Report:In Übergröße

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Nach 40 Minuten Verhandlung holte Siemens-Chef Kaeser den gewaltigsten Auftrag der Konzerngeschichte: Jetzt bringt das Unternehmen die ägyptische Energieversorgung auf Vordermann.

Von Christoph Giesen und Paul-Anton Krüger

Die Sonne brennt auf die Wüste zwischen Kairo und Ain Sokhna am Roten Meer. Das Autothermometer zeigt 43 Grad, die Luft flimmert. Am Horizont verschwimmen die Straße, der Sand und der Himmel. Es sind diese Sommertage, die in Ägypten ohne Klimaanlage kaum auszuhalten sind. Es sind jene Tage, an denen das Elektrizitätsnetz des Landes mit seinen 92 Millionen Einwohnern immer am Rande des Zusammenbruchs steht. In manchen Regionen außerhalb von Kairo fällt dann über Stunden der Strom aus. Noch.

Neben der Straße tauchen Kräne auf, mehr als 30 sind es, später im Jahr sollen es über 70 sein. Eine Mauer, 1300 Meter lang, dahinter blaue Stahlträger, die in den Himmel ragen, Gerippe, aus denen einmal Leichtbauhallen werden. Eine ist schon fertigt, verkleidet mit hell- und dunkelblauen Profilblechen. Hier soll künftig der Strombedarf von 15 Millionen Menschen gedeckt werden: das größte Gaskraftwerk der Welt, gebaut von Siemens. Vier Blöcke mit je zwei Gasturbinen und einer Dampfturbine. Und das hier ist nur eine von drei weitgehend baugleichen Anlagen, die der deutsche Konzern parallel in Ägypten errichtet. Siemens Megaproject haben sie es genannt und der Name ist nicht übertrieben. Es ist ein Vorhaben, das ein ganzes Land verändert.

Was die Deutschen da bauen, erzeugt so viel Strom wie zwölf Atomkraftwerke

Jedes der drei Kraftwerke wird einmal etwa so viel Strom erzeugen wie vier Atomkraftwerke in Deutschland: Wenn alles fertig ist, sind es rund 4,8 Gigawatt pro Standort - damit steigert Ägypten bis Ende 2018 seine Stromproduktion um 50 Prozent. Das ist dringend nötig, denn auch der Bedarf wird steigen, um geschätzt 4,4 Prozent pro Jahr - die Bevölkerungsprognosen sehen Ägypten im Jahr 2030 bei 140 Millionen Einwohnern. Der Strommangel ist schon jetzt eines der größten Hindernisse für die Entwicklung des Landes.

Vor einem Jahr war hier nur Wüste, dann übernahm Siemens das Gelände vom ägyptischen Militär, das auf staatlicher Seite der wichtigste Partner ist. Ende 2016 soll am Standort New Capital die erste Gasturbine ans Netz gehen, zudem sollen es sechs weitere in Beni Suef sein, 200 Kilometer südlich von Kairo im Niltal gelegen, und vier am Standort Burullus, auf einer schmalen Landzunge, die den gleichnamigen Brackwasser-See vom Mittelmeer trennt.

Verantwortlich dafür, diesen äußerst knappen Zeitplan einzuhalten, ist Peter Ullrich, Projektleiter für alle drei Kraftwerke. Mit Warnweste, weißem Helm und Schutzbrille steht der 62-Jährige vor Modul 4 des Kraftwerks New Capital. Am Rande des Geländes wächst, noch abgehängt mit Plastikplanen, ein Tank in die Höhe. "Das wird die Wasseraufbereitung", sagt Ullrich. Wenn die Gasturbinen erst einmal laufen, wird die zweite Stufe gebaut: Hinzu kommen Dampfturbinen, die die Abwärme aus den Gasturbinen verwerten. Combined Cycle nennen das die Ingenieure.

Große Teile, aufwendiger Transport: Im Werk Berlin bauen Siemens-Mitarbeiter die Gasturbinen... (Foto: Jens Göhrlich/Siemens AG)

Die mehr als 500 Grad Celsius heißen Abgase sollen dann Wasser erhitzen, und der entstehende Dampf wiederum Turbinenschaufeln antreiben. Zusammengeschaltet erreicht das Kraftwerk mit drei Generatoren dann einen Wirkungsgrad von über 60 Prozent. In Deutschland werden solche Kraftwerke kaum gebaut, weil im Zusammenspiel mit erneuerbaren Energieträgern eher kleine, flexibel einsetzbare Einheiten gebraucht werden: Scheint die Sonne nicht und gibt es wenig Wind, müssen in Deutschland Gaskraftwerke einspringen. In Ägypten aber ist vor allem Grundlast-Versorgung per Gas gefragt. Zudem hat der italienische Energiekonzern Eni vor einem Jahr 190 Kilometer vor der Küste das Zohr-Gasfeld entdeckt, das größte im Mittelmeer. Es könnte das nordafrikanische Land unabhängig von Gasimporten machen.

Siemens-Mann Ullrich tritt in die Halle, 30 Meter hoch ist sie. Dort sitzt wie ein riesiges graues Düsentriebwerk die Gasturbine auf ihrem betonierten Sockel, zwölfeinhalb Meter lang, fünfeinhalb Meter Durchmesser. Ab der Stelle, wo einmal die Brenner angeschlossen werden, sind die Öffnungen noch mit Folie abgeklebt; neben dem 450-Tonnen-Koloss sind Gerüste aufgebaut, Arbeiter wuseln herum. Imposant - Ullrich bleibt indes ganz Techniker: "Schon ein toller Anblick, wenn Sie die Turbine mal offen sehen, die Läufer mit der Beschaufelung." Diese Metallblätter an der Welle, die einen unwillkürlich an eine schöngewachsene Weihnachtstanne erinnern, sind das Herzstück einer jeden Gasturbine. Was nicht besonders teuer aussieht, kostet ein Vermögen. Jede einzelne Schaufel hat den Gegenwert eines Kleinwagens. Und regelmäßig müssen sie gewechselt werden.

Mit keiner Sparte verdient Siemens so viel Geld wie mit der Wartung von Gasturbinen. Das Geschäft funktioniert ein wenig wie bei Nassrasierern oder elektrischen Zahnbürsten: Die Geräte selbst sind relativ preiswert, dafür zahlt man im Laufe der Jahre für Klingen und Bürstenköpfe kräftig drauf. Bei einer Gasturbine sind es die langlaufenden Serviceverträge, die das Geld bringen. Die Faustregel lautet: Verkauft man eine Turbine für 35 Millionen Euro, nimmt man in den folgenden zehn Jahren weitere 35 Millionen Euro an Gewinn durch die Wartung ein. Vor allem der regelmäßige Austausch der abgenutzten Schaufelsätze bringt Geld. In Saudi-Arabien, wo viele Turbinen noch mit Rohöl befeuert werden, sind die Schaufeln sogar jährlich zu wechseln. Dann sind 30, wenn nicht gar 40 Prozent Rendite drin.

So viel wird Siemens am Ägypten-Deal mit Sicherheit nicht verdienen. Die Verhandlungen im Frühjahr 2015 waren knallhart. 40 Minuten und nicht mehr ließ Ägyptens Präsident Abdel Fattah al-Sisi Siemens-Chef Joe Kaeser. Vor der Tür wartete bereits eine Delegation vom Erzrivalen General Electric. Kaeser gewann. Das Ergebnis ist der größte Auftrag in der Geschichte von Siemens, sechs Milliarden Euro kosten allein die drei Kraftwerke, weitere 2,4 Milliarden sind für bis zu zwölf Windparks vorgesehen, die Teil des Megaprojekts sind.

Wenige Wochen später trug man Peter Ullrich, dem Siemens-Mann in der Wüste, das Management des Projekts an. "Ich hab kurz überlegt, ob ich mir das noch antun soll", sagt er, in drei Jahren geht er schließlich in Rente. Doch nein sagen konnte er kaum. Seit 34 Jahren ist er bei Siemens, angefangen hat er bei der KWU, einem Gemeinschaftsunternehmen von Siemens und AEG, die Kernkraftwerke baute. Er ist einer, der für den Laden lebt. Seine Frau sagte: "Du willst es doch machen!" Jetzt ist er hier, um seine Karriere mit der größten Herausforderung abzuschließen, die für Siemens enorm wichtig ist. Die Werke in Berlin und Mülheim sind durch den Auftrag für zwei Jahre ausgelastet. Und Siemens kann endlich zeigen, dass große Gasturbinen ein Erfolgsprodukt sind. Die Energiesparte des Konzerns steckte zuletzt in der Krise: Die Energiewende in Deutschland und der niedrige Ölpreis - darauf hatte Siemens lange Zeit keine Antwort.

. . . die dann per Binnenschiff über die Spree und Rhein nach Rotterdam gebracht werden... (Foto: Carsten Behler/Siemens AG)

Ein Projekt dieser Größenordnung würde in Europa sicherlich mit einem Planungsvorlauf von zwei bis drei Jahren starten, doch weil es eilt, wurde in Ägypten gleich begonnen - und dann noch parallel. Der Start in Deutschland verlief dagegen holprig. Wenige Tage nachdem Siemens-Chef Kaeser und der ägyptische Wirtschaftsminister im Juni 2015 die Verträge unterzeichnet hatten, rief die IG Metall zu einem Aktionstag auf. Der Grund: Vier Wochen zuvor hatte Kaeser angekündigt, 4500 Stellen abzubauen, 2200 davon in Deutschland. Die meisten der deutschen Arbeitsplätze sollten im Energiebereich gestrichen werden. Großauftrag und Stellenabbau, das passte nicht zusammen. Der Bau der Turbinen begann dann doch pünktlich - Management und Betriebsrat einigten sich. Währenddessen wurden in Ägypten die Standorte auf ihre Eignung untersucht - nicht ohne Überraschungen.

In Burullus erwies sich der Untergrund als sumpfig; 12 000 Pfähle mit je einem Meter Durchmesser und 40 Metern Länge mussten ins Erdreich getrieben werden, damit das Kraftwerk stabil steht. In Beni Suef musste das Gelände terrassiert werden, der Höhenunterschied beträgt 40 Meter. Am Standort New Capital stelle sich heraus, dass die Armee das ursprünglich anvisierte Grundstück früher als Trainingsgelände genutzt hatte; dort sind noch Blindgänger und Munitionsreste verborgen. Die Räumung hätte viel Zeit in Anspruch genommen, also wurde der Standort einfach auf die andere Seite der Straße verlegt.

Die Technik begeistert: Ägyptische Medien feiern das Jubiläum des Werks

Liegen die anderen beiden Standorte am Mittelmeer und am Nil, die über Kühltürme den Betrieb der Dampfturbinen ermöglichen, fand sich in der Wüste am Standort New Capital auch bei Bohrungen bis in 180 Meter Tiefe kein Wasser. Hier müssen riesige Kondensat-Kühler gebaut werden, bei denen 32 Ventilatoren Luft durch ein Geflecht von Kühlschlangen pressen; allein sie werden so groß, wie andernorts ein ganzes Kraftwerk, 100 mal 100 Meter Grundfläche, 60 Meter hoch. Die Stahlträger, in die später die Technik eingehängt wird, sind schon fertig.

Die Ägypter sind von all dem begeistert. Zur Verschiffung der ersten Turbine im März dieses Jahres war der ägyptische Botschafter am Siemenswerk in Berlin erschienen. Als einen Monat später ein Jubiläum anstand, die Fertigstellung der 1000. Gasturbine, reisten Dutzende Journalisten aus Ägypten an. Ende April 1976 war in Berlin die erste große Gasturbine des Konzerns gebaut worden. Zu diesem Festtag ruhte in der Endmontagehalle die Arbeit. Zwei Geigerinnen spielten " Yesterday" von den Beatles. Die Jubiläumsturbine thronte auf einem Lastwagen mit zwölf Achsen. Ein F-Klasse-Teil, nicht ganz so leistungsstark wie die Maschinen in Ägypten; aber auch diese Turbine wird bald in der Region Strom erzeugen, in Katar.

Bis vor einigen Jahren konnten die Turbinen immer nur nachts das Berliner Werk verlassen. Straßen wurden dann gesperrt, Ampeln und Verkehrsschilder abgeschraubt, damit der Konvoi durchkam. Mittlerweile hat Siemens ganz in der Nähe des Werks einen eigenen Hafenanleger betonieren lassen.

In der ägyptischen Wüste musste Siemens ebenfalls erst einmal die Infrastruktur ausbauen. Die Logistik sei neben dem engen Zeitplan die größte Herausforderung, sagt Projektleiter Ullrich. 1,2 Millionen Tonnen Fracht bringt Siemens ins Land, und jedes Teil muss zum geplanten Zeitpunkt zur Stelle sein. Wenn nicht, verzögert sich das gesamte Projekt, und Verspätungen sind kaum aufzuholen.

...und dort gut verpackt auf einem Schwerlast-Frachter nach Ägypten reisen. (Foto: Carsten Behler/Siemens AG)

Hier sind Laster mit 20 Achsen nötig um ans Ziel zu kommen, die größten Trucks, die je in Ägypten gefahren sind. Auf dem Kraftwerksgelände gibt es einen Kran, der bis zu 600 Tonnen heben kann. Dazu werden 960 000 Tonnen Beton und 48 000 Tonnen Stahl verbaut. Am Kraftwerk Burullus hat Siemens wiederum eigens einen kleinen Fischereihafen auf 5,8 Meter vertieft, die Mole um 150 Meter verlängert und für schwere Lasten tauglich gemacht.

Die Bedienung wird knifflig: Nur 90 Tage darf die Schulung dauern

Die Baustellen selbst sind ein Kaleidoskop der Bauabschnitte: Während noch das Fundament von Block 1 betoniert wird, installieren sie in Block 4 bereits die Turbine und die riesige Klappe, die einmal den Abgasstrahl in den Kamin lenkt. Vor dem Gebäude stehen wiederum schon weiße 40-Fuß-Container; darin die vorgefertigten Steuereinheiten, die aus Deutschland angeliefert werden. Von hier aus lässt sich das Kraftwerk autonom fahren, später werden dann alle vier Blöcke in einer zentralen Leitwarte zusammengeschaltet, auch dieses Gebäude steht schon. Die Kabelkanäle im Boden liegen noch offen, die Bildschirme und Möbel werden in den nächsten Wochen hergebracht. Wenn das Kraftwerk einmal fertig ist, werden insgesamt 4000 Kilometer Kabel verlegt sein. Zu Spitzenzeiten werden auf allen drei Baustellen insgesamt 22 000 Menschen beschäftigt sein, Flutlichttürme wie im Stadion spenden Licht, es wird rund um die Uhr an diesem ägyptischen Megaprojekt gearbeitet.

Und zwar nicht nur auf der Baustelle oder in den Werken: "Es ist fürchterlich, wenn technische Artikel in der Zeitung erscheinen und dann voller Fehler sind", sagt Michael Wegen und beginnt gleich damit, auf einer Metalltafel zu zeichnen. Er malt Gasturbinen und Dampfturbinen und fügt kleine Pfeile hinzu. Nur wer die Theorie verstanden hat, darf bei ihm an die echten Turbinen. Wegen leitet das Gas-Turbinen-Trainingscenter in Berlin, in einer Halle weit draußen in Siemensstadt, alle seine Kursteilnehmer bekommen beim ersten Mal diese Zeichnung erklärt. In den kommenden zwei Jahren werden es vor allem Ingenieure und Arbeiter aus Ägypten sein.

Auf dem Tisch im Schulungsraum stehen zwölf Schilder mit arabischen Namen, es ist bereits die zweite Gruppe aus Ägypten. Alles junge Männer, die meisten von ihnen kommen direkt von der Universität, sie alle wurden vor wenigen Wochen neu eingestellt, in einem Gaskraftwerk hat niemand von ihnen vorher gearbeitet. 90 Tage, so lange gelten die Visa, haben Wegen und seine Trainer Zeit ihnen beizubringen, wie man ein Gaskraftwerk wartet.

Vor allem die Standards werden eingeübt. "Wenn man zum Beispiel beim Ölfilterwechsel einen Fehler macht, sind schnell 1000 Megawatt vom Netz", sagt Wegen. Trainiert wird in der Halle an drei Gasturbinen, die früher einmal im Feld standen. Siemens hat sie für kleines Geld zurückgekauft. "Jedes Einzelteil können wir natürlich nicht erklären. Dafür ist die Zeit zu knapp. Wir zeigen den Leuten aber, wo welcher Schritt dokumentiert ist, sodass sie sich schlau machen können", sagt Wegen. Und im Notfall? Da können sich die neuen Kraftwerker jederzeit melden. "Wir haben zehn Trainer und insgesamt 280 Jahre Erfahrung. Jeder von uns hat draußen gearbeitet." Sie haben viel gesehen, aber die Dimensionen in der Wüste sind selbst für die Siemens-Veteranen gewaltig.

© SZ vom 17.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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