Süddeutsche Zeitung

Report:Herr Xu und sein Auto

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Vor 40 Jahren entdeckte Volkswagen den chinesischen Markt. Los ging es mit dem Modell Santana, der zum Käfer Chinas wurde. Dann kamen Ratten und Sascha Hehn.

Von Christoph Giesen

Sie reisten mit dem D-Zug an, gut ein Dutzend Chinesen, einen Termin hatten sie nicht. Vom Bahnhof liefen sie zur Wache Sandkamp - fast eine halbe Stunde zu Fuß. Dann standen sie fröstelnd in ihren blauen Mao-Anzügen vor dem Wolfsburger Stammwerk, es war November 1978. Einer der Männer sprach den Pförtner an. "Ich bin der chinesische Maschinenbauminister und möchte einen Verantwortlichen von VW sprechen", sagte er, sein Dolmetscher übersetzte. Die Wache telefonierte aufgeregt: ein Minister mit Delegation vor dem Haupteingang, und das ohne Termin. Sie hatten Glück: Ein Mitglied des Vorstandes hob ab und erklärte sich bereit, den Besuch zu empfangen, es wurde ein Treffen, das die Geschichte von Volkswagen verändern sollte.

40 Jahre ist das nun her. Heute ist der Konzern der wichtigste Hersteller in China, dem größten Automarkt der Welt. 4,2 Millionen Fahrzeuge setzt das Unternehmen pro Jahr in der Volksrepublik ab. Vier von zehn Fahrzeugen verkauft Volkswagen in China. Bei der Kernmarke VW ist es sogar jedes zweite Auto. Die Ergebnisse aus China retten seit Jahren schon die Zahlen. Ohne den Erfolg in Fernost wären die Auswirkungen der Dieselaffäre viel stärker in der Bilanz zu spüren. Es ist keineswegs übertrieben, wenn man behauptet, dass Volkswagen inzwischen nicht nur ein deutscher, sondern auch ein chinesischer Konzern ist. Und wie in Deutschland, ist der Aufstieg mit einem Auto verbunden.

Der Käfer war der Wirtschaftswunderwagen, erst ein Erfolg in Deutschland und dann in der ganzen Welt. In China war es der Santana. Seit 1981 auf dem Markt, benannt, wie der Golf oder der Passat nach einem Wind, dem "Santa-Ana", einem Föhn, der zwischen der Sierra Nevada und den Rocky Mountains entsteht und trockene warme Luft nach Südkalifornien trägt. Den Teufelshauch nennen die Amerikaner ihn. Ein großer Name für ein eher unspektakuläres Auto: Der Santana ist eine solide, aber eher spießige Limousine. In Deutschland war rasch Schluss. Mit der Modellpflege 1985 verschwand er nach vier Jahren wieder aus dem Angebot. Da ging es in China überhaupt erst los.

Jeder Mitarbeiter erhielt zunächst das gleiche Gehalt

Der "Sangtana", wie er auf Chinesisch heißt, wurde zum roten Käfer. Millionenfach gebaut, inzwischen in der fünften Generation, ist er für viele Chinesen zum Inbegriff des Automobils geworden.

Als alles anfing, vor 40 Jahren war Volkswagen in China unbekannt. Die bleiernen Mao-Jahre waren gerade vorüber, eine neue Führung hatte in Peking die Macht übernommen. Nach Jahrzehnten der Isolation, die ersten Reisen, der erste Austausch. 1978 sollte die Exkursion des Ministers nach Stuttgart führen. Die Deutschen fahren schließlich Mercedes. Das wusste man selbst im abgeschotteten China der Siebzigerjahre. In der Bundesrepublik angekommen, sahen die Chinesen Autos - viel mehr als zu Hause. Doch wo waren die Mercedes-Modelle?

Auf den Straßen stattdessen lauter Kleinwagen und auf den Kühlern zwei Buchstaben eng verschlungen, ein V und ein W. "Was ist das für eine Marke?", fragte sich die Delegation. "Volkswagen", hieß es in Stuttgart. Nach einer Höflichkeitsvisite bei Daimler setzte sie sich in den Zug und fuhr nach Wolfsburg. Fünf Jahre verhandelten Chinesen und Deutsche, dann war man sich einig. Volkswagen eröffnete als erster deutscher Autokonzern eine Produktion in China.

Am 11. April 1983 fertigen Arbeiter der Shanghaier Traktoren und Automobilfabrik (STAC) den ersten Volkswagen. Auf dem Dach ein Schild: "1. VW Santana Assembeld by STAC." Im Jahr darauf wurde das Joint Venture von Volkswagen in Shanghai gegründet, das noch heute besteht.

Einer der ersten Mitarbeiter damals war Xu Zhirong, 57 Jahre alt. Inzwischen ist er der letzte Mann der ersten Stunde, der noch immer für Volkswagen in China arbeitet. Er hat Fahrzeugtechnik studiert, sein Jahrgang war der erste, der nach der Kulturrevolution wieder an die Universität gehen durfte. 1979 fing er bei STAC an. Im Vorort Anting fertigten sie den "Phoenix", den Nachbau eines Mercedes aus dem Jahr 1956. Vielleicht 300 Stück im Monat - alles in Handarbeit.

Heute ist Anting das chinesische Wolfsburg. Der Formel-1-Zirkus macht einmal im Jahr Station. Mehrere Werke wurden hochgezogen. Volkswagen, Škodas und bald auch Audis werden hier hergestellt. In unmittelbarer Nachbarschaft hat General Motors seine Fabriken errichtet. Im Sog von Volkswagen siedelten sich etliche deutsche Firmen an. Erst die Zulieferer, die Türen, Scharniere, Bremsen anfertigten. Bald kamen auch die großen Unternehmen, wie die BASF. Das Volkswagen-Joint-Venture brauchte schließlich jede Menge Lack.

Xu Zhirong sitzt in einem Besprechungsraum der chinesischen VW-Zentrale, die Halle, in der der erste Santana zusammengeschraubt wurde, ist gleich um die Ecke. Einer der Deutschen, erinnert er sich, habe damals eine Ansprache gehalten: "In einigen Jahren wird jeder von euch sich einen Santana kaufen können", sagte der Mann. "Wir dachten, der spinnt", sagt Xu. 46 Yuan verdiente er damals pro Monat. Für einen Santana hätte er mehr als 100 Jahre sparen müssen. Private Käufer gab es in den ersten Jahren nicht, ausgestattet wurden Taxibetriebe und Behörden.

Mehrmals reiste Xu nach Deutschland. Nach Emden und nach Ingolstadt, dort lernte er die moderne Produktion kennen mit Fließbändern und Schweißrobotern. Auch ein paar deutsche Wörter kann er seitdem. "Bier" zum Beispiel oder "Toilette" und "Zählpunkt acht". Einen Ort, den es in jedem Volkswagenwerk der Welt gibt - die Qualitätskontrolle ganz zum Schluss. Grelle Neonlampen leuchten jeden Quadratzentimeter aus. Kratzer im Lack? Schließt der Kofferraum? Und wie steht es um die Spaltmaße, also den Abstand, zwischen Kotflügel und Motorhaube, der Ex-Patriarch Ferdinand Piëch immer so wichtig war? Zehn Jahre baute Xu Autos, ohne selbst fahren zu können, 1989 machte er den Führerschein. Acht Monate in der betriebseigenen Fahrschule. Dann kaufte er sein erstes Auto, natürlich einen Santana.

Zunächst hatten die Chinesen überlegt, den Audi 100 zu produzieren, und den Kadern hätte der größere Audi vermutlich auch besser gefallen, letztlich siegte aber der Verstand über den Komfort, weil sich beim Santana die Produktion in kürzerer Zeit auf chinesischen Boden umsetzen ließ. Möglichst viel Wertschöpfung im eigenen Land, genau darum ging es der Regierung in Peking schon damals.

"Ich habe direkt mit Ministern, häufig sogar den Premiers verhandelt. Autos aus Deutschland, das war ein großes Thema", erinnert sich Carl Hahn. Der Santana in China, das war seine Idee. Von 1982 bis 1992 war Hahn Vorstandschef von Volkswagen. Heute ist er 92 Jahre alt. Wer ihn als "rüstig" bezeichnet, beleidigt ihn. Er ist agil, wie eh und je und empfängt in seinem Büro, gleich neben dem Wolfsburger Kunstmuseum. Er hat noch immer ein Sekretariat, einen Assistenten und eine E-Mail-Adresse von Volkswagen. Manchmal kommt er sechs Mal die Woche ins Büro. "Ich mache viele verrückte Dinge", sagt er. Hahn berät den Präsidenten Kirgistans, ist stellvertretender Aufsichtsratschef einer isländischen Geothermikfirma. Er ist Pate mehrerer Schulen und seit einiger Zeit interessiert er sich auch für Genetik. Erst vor ein paar Tagen ist er aus Peking zurückgekehrt. Ein chinesisches Magazin hat ihm den Titel "Impact China Person of the Year" verliehen. Die Plakette liegt in einem der Schaukästen im Flur.

Ließ sich der Erfolg von Volkswagen in China Anfang der Achtzigerjahre erahnen? "Im ersten Jahr hatten wir 27 Prozent Marktanteil. Mit insgesamt 5000 Autos. Meinen Kritikern habe ich bewiesen, dass es großer Blödsinn war, nach China zu gehen", sagt Hahn und zwinkert. "Nein im Ernst: Meine Rechnung damals war simpel. Ich bin davon ausgegangen, dass China im schlechtesten Fall eine ähnlich hohe Motorisierung wie Nigeria erreichen würde." 70 000 Neuwagen bei damals 70 Millionen Einwohnern. "Auf die Volksrepublik übertragen wären das bei einer Milliarde Chinesen eine Million Autos pro Jahr gewesen. Da lohnt sich ein Werk." Und wie: Heute unterhält der Konzern 33 Fabriken in China. Jedes Jahr werden hier 24 Millionen Pkws verkauft. Der chinesische Automarkt ist genauso groß, wie der amerikanische und europäische zusammen.

Als ersten Chef setzte Hahn Martin Posth ein. Damals Anfang 40 und ein Überflieger im Konzern. Bevor er nach China versetzt wurde, war er Personalvorstand bei Audi. Viele im Unternehmen sahen das damals als Degradierung. Posth aber wollte es genau so, vor ein paar Jahren hat er ein Buch über seine Zeit in Shanghai geschrieben, vergangenes Jahr ist er früh gestorben. Auch Hahn verteidigt Posth: "China hatte Priorität, es ging darum, die besten Leute nach Shanghai zu schicken." Als technischen Leiter stellte Volkswagen Posth Hans-Joachim Paul zur Seite, als Chef des Werks in Kassel war er dafür genau der Richtige.

Posth und Paul bauten die Fertigung mit einer eigenen Ausbildung auf. Und Wolfsburg ließ sie gewähren. 1986 etwa führten sie einen Tarifvertrag mit 18 Lohngruppen ein. Ausgerechnet in dem Land, das noch Maos "eiserne Reisschüssel" gewohnt war. Zuvor hatte noch jeder Mitarbeiter das gleiche Gehalt bekommen. Die Putzfrau genauso viel, wie der Kranführer. Der Hilfsarbeiter erhielt die identischen Bezüge, wie ein Ingenieur. Wer nun gute Arbeit leistete oder höhere Stückzahlen als gefordert produzierte, der bekam eine Prämie - in China war das vollkommen neu.

Zwei Jahre später ließ Posth gar eine Volkswagen-Anleihe auflegen - ebenfalls Neuland. Das Joint Venture brauchte Geld. "Meine Vorgabe war damals, das Geschäft muss sich selber tragen", sagt Hahn. Statt Devisen überlegte man in Wolfsburg, auch Naturalien zu akzeptieren. Eine Shanghaier Werft baute extra zwei Frachtpötte, um eventuell chinesische Kohle nach Deutschland zu schippern.

Die größte Belastung für das Budget waren allerdings die deutschen Mitarbeiter, in den Anfangstagen verdienten sie zweihundert Mal mehr als ihre chinesischen Kollegen. Auch die Wohnungen kosteten ein Vermögen. Die Miete für das schäbige japanische Fertighaus, das Statthalter Posth mit seiner Familie bewohnte, betrug mehrere Tausend Dollar im Monat.

Eine deutsche Schule gab es noch nicht, auch keine Supermärkte mit importierten Lebensmitteln. Wurden irgendwo in der Stadt wieder einmal Konserven angeboten, machten sich die VW-Mitarbeiter auf den Weg. Abends trafen sie sich meist im Hengshan-Hotel, an der Rattenbar, die so hieß, weil man häufiger irgendwelche Nager sah.

Über das Problem mit beschwerte sich sogar Chinas Ministerpräsident

An der Straße zum Flughafen stellte Volkswagen ein handgemaltes Plakat auf: "Santana the Trendsetter for Motoring" stand darauf, es war eine der ersten Werbetafeln in Shanghai. Und bald kannte das ganze Land Volkswagen: Für wenig Geld sicherte sich das Unternehmen die Nutzungsrechte an einer Staffel der ZDF-Serie Traumschiff - Sascha Hehn synchronisiert auf Chinesisch. Das bot man dem Staatsfernsehen an. Einzige Bedingung: begleitende Volkswagen-Werbung im Fernsehen. Noch heute erinnern sich ältere Chinesen an das Traumschiff, und natürlich den Santana, das Auto von Volkswagen.

Ohne Veränderungen für den chinesischen Kunden ging es aber nicht. "Das Auto wurde verlängert", erinnert sich Hahn. Schwierigkeiten machte die Hupe. Die Chinesen wollten sie am liebsten selbst herstellen. Das Problem: Nach 50 000 Hupvorgängen gaben die chinesischen Sirenen klein bei. In Europa wäre das kein Problem gewesen, wer hupt schon 50 000-mal? In China war das der Alltag, vor allem in den Achtzigerjahren, als sich die Fahrer noch Wege durch Heerscharen von Radlern bahnen mussten.

Volkswagen verlangte, die Hupen müssen bis zu 120 000-mal zu hören sein. Auf chinesischer Seite verstand man nicht, warum der deutsche Standard sogar übertroffen werden sollte. "Am Ende hat sich sogar der chinesische Ministerpräsident am Rande einer UN-Sitzung bei Bundeskanzler Helmut Kohl über die Hupen beschwert", erinnert sich Hahn. Der Konzern blieb hart, die Hupen mussten importiert werden; dafür gab es keinen Verschleiß.

"Xin Sangtana" (Neuer Santana) heißt das aktuelle Modell. Hergestellt wird es in zwei Werken, einige Hundert Kilometer nördlich von Shanghai, in der Provinz Jiangsu, und weit weg im Nordwesten Chinas, in Urumqi - ausgerechnet in der Autonomen Region Xinjiang, in der bis zu einer Million Uiguren in Umerziehungslagern festgehalten werden. Das Werk in Urumqi ist unerreichbar, Journalisten werden bei Recherchen auf Schritt und Tritt vom Geheimdienst verfolgt, die Fabrik in Jiangsu aber kann man besuchen.

Ein Auto pro Minute bauen sie hier. 85 Prozent der Produktion sind automatisiert, 3400 Angestellte arbeiten in zwei Schichten. Mit Golfwägelchen wird man durch die Fertigung gefahren, in der es aussieht, wie in so vielen anderen VW-Werken der Erde. Seit einigen Jahren werden die Fabriken nur noch nach demselben Muster gebaut. Wie die Filialen von McDonald's an der Autobahn - nur deutlich komplexer. Es gibt eine Lackiererei, ein Stanzwerk, Bänder, Roboter und natürlich eine Teststrecke, die auf Deutsch ausgeschildert ist: "Belgisches Pflaster. Länge: 60 m. Geschwindigkeitsbegrenzung: 20 km/h." Jeder Santana muss darüber.

Das Auto, das China mobilisiert hat, fährt noch immer.

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SZ vom 22.12.2018
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