbox neben ihren Koffern so genannt: "Darin befinden sich Essen und Getränke fürs ganze Wochenende, damit sie nur ja nicht in ein Restaurant müssen." Herr und Frau Coleman sind gewiss keine Big Spender, sie sind Sparfüchse. Sie lassen diese Stadt tanzen, sie wollen ihr jedoch keine Dollarscheine ins Dekolleté stecken.

Wie kann Las Vegas wieder sexy werden

Wie so viele Sachen in den USA wird auch Las Vegas sehr klein, wenn man es aus der Nähe betrachtet. Beim schicken Old Fashioned mit prächtiger Eiskugel und Kirsche darin schmeckt man den billigen Whiskey raus. Die Bedienung sieht aus 20 Metern Entfernung aus wie die Enkelin von Patrice Wymore und direkt neben einem dann doch eher wie ihre Schwester. Das Paar, das an diesem Wochenende in Vegas mal so richtig die Sau rauslassen will, muss sich zuvor alleine im Hotelzimmer betrinken. Viel trauriger geht es nicht.

Wie kann Las Vegas wieder sexy werden? Was muss passieren, dass die Menschen diese Stadt wieder mit Geld bewerfen wollen? Auftritt David Beckham. Der ist ja während seiner Fußballerkarriere auch mehr Entertainer denn Sportler gewesen. Er sieht im Anzug tatsächlich ein bisschen aus wie Frank Sinatra, eine Hand befindet sich in der Hosentasche, die andere am Rücken von Sheldon Adelson. Dem amerikanischen Geschäftsmann gehört unter anderem das Venetian, vor allem aber hat er verstanden, dass diese Stadt die amerikanischste aller Geschichten hinlegen muss: Las Vegas liegt gerade gedemütigt am Boden, doch begreifen die Amerikaner diesen Moment nicht als jenen, in dem man das Scheitern eingesteht und einfach stirbt, sondern in dem man die Ärmel hochkrempelt, sich gefälligst neu erfindet und allen Widrigkeiten zum Trotz am Ende unter großem Tamtam obsiegt.

Make Vegas Great Again!

Die Parolen, die Donald Trump seinen Gefolgsleuten ins Gehirn trommelt, die werden hier längst umgesetzt. Adelson will für 1,4 Milliarden Dollar eine überdachte Arena bauen, einen 65 000-Zuschauer-Tempel für Spektakel. Die Raiders, der verrückteste Footballverein der Welt, sollen im kommenden Jahr aus Oakland hierherziehen, Besitzer Mark Davis hat bereits zugesichert, sich mit 500 Millionen Dollar beteiligen zu wollen. Dazu soll ein noch zu gründender Fußballverein seine Heimspiele in diesem Stadion austragen. "Es kann aber noch viel größer werden", sagt Beckham: "Wir könnten im Sommer Turniere mit großen europäischen Vereinen wie etwa Manchester United hier austragen." Dazu Kämpfe im Boxen und Mixed Martial Arts, auf die Besucher dann natürlich wetten können. Vielleicht sogar Autorennen, deren Zielgerade durchs Stadion führt.

Wer sich nicht verändert, der stirbt

Das ist der Plan der Verantwortlichen dieser Stadt: Sie wollen wegkommen vom Spitznamen Sin City und dem Ruf, dass hier nur gezockt, gesoffen und gehurt wird. Sie wollen schon lange den Beinamen Entertainment Capital of the World etablieren. Das klingt freilich langweiliger, es klingt aber auch nach Frank Sinatra und Elvis Presley und Marlene Dietrich - und nicht nach Typen in schmutzigen Schlabberhosen, die betrunkene Mädchen in Bikinis abschleppen. Bürgermeisterin Carolyn Goodman unterstützt derzeit jeden Plan für neue Spektakelstätten.

Im April wurde neben dem New York, New York so eine neue Arena eröffnet. Das erste Konzert von der Rockband Guns N' Roses nach 23 Jahren fand hier statt, im Juni wird die Miss USA gekürt, im Juli gibt es den Jubiläums-Kampfabend UFC 200. Dazwischen Auftritte von Billy Joel, Coldplay, Nicki Minaj. Ach ja: Von Herbst 2017 an soll hier ein neues Team der Eishockeyliga NHL seine Heimspiele austragen, die Verhandlungen dafür sind fortgeschritten.

Wo bislang eher Zauberer, Komiker und Künstler vergangener Tage gefeiert werden, sollen Sportvereine beheimatet, Wettkämpfe wie das Finale im Uni-Basketball ausgetragen und Konzerte aktuell erfolgreicher Musiker ausgetragen werden. In den Straßen zwischen den Hotels werden abgehalfterte Stripklubs gerade durch Geschäfte angesagter Designer ersetzt. Es muss etwas passieren in Vegas, damit das, was hier passiert, auch hier bleiben kann.

Wer sich nicht verändert, der stirbt hier einfach und wird ersetzt. Ohne Reue.

Für die Neonschilder der alten Hotels und Kasinos gibt einen eigenen Friedhof, das war's dann aber auch. Das Geschäftsmodell wird gerade komplett auf den Kopf gestellt: Die Hotels reduzieren ihre Annehmlichkeiten und Angebote, die Besucher müssen seit wenigen Wochen sogar fürs Parken bezahlen. Es gibt mittlerweile sogar das Gerücht, dass die Kasinos gar nichts dagegen haben, wenn die Besucher beim Glücksspiel gewinnen - die neuen Gewinngaranten sollen teurere Hotelzimmer, Eintrittskarten und Wetten auf Sportereignisse sein.

Überall wird investiert und gebaut

"Kasinos müssen zu Orten werden, an denen die Besucher zumindest eine reelle Chance haben, Geld zu gewinnen - und zwar über Geschicklichkeit", sagt Gregg Giuffria. Er ist der Chef der Firma G2 Game Design: "Sie wollen Rennen fahren, auf Zielscheiben schießen oder ein Videospiel bewältigen." Das Downtown Grand etwa baut gerade das erst 2013 eröffnete Kasino komplett um und will mit den neuartigen Geräten junge Menschen anlocken, die an den Automaten ihr Können unter Beweis stellen wollen. Eine Studie der Spielkommission von Nevada zeigt: Die Besucher, die sich an Automaten versuchen, an denen auch Geschick gefragt ist, wie etwa beim Blackjack oder Pokern, sind elf Jahre jünger als der Rest der Kunden.

Wer tagsüber auf dem Las Vegas Boulevard spaziert, der sieht, dass überall gebaut und renoviert wird. Der Strip ist wie eine bezaubernde Frau, die sich herausputzt für den Big Spender, der am Abend erwartet wird. Es ist die große Stärke dieser Stadt, sich stets so zu verändern, dass sie attraktiv bleibt für all jene, die sie besuchen.

Die Zeiten, in denen ein Typ seinen Zimmerschlüssel in das Dekolleté einer Frau gleiten lassen durfte, sie waren schon vor 56 Jahren vorbei - Patrice Wymore warf diesen Schlüssel schon damals in den Müll. In der Gegenwart tanzen die Fontänen vor dem Bellagio auch schon am Nachmittag. Die beiden Lieder, die nacheinander gespielt werden - und das kann unmöglich ein Zufall sein: die amerikanische Nationalhymne und dann "Viva Las Vegas".

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