Süddeutsche Zeitung

Report:Kratzen an der Lehmschicht

Thyssen-Krupp steckte vor sechs Jahren in einer tiefen Krise. Dann übernimmt Heinrich Hiesinger. Er kappt Seilschaften, reißt Menschen von Routinen los und ermutigt sie, Neues auszuprobieren. Wie weit ist er gekommen?

Von Varinia Bernau, Essen

Einen riesigen Berg Kissen hat die Truppe in der Ecke des Saals gestapelt. Doch als eine Frau darum bittet, ein paar davon zu bekommen, weil ihr Team bisher keines hat, rücken sie nichts raus. "Frag doch mal beim Vorstand", feixt einer. Heinrich Hiesinger, 56, gibt ihr dann zwei. Zuvor hat er jemanden dabei ertappt, wie er sich heimlich ein paar seiner Kissen nehmen wollte. Da ist er eingeschritten. "Wer fragt, der bekommt ein Kissen; wer klaut, wird weggejagt," sagt Hiesinger und zeigt eines dieser Lächeln, bei denen sein Mund stets ein schmaler Strich bleibt, aber sich viele Fältchen um seine Augen ziehen.

Das sind die Spielregeln. Nicht nur in den zweieinhalb Stunden, in denen nun 670 Führungskräfte in 41 Teams aus Europaletten und roten Bierkisten, Schaumstoff und blauen Teppichen einen Ort bauen, an dem sie in den nächsten zwei Tagen diskutieren sollen, ohne dabei Rückenschmerzen zu bekommen. Es sind auch die Regeln fürs restliche Jahr. Hiesinger hat sie ausgegeben, als er vor sechs Jahren als Konzernchef bei Thyssen-Krupp antrat. Seither sorgt er dafür, dass sie auch wirklich von allen befolgt werden.

Die Krise von Thyssen-Krupp hat gezeigt, was Manager anrichten, wenn nicht mehr unternehmerisches Denken sie treibt, sondern blinder Größenwahn.

Ein Einzelfall aber war dies nicht: Die Deutsche Bank, RWE oder VW waren von einer ähnlichen Hybris geprägt und stehen nun vor der Frage, wie man es schafft, Mitarbeitern jene Arroganz auszutreiben, die sie an den Rand des Abgrundes gebracht hat. Wie kappt man Seilschaften und baut echte Teams? Wie reißt man Menschen von Routinen los und ermutigt sie, Neues auszuprobieren?

Um Antworten auf diese Fragen zu finden, lohnt sich ein Blick auf das, was Hiesinger bei Thyssen-Krupp macht.

Die Kissenschlacht, die an diesem Nachmittag eines Sommertages in der Konzernzentrale, einem gläsernen Kubus in Essen, tobt, ist mehr als eine Lockerungsübung für verkrampfte Manager. Sie zeigt, wie weit Hiesinger gekommen ist. Die gute Nachricht ist, dass sich die Mannschaft begeistert an die Bauarbeiten macht. Die schlechte Nachricht: Nach 30 Minuten ertönt über Lautsprecher der dringende Appell, die Materialien miteinander zu teilen.

Korruptionsskandale, Milliardenverluste und kaum Aussicht auf Besserung: Das war die Situation, in der Gerhard Cromme, der damalige Aufsichtsratschef, Heinrich Hiesinger 2010 von Siemens zu Thyssen-Krupp holte. Es ist schwer genug, einen Konzern, der mit dem Stahl groß geworden ist, zu einem Technologiekonzern umzubauen. Hiesinger aber muss auch noch die Kultur ändern.

"In den ersten Tagen habe ich mich gewundert, warum niemand zu mir in den Aufzug stieg", hat er mal erzählt. Früher, so will es die Legende, zog der Werkschutz auch schon mal Kollegen aus dem Aufzug, wenn der Vorstandsvorsitze kam, damit dieser ungestört nach oben fahren konnte.

Unter Hiesinger wurde der Firmenjet abgeschafft und ein Vorstand für Compliance geschaffen. Es gibt inzwischen ein Netzwerk für Schwule, Lesben und Transsexuelle sowie eine Diversity-Managerin. Einige im Unternehmen halten das für Aktionismus - und verweisen darauf, dass manch ein Stahlarbeiter in Duisburg schimpfe, dass sein Sohn keine Lehrstelle bekomme, es aber Ausbildungsplätze für Flüchtlinge gebe.

"Die Leute fragen sich nun einmal: Was ist für mich drin?", sagt ein ranghoher Manager. "Und bei Thyssen-Krupp ist diese Denke besonders stark ausgeprägt."

75 Prozent der Mitarbeiter auf der obersten Ebene hat Hiesinger ausgetauscht. In den Vorstand hat er, nachdem er das Gremium verkleinert hatte, nur Manager von außen geholt. Darunter aber sind die meisten Manager, die schon im Konzern waren. Das ist wichtig. So hat Hiesinger signalisiert, dass er jedem eine Chance gibt.

Was nicht heißt, dass jeder diese Chance ergreift. Als Hiesinger zum ersten Mal seine Führungskräfte für einen Austausch zusammenholte, gab es keine einzige Wortmeldung. Man war es von ähnlichen Runden gewohnt, dass sich ein enger Zirkel aus Getreuen des Vorstands Fragen ausdachte und jemanden beauftragte, diese zu stellen. Einen Stichwortgeber, damit der Chef seine vorbereitete Antwort geben konnte. Der Vorstand führte damals also ein Selbstgespräch. Alle wussten, wie das läuft. Deshalb meldete sich keiner zu Wort, als Hiesinger, der Neue, den Dialog suchte. Keiner wollte sich blamieren.

Alle warteten ab.

"Es hat mich betroffen gemacht zu sehen, wie strenge Hierarchien Menschen kleinmachen", sagt Hiesinger. "Der Mensch zieht sich zurück, bringt nicht mehr seine Erfahrung ein, seine Kreativität, seine Ideen, sondern wird reduziert auf das Ausführen von Aufgaben." In Besprechungen hat er deshalb jene gelobt, die Probleme angesprochen haben. Und auf den Führungskräftetreffen konnte man zunächst Fragen anonym per SMS stellen, dann wurde Dosenbier gereicht. Jetzt also werkeln sie mit Holzpaletten.

"Einer Mannschaft, von der ich hohe Einsparungen will, kann ich nicht die Kekse streichen."

Thyssen-Krupp ist ein beliebter Arbeitgeber. Trotz allem. Gerade einmal ein Prozent der deutschen Belegschaft sucht sich selbst einen Job anderswo. Hiesinger konnte nicht einfach eine neue Mannschaft holen. Er musste die bestehende Mannschaft bearbeiten. "Bis dieser neue Geist überall ankommt, dauert es", sagt eine Führungskraft - und fügt hinzu: "Es kommt auch längst nicht alles, was in der Zentrale ausgegeben wird, genauso überall an."

Es gebe da diese Lehmschicht, durch die komme keiner durch. Hiesinger aber schichtet den Lehm dennoch unermüdlich ab. Und er sorgt dafür, dass immer mehr auch von unten am Lehm kratzen.

Deshalb sind die jährlichen Führungskräftetreffen so wichtig. Hier sagt er, was gut läuft - und was besser werden muss. Hier rückt er manches Gerücht wieder gerade. Und hier verrät er, wie man Leute anspornt. "Einer Mannschaft, von der ich fünf Millionen an Einsparungen haben will, kann ich nicht die Kekse streichen", ruft er den Managern im Saal zu.

"Das mag zwar hilfreich sein, um zu zeigen, mit dem Luxus ist es vorbei. Aber es nimmt den Menschen den Mut." Hier erinnert er an die Werte, die im Alltag in Vergessenheit geraten. Und hier sagt er, was er von Führungskräften erwartet: "Uns geht's auch manchmal schlecht, wir haben auch manchmal Zweifel. Aber das dürfen wir nicht ungefiltert ans Team geben." Das bedeute nicht, die Unwahrheit zu sagen, betont Hiesinger, sondern: Mut und Zuversicht auszustrahlen. "Nicht, dass wir alle Antworten haben. Aber wir müssen Lösungen finden."

Fachwissen, davon ist Hiesinger überzeugt, kann man jemandem beibringen, Persönlichkeit eher nicht. Empathie, Integrität, Überzeugungskraft, das bringe jemand mit - oder nicht. Hiesinger ist als ältestes von sechs Geschwistern auf einem Bauernhof im Württembergischen groß geworden. Das hat ihn geprägt: Er hat früh Verantwortung übernommen - und gelernt, dass eine Gruppe besser vorankommt, wenn derjenige, der diese führt, den anderen Dinge beibringt und sie dazu ermutigt, als wenn er alles selbst erledigt.

Oliver Burkhard, im Vorstand für Personal zuständig, beschreibt Hiesingers Führungsstil so: "Er sagt nicht, ich will es aber so, sondern er sagt, ich glaube, es ist besser, weil ..." So gebe er seinen Führungskräften die Möglichkeit, über die Sache nachzudenken. "Der Überzeugte ist besser als der Überrumpelte."

Aber Hiesinger kann auch hart sein, wenn Mitarbeiter in alte Routinen zurückfallen oder sich gar alte Gefälligkeiten wieder einschleichen.

Eine der größten Baustellen ist das Industriegeschäft: Bergbauminen und Zementfabriken gehören dazu, Kokereien und die Fertigung von Düngemitteln, aber auch der Bau von U-Booten und Autoteilen. Da haben viele nebeneinander her, manchmal sogar gegeneinander gearbeitet. "Es gab viele schöne Folien, aber faktisch ist nichts passiert", fasst Hiesinger die Lage im Industriegeschäft nun vor seinen Führungskräften zusammen.

Er will zeigen, dass man Probleme ansprechen muss, um sie zu lösen. Und vermeiden, einem Einzelnen die Schuld zuzuschieben. "Auch andere hätten die Hand heben können, auch ich muss mich fragen, warum ich nichts getan habe."

Hiesinger ist überzeugt davon, dass ein Chef nicht zu früh einschreiten sollte, wenn er das Gefühl hat, dass Erfolge zu lange auf sich warten lassen. "Wenn ich mich da wie ein Oberlehrer aufführe, dann sagt sich der Manager: Okay, dann mach's halt gleich allein." Es sei normal, dass jede noch so gute Maßnahme irgendwann ihre volle Wirkung entfaltet hat. Und es sei wichtig, dass dann Stress ausbreche, ein Team aber auch selbständig eine Lösung findet. Die nächste gute Maßnahme, mit der es wieder vorangehe. Diese Phase müsse man Führungskräfte durchstehen lassen. "Wer das geschafft hat, wird viel sicherer für die nächste Phase. Und er wird auch toleranter gegenüber seinen Mitarbeitern, weil er weiß, wie sich das anfühlt."

Jens Wegmann, der auch lange bei Siemens war, übernimmt schließlich die Führung über das Industriegeschäft. Er soll im Kleinen das machen, was Hiesinger im Großen macht: die Lage analysieren und neu sortieren. Immer so behutsam, dass die Mannschaft mitzieht. Immer so hartnäckig, dass das Geschäft weiter wächst. Doch Wegmann ist erst ein Jahr im Amt, als er im November für Schlagzeilen sorgt, die an die alten Zeiten erinnern: Von einem pakistanischen Geschäftspartner nimmt der Manager ein Goldarmband für seine Frau entgegen. Angeblich soll es 4800 Euro wert sein. Thyssen-Krupp leitet eine interne Untersuchung ein. Wegmann tritt zurück, noch ehe das Ergebnis feststeht.

"Ihr arbeitet mit großem Einsatz und es bleiben nur Verluste. Das kann es doch nicht sein."

Für manche ist der Fall ein Beleg dafür, dass Hiesinger den Kampf gegen Korruption gar nicht gewinnen kann. Wenn sich schon einer, den er von außen holt, bestechen lässt, so fragen sie, was machen erst die, die über Jahrzehnte gewohnt waren, dass solche Gefälligkeiten dazugehören? Hiesinger aber sagt, dass der Fall gezeigt habe, dass Thyssen-Krupp konsequent gegen Korruption vorgehe. "Die Mannschaft hat gesehen: Aha, Regeln gelten also doch für alle, unabhängig von Rang und Namen." Aber ausschließen könne man so etwas in einem Konzern mit 156 000 Mitarbeitern nicht. "Alles andere wäre naiv, möglicherweise sogar arrogant."

Wer etwas verändert, stößt auf Widerstand: Im Sommer lässt die Gewerkschaft 7000 Stahlarbeiter aus der ganzen Republik vor dem größten Werk im Norden von Duisburg aufmarschieren. Der Betriebsrat wirft Hiesinger vor, dass er dem Konzern die Seele raube, weil er offen sage, dass die Branche eine Konsolidierung brauche. Er lässt sich von dem rauen Ton nicht beirren. Das hat er noch nie getan: 2011 beschließt der Konzern, eine seiner Wurzeln zu kappen - und sich vom Edelstahl zu trennen. Auch damals gibt es Proteste. Bei der Betriebsversammlung in Krefeld, so erinnert sich Hiesinger, wurden Särge herumgetragen. Die Sicherheitsleute empfahlen ihm, durch den Hintereingang auf die Bühne zu gehen. Hiesinger aber ging durch die wütende Menge. "Seit zehn Jahren arbeitet ihr mit enorm großem Einsatz und jedes Jahr bleiben nur Verluste. Das kann es doch nicht sein", sagt er den Mitarbeitern. "Erwartet ihr nicht, dass ich als Vorstandsvorsitzender eine Lösung suche, die eine Zukunft verspricht, auch wenn diese Zukunft außerhalb von Thyssen-Krupp ist?"

"Der Konzern hat heute viele Seelen, und wir müssen für jede eine Zukunft finden."

Mit dem Stahlgeschäft ist es nun ähnlich: In Europa wird mehr Stahl gefertigt als benötigt, betont Hiesinger immer wieder. 20 bis 30 Millionen Tonnen jährlich. Es sei unmöglich, dieses Problem allein durch Einsparungen in den eigenen Werken zu lösen. Dass er laut über Fusionen nachdenkt, ist für ihn jene Ehrlichkeit, die er den Mitarbeitern versprochen hat. Und ein notwendiger Schritt, um ein anderes Versprechen einzulösen: aus Thyssen-Krupp einen Technologiekonzern zu machen. "Der Konzern hat heute viele Seelen, und wir müssen für jede einzelne eine gute, zukunftsfähige Lösung finden", sagt er.

Damals, erinnert sich Hiesinger, hätte er von der Mannschaft, die Bauteile für die Autoindustrie fertigt, nicht 50 Millionen Euro mehr Ergebnis fordern können. Dann hätte die aufs Edelstahlgeschäft verwiesen und gesagt: Wozu sollen wir uns anstrengen? Das verbrennen die doch in einem Monat. Den Traum von Thyssen-Krupp als Zulieferer wie Bosch oder Conti hatten auch Hiesingers Vorgänger. Und doch sondierten sie immer wieder einen Verkauf der Sparte, weshalb die Autohersteller ihre Verträge lieber mit anderen machten.

Hiesinger hat dieser Mannschaft wieder Selbstbewusstsein gegeben.

Und er hat sie mit den anderen verzahnt: In einem Forschungsprojekt arbeiten etwa hundert Ingenieure aus allen Bereichen zusammen. An besonders schnellen Aufzügen und besonders leichten Werkstoffen. Die Produkte stellt der Konzern nicht nur Kunden vor, sondern auch den eigenen Mitarbeitern. Das Signal: Da sind wir besser als unsere Konkurrenten - und zwar nur, weil wir zusammenarbeiten. Die Idee von einem Konzern, der auf vielen Füßen steht und deshalb unabhängig von den Schwankungen einzelner Geschäfte ist, verfängt inzwischen auch bei Analysten. Der Aktienkurs steigt - und auch das dürfte helfen, damit sich die Mitarbeiter als ein Unternehmen verstehen.

Auch beim Treffen der Führungskräfte geht es darum, zu zeigen, wie unterschiedlich man an ein Problem gehen kann: Es gibt die, die sich erst einmal untereinander vorstellen - und die, die sofort jemanden losschicken, Material zu besorgen. Die, die erst einen Plan aufmalen - und die, die gleich loslegen. Die, die sich in eine Ecke fläzen - und den, der sogar eine Grünpflanze aus einem Nebenraum heranschleppt. Es geht an diesem Nachmittag, an dem die Konzernzentrale wie ein Baumarkt wirkt, darum, dass man zusammenarbeitet.

Dass man mal um ein Kissen bittet. Und anderen auch mal ein Kissen abgibt.

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Quelle:
SZ vom 21.01.2017
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