Report:Kleine Wildnis

Zoos sind wieder sehr beliebt - die Besucherzahlen steigen stetig. Viele Tierparks wurden in den vergangenen Jahren komplett umgestaltet, sind zu Erlebniswelten geworden. Doch nutzt das auch dem Wohl der Tiere?

Von Marlene Thiele, Leipzig

Es ist 16 Uhr und bis zum Abend muss Michael Ernst noch Afrika, Asien und Südamerika versorgen. Ein weiteres Mal füllt er den blauen Plastikeimer mit rohem Fisch und tritt aus dem Dschungeldickicht hervor, begleitet von den Geräuschen exotischer Vögel und Insekten. Er trägt ein T-Shirt - im Gondwanaland ist es 25 Grad Celsius warm - auch wenn im Rest von Leipzig gerade ein kalter Wind weht. Michael Ernst ist Bereichsleiter der Riesentropenhalle, des Vorzeigeprojekts des Leipziger Zoos. Auf einer überdachten Fläche von der Größe zweier Fußballfelder mit rund 500 verschiedenen Bäumen und Pflanzen tummeln sich 140 exotische Tierarten, aufgeteilt in drei Areale entsprechend den drei Kontinenten.

Die brasilianischen Riesenotter, eine Art Wassermarder, erwarten ihren Tierpfleger schon. "Jeder Otter bekommt am Tag etwa zwei Kilo Fisch", erklärt der 46-Jährige und wirft den zwei Tieren die Fische zu - manchmal fast ins Maul, manchmal ganz weit weg, sodass die Otter hinterherspringen müssen. Lebendfütterungen sind laut Tierschutzgesetz bis auf sehr wenige Ausnahmen verboten, da muss das Jagderlebnis anders simuliert werden.

Einige Tierschützer wollen zoologische Gärten am liebsten ganz abschaffen

Etwa 90 Tierpfleger kümmern sich im Leipziger Zoo um das Wohl der Tiere, 16 davon sind für die Tropenhalle eingeteilt. "Tiere zu streicheln ist aber nicht unsere Hauptaufgabe", bemerkt Ernst in seiner trocken-neckischen Art. "Vor allem machen wir ziemlich viel Mist weg." Öfter hätten Eltern, die ihn beim Mistausfahren sahen, ihre Kinder ermahnt, sich in der Schule anzustrengen, weil sie sonst auch mal so eine Arbeit machen müssten. Darüber kann Ernst nur lachen. Tierpfleger war schon immer sein Traumjob - höchstens Buchhändler oder Schauspieler hätte er sich noch vorstellen können. Er liebe den Kontakt mit neugierigen Besuchern, sagt er und grinst. "Aber wenn mich die Menschen irgendwann nerven, dann habe ich immer noch die Tiere. Die nerven mich nie." Er wirft den Ottern die letzten zwei Fische zu und macht sich unter lautstarkem Geschrei der nimmersatten Tiere auf dem Weg zurück zum Personalbereich.

Er wirkt nicht wie einer, der irgendwann genug davon hat, seine Arbeit zu erklären. Das hat auch der MDR entdeckt: Der Sachse, der früher einen langen, braunem Pferdeschwanz hatte, ist inzwischen ein Fernsehstar. In der Zoo-Sendung "Elefant, Tiger und Co" wurde Ernst als Lama-flüsterer bekannt und verhalf dem schielenden Opossum Heidi zu internationalem Medienruhm. 2007, als der Zoo-Hype am größten war, schauten regelmäßig zweieinhalb Millionen Zuschauer zu, bei Einschaltquoten von bis zu 20 Prozent. Inzwischen gibt es mehr als 750 Folgen und gleich acht Tier-Doku-Soaps aus anderen Zoos.

Die kleine Wildnis nebenan ist bei Kindern und Erwachsenen wieder sehr beliebt - auch, weil die Zoos nicht mehr wie Tiergefängnisse wirken: Während Besucher früher durch Gitterstäbe in gekachelte Käfige schauten, gibt es heute Erlebniswelten mit natürlich gestalteten Barrieren. Das Gondwanaland zum Beispiel kann man über einen "Baumwipfelpfad" durchstreifen, Hängebrücken führen über einen Fluss, auf dem Bootsfahrten angeboten werden, im Dschungelrestaurant gibt es Dim Sum und thailändisches Tiger-Bier.

Nicht alle sind von dieser Entwicklung begeistert. Zum Beispiel Yvonne Würz. "Auch die neuen Anlagen im Leipziger Zoo können keine echte Landschaft ersetzen", sagt die Fachreferentin der Tierrechtsorganisation Peta. Trotz angeblich fortschrittlicher Tierhaltung bekomme Peta regelmäßig Videos von verhaltensgestörten Tieren aus verschiedenen Zoos in Deutschland. Würz sieht auch die Umbaumaßnahmen vieler Tierparks kritisch: "Das ist nur eine vorgetäuschte Naturkulisse. Die Zoos wollen möglichst viele Leute anlocken und ähneln dabei immer mehr Vergnügungsparks", sagt sie. Peta fordere deshalb, dass Zoos langfristig geschlossen werden. Aus Sicht der Organisation seien es noch immer "Tiergefängnisse", die rein kommerzielle Absichten verfolgten.

Jörg Junhold, Direktor des Leipziger Zoos, widerspricht: Es sei nicht das vorrangige Ziel des Zoos, Gewinne zu machen, sagt er. Gleichwohl müssten auch sie wirtschaftlich geführt werden, um nicht zu einer übermäßigen Belastung für die Kassen der Kommunen zu werden - natürlich immer unter Beachtung des Wohls der Tiere. Junhold, ein selbstbewusster Veterinärmediziner, weiß genau, wovon er spricht. Als er 1997 den Posten in Leipzig antrat, "war der Zoo baulich verschlissen und noch sehr traditionell aufgebaut", erzählt er. Die Besucherzahlen bröckelten. "Hier musste eine grundlegende Entscheidung fallen: Den Zoo entweder kleiner machen und Bereiche schließen oder durchstarten." Junhold entschied sich für Letzteres. Gemeinsam mit Fachleuten entwickelte er einen Masterplan für den "Zoo der Zukunft", nach dem der Tierpark in einem Zeitraum von 22 Jahren komplett umgestaltet werden sollte. Ein wichtiges Ziel dabei: Die Tiere sollten artgerechter gehalten werden.

Noch sind die Umbauten nicht komplett abgeschlossen, aber der Erfolg scheint Junhold schon jetzt recht zu geben: Bereits zum zweiten Mal wurde der Leipziger Zoo im europaweiten Ranking des britischen Zoo-Experten Anthony Sheridan als bester Tierpark Deutschlands ausgezeichnet. Und auch die Attraktivität ist deutlich gestiegen. Heute kommen 2,5-mal so viele Besucher wie noch vor zwanzig Jahren - und das, obwohl die Eintrittspreise von 3,60 Euro auf 21 Euro erhöht wurden.

Umbauprojekte verfolgen inzwischen die meisten Zoos. In Münchner Tierpark Hellabrunn etwa wurde nach dem Elefantenhaus auch die Polarwelt den Erkenntnissen der Tierhaltung angepasst. Neben Eisbären, Pinguinen und Robben sind nun auch Polarfüchse und Schneehasen hier untergebracht. In Halle wird der Bergzoo umgebaut. Und auch Münster hat einen Masterplan für die Umgestaltung des Allwetterzoos vorgestellt.

Der Trend heißt Geozoo. In Leipzig zum Beispiel wurde die zuvor übliche, systematische Einteilung - Raubtiere im Raubtierhaus, Vögel in der Voliere - durch eine Aufteilung nach Kontinenten abgelöst. Zwar gibt es noch ein Affenhaus und ein Aquarium, ansonsten gliedert sich der Zoo in die Themenbereiche Afrika, Asien und Südamerika, sowohl auf dem Gelände als auch in der Tropenhalle. Die Tiere werden, soweit möglich, in Gemeinschaftsanlagen gehalten, die nach dem Vorbild ihres natürlichen Lebensraums gestaltet sind. In der Leipziger "Kiwara-Savanne" leben Giraffen, Zebras, Strauße und Antilopen. Die Absperrungen wirken natürlich - Steinhaufen, Gräben, Wasserläufe.

Bei den Besuchern kommen diese Veränderungen gut an. Der Rentner Rudolf Voigt aus Halle etwa steht gerade auf einem Steg und beobachtet die Tiere mit einem Fernglas. Seit mehr als 50 Jahren besucht er den Zoo in Leipzig, seit seinem Ruhestand reist er sogar mehrmals in der Woche aus der Nachbarstadt an. "Durch den Umbau kann man die Tiere viel besser beobachten", sagt der 69-Jährige. "Das haben sie einwandfrei gemacht." Voigt erinnert sich noch gut an die Zoos von früher: winzige Affenkäfige mit Betonboden, Papageien, die an Stangen festgebunden waren. Die neuen Anlagen findet er sehr geglückt: "Das Gondwanaland ist das Beste, was es gibt. Viele Tiere können fast frei herumlaufen."

Der Zoo lässt sich all das einiges kosten: Investitionen von 200 Millionen Euro fließen insgesamt in die Umstrukturierung, hinzu kommen jedes Jahr weitere 30 Millionen Euro für den laufenden Betrieb. Allein Futter und Pflege eines Riesenotters kosten etwa 2500 Euro pro Jahr, für einen Elefanten sind 6000 Euro nötig. Im Zuge des Masterplans hat der Leipziger Zoo aber auch eine neue Unternehmensstruktur bekommen. Der ehemals städtische Regiebetrieb ist nun eine gemeinnützige GmbH, deren Gesellschafterin zu 100 Prozent die Stadt Leipzig ist. Die Stadt subventioniert den laufenden Betrieb mit drei Millionen Euro jährlich. Dieser Betrag ist unverändert geblieben, so viel zahlte die Stadt auch, als der laufende Betrieb nur fünf Millionen Euro jährlich kostete. Während der Zuschuss damals also mehr als die Hälfte der Kosten deckte, sind es inzwischen nur noch zehn Prozent. Der große Rest stammt aus Einnahmen wie Eintrittsgeldern, Pachterlöse für die Zoorestaurants, den Erträgen von Zooshops und Sonderveranstaltungen.

Die größere Unabhängigkeit vom städtischen Zuschuss hat Vorteile. "Der Zoo Leipzig kann inzwischen viel eigenständiger arbeiten als vor Beginn des Masterplans", sagt Jörg Junhold. Zugleich befördert das aber auch das Interesse der Zoos, die Einnahmen zu steigern - etwa durch Events. In Leipzig gibt es jedes Jahr rund 700 Veranstaltungen, die der Zoo für die Besucher allgemein oder für Privat- und Firmenkunden veranstaltet. Beim "Tropenleuchten" im Februar etwa wurde das Gondwanaland drei Wochen lang aufwendig beleuchtet, es gab Fruchtcocktails, Stelzenläufer und Lesungen bekannter Autoren. Gleichwohl wehrt Zoodirektor Junhold den Vorwurf ab, im Zoo stehe der Eventcharakter zu weit im Vordergrund: "Wenn etwas den Tieren schadet, machen wir es nicht."

Es ist ein schwieriger Balanceakt, dem Anspruch einer artgerechten Tierhaltung zu genügen und die Besucher zugleich bei Laune zu halten. In vielen Gehegen sind die Tiere nicht immer zu sehen, etwa, weil sie schlafen oder sich gerade irgendwo in der Wildnis verstecken. So sei eben die Natur, sagt Michael Ernst. "Die Besucher sollten einfach mal stehen bleiben und schauen." Auch das gehöre zum Bildungsauftrags eines Zoos, sagt der Tierpfleger und wechselt eine der Futterschalen, die in etwa anderthalb Metern Höhe an verschiedenen Stellen im Gondwanaland platziert sind - Snacks, zum Beispiel für vorbeifliegende Flughunde.

Report: Tierpfleger Michael Ernst ist ein Medienstar. Zoo-Sendung wie "Elefant, Tiger & Co." vom MDR locken viele Zuschauer vor die Bildschirme.

Tierpfleger Michael Ernst ist ein Medienstar. Zoo-Sendung wie "Elefant, Tiger & Co." vom MDR locken viele Zuschauer vor die Bildschirme.

(Foto: OH)

Im Gondwanaland können sich viele Tiere über große Flächen bewegen. Da gibt es eben auch viele Verstecke. Ernst deutet durch ein kleines Loch zwischen den Blättern auf einen langen Affenschwanz im Geäst. Unweit davon huscht ein Gecko über einen Baumstamm. Natürlich würden sich immer wieder Leute beschweren, dass sie keine Tiere sähen oder gerade nichts Spannendes passiere. "In Tierfilmen gibt es immer spektakuläre Jagdszenen. Man sieht nie Tiere, die schlafen oder sich verstecken." Aber die Natur sei eben kein Film.

An Schautafeln können sich die Besucher informieren, wie das - gerade nicht zu sehende - Tier aussieht, was es frisst und wo es herkommt. Und manchmal können sie dort auch lesen, welchen Bedrohungen die wild lebenden Verwandten der Zootiere ausgesetzt sind - das soll auch das Bewusstsein für den Tierschutz schärfen.

Yvonne Würz von der Tierrechtsorganisation Peta hält das alles für Augenwischerei. Den Menschen würde in den Zoos bloß vermittelt, dass es in Ordnung sei, Tiere einzusperren. Die natürlichen Lebensräume würden trotzdem weiter zerstört. "Man hat doch an dem kürzlich in Kenia gestorbenen Breitmaulnashorn gesehen, dass all diese Bemühungen zu nichts führen." Der hochbetagte Bulle, der in einem Reservat in Kenia lebte, war der letzte männliche Vertreter seiner Art.

Die Natur- und Umweltschutzorganisation WWF hingegen unterstützt die Anstrengungen der Zoos im Bereich Artenschutz, Bildung und Forschung. "International anerkannte Zuchtprogramme in Zoos können einen wichtigen Beitrag zum Artenschutz leisten", meint Arnulf Köhncke, Programm-Manager Artenschutz beim WWF Deutschland. "Zusätzlich kann die Forschung der Zoos dazu beitragen, Verhalten, Biologie oder Krankheiten der bedrohten Arten besser zu verstehen."

Nicht alle Tierparks betreiben Forschung, die meisten großen Betriebe jedoch schon. Sie kooperieren über Ländergrenzen hinweg. In internationalen Zuchtbüchern ist jedes Tier mit der jeweiligen Abstammung dokumentiert, sodass nicht versehentlich nahe Verwandte verpaart werden oder ein Sumatra-Tiger mit einem Bengal-Tiger gekreuzt wird. Die Zoos stimmen sich ab, wenn Nachwuchs einer neuen Gruppe zugeführt werden soll oder irgendwo Bedarf besteht. Die Übergabe eines Tieres erfolgt unentgeltlich - es ist lediglich Abmachung, dass stets der Empfängerzoo für Transport und medizinische Betreuung aufkommt. So ein Transport kann jedoch bis zu 10 000 Euro kosten.

"Anoas sollen gerade nicht gezüchtet werden", sagt Michael Ernst und deutet auf ein kleines, dunkelbraunes Rind, das aus Indonesien stammt. "Wenn es so weit ist, darf der hier wieder zurück." Der junge Bulle wurde vorübergehend von der Herde getrennt und in das Gehege außerhalb des Besucherbereichs gebracht. Auch andere Tiere befinden sich hier, etwa weil sie gerade aus anderen Zoos hierher gebracht wurden und erst beobachtet werden müssen. Eine Gruppe Laufvögel guckt neugierig aus einem Stall, in einem anderen Gehege verharren zwei Echsen bewegungslos. Die Krokodiltejus sollen in den Südamerika-Bereich umziehen, der am 17. Mai eröffnen wird. Ernst versorgt sie mit frischen Schnecken und kehrt zurück in Richtung Küche.

Viele Einrichtungen kooperieren und forschen nebenbei

Hier treffen sich die Tierpfleger jeden Morgen, besprechen den Tag und bereiten das Futter für die Tiere vor. "Wir machen gleich zwei Portionen fertig. Eine wird verteilt und die andere geht in die Kühlung für den Nachmittag", sagt Ernst. Er nimmt die letzte Schale mit Früchten aus dem Regal, stellt sie auf die breite Ablage eines alten gelben Postfahrrads und begibt sich auf den langen Gang, der rings ums Gondwanaland herumführt. Immer wieder muss eine Tür abgeschlossen werden und in regelmäßigen Abständen klingelt sein Telefon, wenn sich die anderen Tierpfleger in den Feierabend verabschieden.

Auch Michael Ernst hat seine Runde fast beendet. Die Kronenmakis, eine Primatenart, bekommen noch ihr Abendessen. Wie die anderen Tiere haben sie ihren Stall außerhalb des Besucherbereichs, können aber nachts ins Gondwanaland zurückkehren. Bei der Fütterung zählt Ernst die Tiere und überprüft, ob sie alle gesund sind. "Wo ist denn dein Mädel? Ich hätte gern zwei von eurer Sorte. Ah, da seh' ich eine Nase!" Der Tierpfleger kennt alle seine Schützlinge mit Namen und spricht oft mit ihnen. Jetzt, nach Zooschluss, gibt es Regen im Gondwanaland. Die Luft ist feucht und warm, oben am Hallendach kreist ein Schwarm Muskattauben. Michael Ernst löscht das Dämmerlicht im "Vulkanstollen" und tritt ins Freie.

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