Report:Land in Sicht

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Kohleausstieg, Stahlkrise: Der Strukturwandel hat Duisburg hart getroffen. Doch die Stadt lässt sich nicht unterkriegen.

Von Benedikt Müller, Duisburg

Auf diesem ehemaligen Bahngelände soll das Projekt „6-Seen-Wedau“ entstehen, eine ganz neue Siedlung mit Platz für etwa 10 000 Menschen. „Duisburg braucht Projekte wie dieses, um wirtschaftlich nach vorn zu kommen“, meint Bernd Wortmeyer, Chef der städtischen Wohnungsgesellschaft Gebag. (Foto: Benedikt Müller)

Die neue Hoffnung von Duisburg, sie verbirgt sich hinter Schrebergärten und einem Warnschild. "Unfallgefahr" steht darauf, "Bahnanlage". Im Süden der Ruhrpott-Stadt, wo nebenan die Güterzüge in Richtung Düsseldorf vorbeirauschen, schaufeln Bagger die letzten Überbleibsel des großen Rangierbahnhofs Wedau weg. Wo einst Waggons verschoben wurden, wuchert heute Grünzeug.

Für Bernd Wortmeyer ist die Brache hier das Größte. "Duisburg braucht Projekte wie dieses, um wirtschaftlich nach vorn zu kommen", schwärmt der Chef der städtischen Wohnungsgesellschaft Gebag. Sie hat das Gelände, so groß wie 120 Fußballfelder, von der Bahn gekauft und will dort eines der größten Wohngebiete schaffen, die in Deutschland derzeit geplant sind. Das Projekt "6-Seen-Wedau" soll Platz für etwa 10 000 Menschen schaffen. Erste Häuser könnten in gut zwei Jahren stehen.

Der Name spielt auf jene Baggerseen an, an die das Baugebiet grenzt. Sie waren Ende des 19. Jahrhunderts entstanden, als für den Bau des Rangierbahnhofs viel Kies benötigt wurde. Die Lage am Wasser soll nun auch Menschen von außerhalb nach Duisburg locken. "In und um Düsseldorf suchen Tausende Menschen Wohnraum", sagt Großvermieter Wortmeyer. Doch dort gingen die Flächen aus. Da sei es viel besser, eine solche Brache zu entwickeln, statt auf die grüne Wiese zu bauen.

Doch das Projekt ist umstritten. Was für die einen Ausdruck neuen Selbstbewusstseins ist, weckt in der alten Eisenbahnersiedlung Wedau Ängste. Manche der 5000 Bewohner dort sorgen sich um ihre "grüne Lunge", um die Badewiesen und Wanderwege, sollte sich ihr Stadtteil bald verdreifachen - mit hohen Gebäuden bis ans Ufer.

Ein Besuch in Duisburg zeigt eine Stadt auf der Suche. Ihren letzten großen Aufschwung hatte sie in den Hochzeiten von Kohle und Stahl erlebt. Doch das ist Geschichte. Die letzte Kohlezeche machte auf ihrem Gebiet 2008 dicht. Duisburg ist hoch verschuldet, die Arbeitslosenquote beträgt gut zehn Prozent, die Wirtschaftskraft pro Einwohner liegt unter dem Bundesschnitt. Die Stadt muss sich neu erfinden, sucht nach der richtigen Mischung aus alter Industrie und neuen Hoffnungsträgern - ein schwieriger Spagat.

Wer die jüngste Erfolgsgeschichte Duisburgs hören will, der muss über die Ruhr und den Hafenkanal fahren, zur Zentrale des Duisburger Hafens, genannt Duisport. Erich Staake ist seit 1998 Chef dieser Betreiberfirma. Nach seiner Karriere unter anderem beim Baukonzern Holzmann und dem Medienhaus Bertelsmann - Staake baute den TV-Sender RTL hierzulande mit auf - kam der Ruf nach Duisburg überraschend. "Das kann doch nicht euer ernst sein, dachte ich. Ihr werdet ja wohl noch irgendeinen Hafenmeister in Deutschland finden", erzählt der 66-Jährige. Aber die Jahrhundertaufgabe in Rheinhausen reizte ihn. In diesem Stadtteil kämpften Ende der Achtzigerjahre Tausende Krupp-Stahlwerker gegen den Niedergang ihres Standorts. Doch 1993 schloss ihre Hütte endgültig, weil es - gemessen an der Nachfrage - schon damals zu viele Stahlwerke auf der Welt gab. "Jahrelang lag dieses Gelände brach, niemand hatte eine Idee", so Staake. "Wir haben daraus eines der erfolgreichsten Logistikprojekte in ganz Europa gemacht."

Die Kohleinsel im Hafen wird bald abgerissen - Platz für ein neues Terminal für Züge nach China

Wo einst Unkraut wucherte und die alte Hütte verfiel, stehen heute Lagerhallen, die zusammen so groß sind wie 90 Fußballfelder. Rheinhausen ist einer von mittlerweile mehreren "Logports" in Duisburg und Umgebung: Auf diesen umgewidmeten Industrieflächen schlagen Logistikfirmen viele Container um, die per Schiff oder Bahn in Duisburg anlanden.

Staake sitzt mit seinem Bürohund Sammy im obersten Stock der Hafenmeisterei, der Blick fällt aus großen blauen Fenstern auf die Liegeplätze. "Als ich hier anfing, hingen etwa 20 000 Arbeitsplätze vom Hafen ab", sagt er. Heute seien es knapp 50 000 in Duisburg und Umgebung. "Stellen Sie sich mal vor, uns wäre das nicht gelungen", sagt Staake mit rauchiger Stimme. "Dann stände Duisburg heute wahrscheinlich schlechter da als jede Stadt in den neuen Bundesländern."

Freilich können viele der Löhne in den Speditionen nicht mit den hohen Tarifgehältern der Industrie mithalten; hier arbeitet vor allem angelerntes Personal. Und Staake weiß, dass mit Deutschlands Kohleausstieg weitere gut bezahlte Jobs in der Region wegfallen werden. Der Hafen verschifft schon seit Jahren keine Ruhrkohle mehr. Und je mehr Kraftwerke vom Netz gehen, desto weniger Importkohle landet noch in Duisburg an.

Daher wird Staakes Firma bald die Kohleinsel abreißen: ein Gelände, so groß wie 30 Fußballfelder, auf dem man Kohle lagern, brechen, sieben und verschiedene Sorten mischen kann. Stattdessen will der Hafen hier ein Container-Terminal bauen, das neben Schiffen und Lastwagen vor allem dem Bahnverkehr an der sogenannten neuen Seidenstraße dienen soll: einem Großprojekt der Volksrepublik China, mit dem künftig mehr Güter von und nach Europa, Afrika und Asien gelangen sollen.

Schon seit 2011 verbinden bis zu 40 Güterzüge jede Woche den Duisburger Hafen mit Zielen in China. Gen Osten werden vor allem Autoteile und Maschinen transportiert, zurück kommen vor allem Elektronik und Kleidung. Mit dem neuen Terminal will Duisport die Kapazität auf bis zu 100 Züge wöchentlich erhöhen. Die Investitionen von etwa 100 Millionen Euro für Kräne und Gleise, Liegeplätze und Lager teilt sich die Hafengesellschaft mit Logistikkonzernen aus China, der Schweiz und Holland.

Macht sich das finanziell so gebeutelte Duisburg damit zu abhängig von China? "Natürlich verfolgt China mit der Neuen Seidenstraße wirtschaftliche Interessen", sagt Staake. Er sieht da allerdings kaum Unterschiede zu den Einflusssphären, die sich die USA nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa aufgebaut haben.

Der Bürgermeister will, dass in Duisburg der " beste Stahl der Welt" produziert wird

Seit einigen Wochen allerdings transportiert die ganze Logistikbranche deutlich weniger, vor allem von und nach Asien. Die Folgen des neuartigen Coronavirus zeigen, welche Löcher stillstehende Bänder in China in weltweite Lieferketten reißen können. Experten gehen davon aus, dass die Epoche vorüber ist, in der Firmen immer mehr Teile ihrer Produktion in die Ferne auslagerten. Auch Duisport rechnet nun mit Einbußen bei Umsatz und Ertrag. Dennoch, sagt Staake, habe er seine Entscheidung für den Hafen nie bereut: "Wenn ich hier aufhöre, dann werde ich wissen, dass in einer schwierigen Zeit ein nachhaltiger Beitrag bleibt, der der Stadt und der Region eine Zukunftsperspektive gibt."

Und? Steckt unter diesem Schutzanzug ein Mann oder eine Frau? (Foto: Roland Weihrauch/dpa)

Freilich ist die Krupp-Brache in Rheinhausen nicht die einzige Ruine der Stahlindustrie in Duisburg. Nördlich der Ruhr, im Stadtteil Meiderich ist auf dem Gelände eines alten Thyssen-Werks der Landschaftspark Duisburg-Nord entstanden. Bäume und Sträucher ranken um den einstigen Hochofen 5, den der Konzern 1985 stillgelegt hat. Heute führen schmale Treppen und eingesäumte Wege die Besucher bis auf 70 Meter auf den alten Ofen herauf.

In eckigen Schächten, in denen früher das Erz gebunkert wurde, klettern heute Sportler des Alpenvereins. Im alten Gasometer steht das Wasser bis unter die Decke, Polizeitaucher trainieren dort. Und wo einst heißes Eisen aus den Öfen floss, kommen nun Abendschwärmer zum Open-Air-Kino zusammen. Abends erstrahlt die alte Hütte in bunten Farben. Touristisch ist der "Landi", wie ihn die Duisburger nennen, eine Erfolgsgeschichte: Mehr als eine Million Besucher zählt der Park jährlich.

Trotzdem sagen sie ein paar Kilometer weiter: "Keiner von uns sehnt sich nach einem zweiten Landschaftspark im Duisburger Süden." Denn Hüttenheim im Süden und Hamborn im Westen sind die Stadtteile, in denen noch heute viel Stahl gekocht wird. Mit gut 28 000 Beschäftigten in der Stahl-, Metall- und Elektroindustrie ist Duisburg noch immer der größte Stahlstandort Europas. Jeder sechste Arbeitsplatz in der Stadt hängt an der Branche.

Doch sie kämpft mal wieder: mit hohen US-Zöllen, der schwachen Konjunktur - und absehbar höheren Ausgaben für die vielen CO₂-Emissionen. In den Stahlwerken des mittlerweile fusionierten Thyssenkrupp-Konzerns im Ruhrgebiet sollen in den nächsten Jahren weitere 2000 Arbeitsplätze wegfallen. Einem Grobblechwerk in Hüttenheim droht das Aus, falls der Konzern bis Sommer keinen Käufer findet. Der wirtschaftliche Riese der Stadt, er wankt.

Umso kämpferischer gibt sich Sören Link, 43. Der Oberbürgermeister ist selbst in Hamborn geboren, sozusagen im Schatten der Hochöfen. "Ich möchte, dass in Duisburg auch in Zukunft der beste Stahl der Welt produziert wird", sagt der großgewachsene SPD-Politiker mit Hornbrille und Dreitagebart. Sein Büro liegt im alten Rathaus, gebaut um 1900, mit gekachelten Fliesen und einem Erdgeschoss voller neogotischer Spitzbögen. Ihn ermutigt, dass etwa Thyssenkrupp in Duisburg erstmals Wasserstoff statt Kohlenstaub in einen Hochofen einbläst, um CO₂-Emissionen zu verhindern. Duisburg solle der Ort sein, an dem eine klimafreundliche Stahlproduktion "zum Fliegen kommt", sagt Link. "Aber für die Hersteller muss der Weg dorthin machbar sein." Und da bleiben dem Bürgermeister nur Appelle an Berlin und Brüssel.

Doch kann die Logistikbranche auffangen, was in Stahlwerken und Kraftwerken wegzubrechen droht? Link gibt sich eher mahnend. "Wir dürfen nicht wieder den Fehler von damals machen, als man sagte: Kohle und Stahl reichen aus. Das war jahrzehntelang richtig. Aber als es dann falsch wurde, ist ein großer Bruch entstanden." Der Bürgermeister weiß, dass die vielen Lastwagen und deren Lärm schon heute viele Wähler stören. Daher versucht er Grenzen zu setzen: einzelne Logistikflächen könnten noch verdichtet werden, aber es sollen keine weiteren für Spediteure hinzukommen. Link will Duisburg breit aufstellen: "Dazu gehören für mich starke Industrien wie Stahl, sicherlich auch Logistik - aber eben auch Dienstleistungen, Medizin, die Universität", sagt Link. "Ich versuche, mit der Stadt herauszukommen aus dem Tal der Tränen."

Wo die Einwohner von Wedau heute grillen und baden, sollen bald siebenstöckige Häuser stehen

Er will nun Duisburgs Verwaltung digitalisieren: mit Parkgebühren, die man per App zahlen kann, mit Terminbuchungen im Internet und Bauanträgen, die komplett digital eingehen sollen. Auch dabei soll ein Partner aus China helfen: So hat die Stadt ihr neues Rechenzentrum mit Technik des Mobilfunkausrüsters Huawei aufgebaut. Vor allem die USA warnen davor, dass China dessen Technik zu Spionage- und Sabotagezwecken nutzen könnte; Huawei selbst weist das zurück. Link betont, es sei Aufgabe der EU und der Bundesregierung, diese Risiken zu bewerten. "Deren Einschätzung ist für uns bindend."

Und dann ist da noch das Projekt "6-Seen-Wedau" mit Mehrfamilienhäusern, Eigenheimen und Reihenhäusern. Etwas nördlich davon soll ein Technologiepark für Gewerbebetriebe und Start-ups entstehen, womöglich inklusive Hochschulcampus. "Wir brauchen beides", wirbt Link. Duisburgs wirtschaftliche Stärke und Finanzkraft würden sich mit dem Vorhaben verbessern, davon ist er überzeugt. "Das Projekt wird mit dazu beitragen, dass wir als Stadt ohne neue Schulden auskommen und investieren können."

Dass nur ein Zehntel der hier geplanten Einheiten Sozialwohnungen sein sollen, stört den SPD-Mann nicht. "Im Gegensatz zu anderen Städten hat Duisburg kein großes Problem mit bezahlbarem Wohnraum", sagt Link. "Es gibt bei uns bezahlbare Wohnungen nahezu in jedem Stadtteil."

Einige Anwohner aus Wedau stehen dem Projekt in ihrer Nachbarschaft indes skeptisch gegenüber. Die alte Siedlung entstand, als die Bahn von den 1930er-Jahren an Wohnraum für viele Arbeiter und Angestellten schuf. Heute steht die Gartenstadt unter Denkmalschutz. Doppelhäuser, blassgelb verputzt und mit dunkelgrünen Fensterläden, und viele Innenhöfe prägen das Bild. "Die Stadtoberen träumen offenbar davon, die ganze Stadt zu vermarkten", kritisiert Martin Knäpper. Der 61-Jährige trägt einen grauen Kapuzenpulli, auf dem ein Rettungsring mit dem Schriftzug "Rettet die Sechs-Seen-Platte" gedruckt ist.

Knäpper hat erlebt, wie aus den Baggerseen seit den Sechzigerjahren eine "grüne Lunge" wurde. "Die Sechs-Seen-Platte bietet seit Jahrzehnten eine Möglichkeit zur Naherholung", sagt Anja-Maria Widdra, eine Anwohnerin, "auch für Menschen ohne viel Geld." Doch wo heute große Steine den Parkplatz von der Liegewiese trennen, sollen bald die höchsten Häuser des ganzen Bauvorhabens entstehen: siebengeschossig, mit Seeblick. Und wo heute viele Besucher grillen und baden, auch wenn Letzteres offiziell verboten ist, soll künftig eine Brüstung die neue Promenade vom Ufer trennen. "Man will hier kaufkräftige Menschen anlocken, die sich in Düsseldorf vielleicht keinen Wohnraum mehr leisten können", sagt Widdra. Die Leute gingen dann in Düsseldorf arbeiten, "doch wie viel Kaufkraft werden sie wirklich hierlassen?"

„Die Stadtoberen träumen offenbar davon, die ganze Stadt zu vermarkten“, sagt Anwohner Martin Knäpper. Er sieht das Großprojekt „6-Seen-Wedau“ kritisch. (Foto: Benedikt Müller)

Gebag-Chef Bernd Wortmeyer weist die Bedenken zurück. "Ich wehre mich gegen den Vorwurf, dass hier nur für Düsseldorfer gebaut würde", sagt der Vermieter von etwa 35 000 Bewohnern städtischer Immobilien. "Wir wollen hier auch kein Stadtviertel nur für wohlhabende Menschen schaffen." Auch Wohngruppen könnten entstehen, Studentenwohnungen, seniorengerechte Häuser. Die Gebag will das Neubaugebiet, das sie für Dutzende Millionen Euro von der Bahn gekauft hat und nun aufbereiten lässt, in mehreren Tranchen an Bauträger verkaufen; die ersten Ausschreibungen sollen noch in diesem Jahr beginnen.

Ein Manko haben seine Pläne freilich wirklich: Weder die alte noch die neue Wedau haben einen Bahnhof oder eine Stadtbahnhaltestelle. Wer hierherzieht, wird sich allenfalls mit dem Bus, viel wahrscheinlicher aber mit dem Auto fortbewegen. "So kann man keinen neuen Stadtteil planen", schimpft Frührentner Knäpper. Auch er hat früher mal bei Thyssen gelernt, wie so viele in dieser Stadt. Und wenn Knäpper über deren Zukunft spricht, dann sorgt er sich vor allem aus einem Grund: "Duisburg ist zum Umschlagplatz für Güter aus aller Welt geworden", sagt er. "Aber hergestellt wird hier immer weniger."

© SZ vom 14.03.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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