Süddeutsche Zeitung

Silicon Valley:Highway zum Internet

Wie Google, Apple und Co. alles verändert haben: Eine Rückkehr nach fast 25 Jahren an den El Camino Real, wo es nach der Aufbruchstimmung auch Rückschläge gegeben hat.

Von Michael Kuntz

So also sieht er heute noch aus, der Highway zum Internet. Fast wie früher. Drei Fahrspuren in jede Richtung, Bäume auf den reichlichen Parkplätzen an den Straßenrändern, viel Grün auch auf dem Mittelstreifen. Man muss nicht weit fahren hier in Sunnyvale auf dem El Camino Real, und sie tauchen auf, die vertrauten Schilder jener Marken, die so typisch sind für dieses Land: McDonald's und Burger King, Chevron und Motel 6, Citibank und Western Union, Ford und Tesla. Der El Camino Real ist ursprünglich der 970 Kilometer lange königliche Weg, der die mehr als 20 spanischen Missionsstationen an der Küste von Kalifornien miteinander verband. Im Süden von San Francisco durchquert der El Camino Real das Silicon Valley wie eine Aorta den menschlichen Körper.

Die erste Reise dorthin war Anfang 1994 und sie löste das Gefühl aus, es stehe etwas Großes bevor. Ein Datennetz sollte Bürger, Universitäten und Behörden miteinander vernetzen - damals waren testweise nur ein paar kalifornische Kindergärten miteinander verdrahtet. Es dauerte noch wenige Jahre und dann gelang das ja auch: Das Internet veränderte die ganze Welt und besonders natürlich die Gegend zwischen San Francisco und San José. Wo Libby einst im Farmland die weltweit größte Fabrik für Dörrpflaumen betrieb, breiteten sich nun die Gewerbeparks von Microsoft, Apple, Google aus, und diese Unternehmen gestalteten das Wirtschaftsleben neu. Zeit also, um nach fast 25 Jahren noch einmal am El Camino Real zwischen Mountain View und San José nachzuschauen, was aus dem Epizentrum des globalen Netzwerks geworden ist.

Damals gab es bereits das Ames-Forschungscenter der Nasa mit dem größten Windkanal der Welt. Dessen Besichtigung begann 1994 mit der wiederholten Frage, ob denn auch wirklich alle Besucher amerikanische Staatsbürger seien. Vorsichtshalber blieb es bei einem doppelten "Yes" und eine weitere Konversation wurde vermieden, um nicht unnötig durch einen ausländischen Akzent aufzufallen. So etwas prägt die Erinnerung an ein Land, das damals bereits voller Merkwürdigkeiten steckte. Sehr groß, sehr merkwürdig. Wo man das Nasa-Gelände unbehelligt betreten konnte, beim Hinausfahren aber scharf kontrolliert wurde.

Neben dem Windkanal, der dann neun Jahre später stillgelegt wurde, forschte bei der Nasa damals ein Freund aus Deutschland an einem stressfreundlichen Bildschirm-Display für Piloten von Hubschraubern im Kampfeinsatz. Die jungen Wissenschaftler waren technisch gut ausgerüstet, und hier bot sich die Gelegenheit zum Erstkontakt mit dem sagenumwobenen Datenhighway. Es gelang tatsächlich eine Verbindung zum seinerzeit bereits existenten Online-Auftritt der seit 1879 erscheinenden japanischen Asahi Shimbun, mit einer Auflage von acht Millionen Exemplaren ist sie die zweitgrößte Zeitung der Welt.

Die Zeit der Nadeldrucker und des Bildschirmtextes der Deutschen Bundespost

Alle waren damals total begeistert und sehr stolz darauf, dass es geklappt hatte mit einer Datenleitung von Moffett Field an der Grenze zwischen den Städten Mountain View und Sunnyvale nach Tokio. Vom japanischen Text verstanden sie nichts, aber das schmälerte die Freude keineswegs. Nach der Rückkehr aus Kalifornien wurden für die SZ-Wirtschaftsredaktion die zwei ersten internetfähigen Laptops angeschafft, vom Gewicht her waren es Schlepptops. Keiner wusste so richtig, wofür die Dinger gut sein sollten.

Es war die Zeit der Nadeldrucker und des Bildschirmtextes der Deutschen Bundespost. Bei der Zeitung brachten Boten die Nachrichten zu Fuß aus dem Fernschreibraum auf langen Papierfahnen in die Redaktionsräume. Oder verschickten sie per Rohrpost. Man hatte gerade die schuhkartongroßen Akustikkoppler für die Datenübertragung durch deutlich kompaktere Steckkarten abgelöst, man glaubte aber noch an eine große Zukunft von Faxdiensten mit Wirtschaftsnachrichten aus der Nacht, die sich Chefs bei Arbeitsbeginn auf die Schreibtische senden ließen. Dann also kamen die kleinen Kisten, die über Dienste wie Compuserve und America Online den Zugang zu einer virtuellen Welt eröffneten, mit Möglichkeiten, die allenfalls zu erahnen waren.

Der Nutzen des offenen Internets war noch nicht so recht zu erkennen. Der Wetterbericht ließ sich abrufen, mit den üblichen Unwägbarkeiten. Man konnte in einem dicken Handbuch für Unternehmensdaten blättern, das nicht durchsuchbar eingescannt und als Kopie des Druckwerkes oft nicht mehr auf dem aktuellen Stand war. Es war die Zeit der friedlichen Koexistenz von Internet und gedrucktem Schriftgut. Um zu finden, was man suchte, gab es dicke Nachschlagewerke, eine Art Telefonbücher voller Internetadressen.

Die Reisenotizen aus Kalifornien von damals fielen in der Zeitung entsprechend vage aus: "Entstehen soll ein Daten-Netzwerk, an das nicht nur Unternehmen, sondern auch öffentliche Einrichtungen und Privathaushalte mit ihren Personal-Computern angeschlossen werden."

Im März 1994 ließ sich mehr mutmaßen als verlässlich prophezeien: "Der elektronische Einkaufsbummel wird durch eine virtuelle Bildschirm-Welt führen, in der der mit einem Multimedia-PC ausgestattete Kunde dann sogar zum Beispiel einen Fotoapparat aus dem Regal nehmen und ihn so drehen kann, dass ein Blick durch den Sucher möglich ist." Die Leute brachten ihre Filme noch in den Fotoladen zum Entwickeln und bestellten dort Abzüge, wie die Papierbilder hießen.

Einiges wurde inzwischen Realität: "Der Patient in einer abgelegenen Siedlung wird seinen Arzt per Videoschaltung konsultieren. Der Student kann von seiner Bude aus Datenbanken und Bibliotheken durchforsten. Der Bürger tritt mit seinem Einwohnermeldeamt interaktiv in Verbindung, führt einen Dialog und füllt dabei ein Formular aus. Mancher Bürojob verwandelt sich in Heimarbeit."

Bei denen, die Heimarbeit technisch ermöglichen, ist sie eher nicht so verbreitet. Denn die Tech-Konzerne errichten einen futuristischen Campus nach dem anderen, zu dem zwar auch firmeneigene Busse rollen, die meisten Mitarbeiter aber im eigenen Auto fahren. Oder sich fahren lassen. Das kann zwar dank Fahrer unterhaltsamer sein, ist aber nicht unbedingt schneller. Denn Fahrdienste wie Uber sind im Dauerstau eher ein Teil des Problems als die Lösung. Mit etwas Pech ist man heute für die 80 Kilometer von San Francisco nach San José schon mal einen halben Arbeitstag lang auf dem Highway unterwegs und das allein für die Hinfahrt, beklagt eine amerikanische Computer-Journalistin aus leidvoller Erfahrung.

Heute gibt es ein ziemlich gut ausgebautes Highway-Netz parallel zum El Camino Real mit den berühmten Vorrangspuren für Autos mit mehreren Insassen. An einigen Stellen darf man gegen Gebühr auf einer Fast Lane die meisten anderen überholen. Auch die Fahrt über den traditionellen und im Vergleich zu den parallelen Highways fast beschaulichen El Camino Real ist sorgfältig zu timen, wenn man nicht im Dauerstau landen will. Es geht zwar mit dem Datenhighway voran im Silicon Valley, nicht aber im Straßenverkehr, dies ist der vorherrschende Eindruck heute. Am besten also fährt man los, wenn keiner unterwegs ist.

An einem Sonntagmorgen lässt sich die Fahrt so richtig genießen, wenn man im noch stillen Mountain View am modernen Stanford Shopping Center abbiegt in die breite Sand Hill Road hinauf zu den Anwesen derer, die es geschafft haben und derer, die das Geld verteilen, mit dem die nächste große Idee verwirklicht werden kann. Hier sind nur ein paar Jogger unterwegs, die steile Strecken mögen oder die es lieben, bergab zu traben. Hier hat Facebook-Gründer Mark Zuckerberg die Grundstücke seiner Nachbarn dazugekauft, um mehr Ruhe zu haben. Hier zweigt ganz oben die Schleife durch den Wald, wo bei Adressen wie Kohlberg Kravis Roberts, Sequoia und SVB das Kapital wohnt, von dem die Start-up-Gründer träumen. Hier liegt die berühmte Hausnummer 3000 Sand Hill Road, eine der teuersten Adressen der Welt.

Hier oben schauen sie hinab auf die Stanford-Universität, mit der er eigentlich begann, der Wandel vom Tal der Bauern zu dem des Big Business. Der kalifornische Senator Leland Stanford und seine Frau Jane gründeten die in einem weitläufigen Park drapierte Hochschule nach dem Tod ihres einzigen Sohnes, der mit 15 Jahren an Typhus gestorben ist. Auch weibliche Studenten waren zugelassen, das war für 1891 sehr ungewöhnlich. Zu Beginn gab es 555 Studenten, heute sind es 16 000. Jeder Dritte braucht keine Studiengebühren zu zahlen, weil seine Eltern weniger als 100 000 Dollar im Jahr verdienen. Die Uni wird wegen der riesigen Sportanlagen und einer angegliederten Pferdezucht auch "The Farm" genannt, auf der bis heute 30 Nobelpreisträger heranwuchsen. Stanford produzierte dank der ausgeprägten Kultur eines innovativen Unternehmertums gleich mehrere Gründer von Firmen wie Google, Hewlett-Packard, Yahoo und Cisco.

Das alles und noch viel mehr erzählt Susan, eine 18-jährige Biologiestudentin auf dem Campus in Palo Alto. Als würde sie seit Jahren nichts anderes machen, überschüttet sie seit gerade mal sechs Wochen zweimal täglich Besuchergruppen mit Fakten und Anekdoten, als Ferienjob. Dabei läuft sie im dunkelgelben Cheerleader-Outfit mit umgehängtem Lautsprecher rückwärts vorneweg, schneller als andere Menschen vorwärts. Sie spricht rasend schnell: "California is very busy". Davon, dass dies auch in Zukunft so sein wird, überzeugt sie ihre 80 Zuhörer, als sie kurzerhand mehrmals auf ein handtellergroßes Stück Plastik springt. Das ist ein Mikroskop für die Dritte Welt, kostet weniger als einen Dollar und sei unverwüstlich, was nun jeder glaubt. Alle sind begeistert ob dieser jedenfalls für europäische Verhältnisse eher ungewohnten Darbietung im Land der ungeahnten Möglichkeiten mit Menschen, die das offensichtlich begriffen haben und sich dabei ausleben.

In den Neunzigerjahren sollten in dem Tal, das in Wahrheit eine große Ebene ist, nicht nur die technischen Voraussetzungen für ein neuartiges Datennetz geschaffen werden, sondern vor allem auch das Interesse der Bevölkerung am PC als Kommunikationsmaschine geweckt werden. "Die Bedienung muss so einfach sein wie bei einem Kühlschrank", gab Harry Saal das Ziel vor. Die Kombination aus ausgebauter Informatik-Infrastruktur und einer Bevölkerung mit der Fähigkeit sie zu nutzen, das erst ermögliche die digitale Revolution, sagte Saal, der als Chef der Smart Valley Inc. damals ein wichtiger Verkünder des Fortschritts gewesen ist.

Harry Saal war es gewohnt, dass ihm nicht alles immer sofort geglaubt wurde. Bereits 1977 prophezeite er dem Personal Computer eine große Zukunft und verließ seinen damaligen Arbeitgeber IBM, der noch an seine möglichst riesigen Rechenzentren glaubte, jedenfalls nicht an Harry Saal: "Sie behandelten mich wie ein ungezogenes Kind." Das ungezogene Kind gründete seine eigene Firma Nestar Systems und wurde Pionier bei lokalen Computernetzen. Als Präsident von Network General sammelte er seit 1986 Erfahrungen mit komplexen Systemen für das Management solcher Netzwerke.

Harry Saal, so sagte er es damals seinen europäischen Besuchern, war davon überzeugt, dass die eines wohl nicht allzu fernen Tages kommende weltweite Verknüpfung leistungsfähiger, zunächst nationaler Datenautobahnen, der Computerindustrie einen neuen Milliarden-Markt öffnen wird. Saal sagte das ungefähr zur selben Zeit, als dem deutschen Bundeskanzler Helmut Kohl zum Stichwort Datenautobahn einfiel, für den Bau von Autobahnen seien neben dem Bund vor allem die Länder zuständig. Das klang so wie beim Straßenbau. Der eingedeutschte Begriff für das Internet war noch nicht beim Kanzler angekommen.

Saal behielt nicht mit allem recht: Es könne sein, dass es zehn bis 15 Jahre dauert, bis die rechtlichen Details ausgehandelt sind - wer Netzbetreiber sein soll, wie der Datenschutz gesichert, das Copyright abgegolten wird. Da ist vieles noch unklar, wie allein die Diskussion um das Eigentum an Daten und die völlig verschiedenen Regeln für Datensammler in Europa und Amerika zeigen. Zu den Mysterien des Erfolges zählt sicher auch, dass man ständig Geschäftsbedingungen mit 20 Seiten lesen und ihnen zustimmen soll, eine Zumutung und wenig nutzerfreundlich. Kollektiv versagt die so erfolgreiche Internet-Branche nun seit Jahrzehnten auch bei der Abwehr ungefragter Mails, also Post, die den Usern nichts bringt, sondern ihnen unter Umständen sogar schadet.

Trotz allem biegt man im - dem Valley angemessenen - offenen weißen Mustang Cabrio voller Wehmut in die Addison Avenue und rollt langsam zur berühmten Garage, der Geburtsstätte von Hewlett Packard und des Silicon Valley. Ein Dixie-Klo in der Einfahrt trübt die Sicht darauf an diesem Morgen und zeugt vom entspannten Umgang der Amerikaner mit diesem nationalen Denkmal. Derzeit ist die einstige Obstgegend, die mal Santa Clara Valley hieß, bevor sie das Hightech-Tal wurde, ja nicht zuletzt als sozialer Brennpunkt der besonderen Art ein Thema: Apple-Mitarbeiter müssen verarztet werden, weil sie im futuristischen Rundbau in Cupertino massenhaft gegen Glasscheiben laufen. Selbst gut bezahlte Menschen können sich das Leben im Valley kaum noch leisten, ihre modernen Niedriglohn-Sklaven in Restaurants und Läden müssen weite Wege zum Arbeitsplatz zurücklegen, um bezahlbar wohnen zu können. Überhaupt: Start-ups siedeln längst woanders, fast überall auf der Welt entstehen neue Valleys.

Geschichten von Rückschlägen gab es vor fast 25 Jahren auch: Als Mitte der Achtzigerjahre der Normalverbraucher nach der großen Kaufwelle mit jährlicher Verdoppelung des PC-Absatzes enttäuscht feststellte, dass Computer doch nicht so einfach wie Telefone oder Kühlschränke zu bedienen sind. Es kam zum "Shakeout" im Valley - von 3000 in den Boomjahren gegründeten Firmen waren 1987 nur noch einige Hundert übrig entlang des El Camino Real. Die hatten begriffen: "Statt für den technikbegeisterten und im Umgang mit Lötkolben geübten Freak, wird für den normalen Konsumenten produziert." Das war keine schlechte Idee: Einfache Geräte für einfache Menschen.

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Quelle:
SZ vom 17.03.2018/mkoh
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