Süddeutsche Zeitung

Report:China schläft nie

Die Volksrepublik will nicht nur Produkte für andere schrauben, sondern selbst entwickeln. Start-ups holen sich ihre Leute von überall.

Von Christoph Giesen, Shanghai/Peking

Am Ende des Korridors schwebt ein roter Ballon. 50 Meter Entfernung sind es vielleicht. Li Yifan lässt sich von seiner Assistentin eine Art Pistole reichen, er zielt. Ein Laserstrahl durchschneidet unsichtbar den Raum. Auf dem Display der Pistole erscheint eine detaillierte Gasanalyse. "Der Laser misst die Dichte. Wir können damit bestimmen, was für ein Gas es ist und vor allem, ob es austritt", sagt Li und lässt die Pistole sinken. Einige Tausend dieser Gas-Knarren hat er mit seiner Firma Hesai Technologies in den vergangenen Monaten verkauft. Stückpreis: mal eben vierstellig, in Dollar.

Doch wer braucht das schon - abgesehen von einigen Pipeline-Ingenieuren in Sibirien? "Ein Massengeschäft", räumt Li ein, "ist das mit Sicherheit nicht. Wir können aber zeigen, wie exakt man mit einem Laser arbeiten kann." Und darum geht es: Seit einigen Monaten entwickeln sie Laser für das autonome Fahren. Statt Kameras oder Radar soll künftig ein unsichtbarer Lichtstrahl die Straßen nach Hindernissen abtasten.

Die großen Autozulieferer arbeiten daran, genauso wie Hesai Technologies mit seinen gut 50 Mitarbeitern. Die ersten Testwagen haben sie bereits in Shanghai fahren lassen. Wie ernst Hesai dabei zu nehmen ist, zeigen die vielen Besucher. Auch Autohersteller aus Deutschland schickten jüngst Delegationen zu diesem Start-up vor den Toren Shanghais.

"Gymnastik" ruft die Barista und fast alle machen Kniebeugen

Bis vor Kurzem waren Start-ups aus China vor allem dann erfolgreich, wenn sie ihr Geschäft im Internet aufzogen, fernab der trägen Staatskonzerne und doch gut behütet: Das chinesische Internet ist durch die scharfe Zensur der Behörden vom weltweiten Netz abgetrennt wie eine Lagune vom Ozean. Statt Ebay gibt es hier Alibaba, Baidu statt Google, Wechat statt Facebook. Und jüngst Didi statt Uber. Ideen aus dem Silicon Valley wurden in China oft abgekupfert und dann für den chinesischen Markt angepasst - der hat immerhin mehr als 700 Millionen Nutzer. Das ändert sich derzeit radikal. Mit viel Geld der Regierung. Aber auch mit technischem Know-how, das sich in China ansiedelt.

Immer mehr Start-ups tüfteln auf Weltniveau.

Sei es mit Lasertechnik wie Hesai oder aber in der Elektromobilität wie zum Beispiel Nio oder Future Mobility. Vor vier Jahren hat Li mit zwei chinesischen Freunden Hesai gegründet und zwar im Silicon Valley. Er selbst hatte dort seinen Doktor gemacht und als Ingenieur gearbeitet. "Wie das im Valley so ist, jeder will irgendwann einmal sein eigener Chef sein." Mit seinen Kumpels mietete er sich eine Garage, ein Tisch, keine Fenster, dort trafen sie sich nach der Arbeit. Der eine war bei Apple angestellt, der andere hatte gerade in Optik an der Stanford University promoviert - ein Laserspezialist also. Das erste Geld bekamen sie von einem Landsmann, der wusste, dass die drei nicht auf den Kopf gefallen sind - mehr nicht. Noch bevor die Firma überhaupt irgendwo eingetragen war, floß das Geld.

"Schnell war für uns klar, dass wir nach China zurückkehren werden", erzählt Li. Da ist zum einen die Sprachbarriere, zum anderen aber das Geld. Als Nicht-Muttersprachler in Kalifornien Erfolg zu haben ist schwierig. So gut man auch technisch ist, irgendwann muss man auf die Bühne und ausgefeilte Präsentationen auf Englisch halten. Investoren entscheiden dann innerhalb von wenigen Minuten. In China ist das bisweilen anders.

In den vergangenen beiden Jahren hat die chinesische Regierung Hunderte Fonds aufgesetzt, um die technischen Entwicklungen im Land zu fördern. Die Werkbank der Welt soll zu einer innovationsgetriebenen Volkswirtschaft werden. Zehn Branchen hat die Regierung dafür auserkoren, darunter den Flugzeugbau, die Medizintechnik oder die Elektromobilität. In wenigen Jahren schon sollen überall dort chinesische Firmen konkurrenzfähig sein.

Gewaltige Summen stehen dafür zur Verfügung. 2015 waren es insgesamt 2,2 Billionen Yuan (etwa 290 Milliarden Euro), verteilt auf 800 Fonds. Bis Ende 2016 sind weitere 3,1 Billionen Yuan dazugekommen. 5,3 Billionen sind es inzwischen insgesamt. Etliche Milliarden davon werden wohl bei Start-ups landen.

Außerdem konkurrieren die Lokalregierungen untereinander, sie alle wollen Start-ups ansiedeln, um die Vorgaben aus Peking zu erfüllen. Im Bezirk Jiading, eine Autostunde vom Shanghaier Zentrum entfernt, muss Hesai in einem Funktionsbau neben einer Polizeiwache keine Miete zahlen. Eine Anschubfinanzierung, genehmigt vom örtlichen Parteikomitee, gab es obendrein. Traumbedingungen? "Ganz ohne Herausforderungen ist das nicht", meint Li.

Viele Start-up-Unternehmer fürchten sich vor BAT. Was nach einem Superhelden klingt, ist die in China gängige Abkürzung für die drei großen Internetunternehmen des Landes. Die Suchmaschine Baidu, der Onlinehändler Alibaba und der Wechat-Konzern Tencent. "Eine der allerersten Fragen von Investoren ist immer: Was passiert, wenn BAT dazwischenkommt?", erzählt Li. Ist das Geschäftsmodell leicht zu kopieren, kann es vorkommen, dass es von den Großen einfach adaptiert wird oder aber ein ruinöser Preiskampf ausbricht.

Die Sitten in China, sie sind rau.

Es herrscht das Recht des Stärkeren, auf die Gerichte kann man nicht hoffen. Der Fahrdienstvermittler Uber verbrannte gut eine Milliarde Dollar in China und gab sich schließlich dem chinesischen Wettbewerber Didi geschlagen, der mit Geld von Tencent unterstützt worden war.

Schwierigkeiten bereiten oft auch die Investoren selbst. Neben dem ganzen staatlichen Geld wollen viele private Anleger mit Start-ups reich werden. Der Immobilienmarkt in China ist überhitzt und den Börsen traut kaum noch jemand seit dem großen Crash 2015. Also Start-ups. "Viele Investoren haben keine langfristigen Ziele, sie wollen, dass man möglichst schnell profitabel wird", sagt Li. "Nach drei, vier Jahren wollen einige schon ihr Geld zurück, das verhindert aber das Wachstum."

Manch enttäuschter Anleger droht gar damit, Triaden loszuschicken.

Abschrecken lässt sich davon aber kaum jemand: Vor allem junge Chinesen, die einige Zeit im Ausland gelebt haben, gründen Firmen. Angeblich sollen es 55 Prozent aller Rückkehrer sein, heißt es in Berichten der chinesischen Presse.

Wer in China ein Start-up gründen möchte, der kennt das Garage Café im Pekinger Uni-Bezirk. Die Fußgängerzone vor der Tür des Cafés nennen sie hier einfach die Start-up-Straße. An den Tischen im Café sitzen Männer und Frauen über Laptops gebeugt, sie werkeln an Vorträgen und hacken Quellcode. Über ihren Köpfen baumeln Verteilersteckdosen, für ihre Smartphones und Tablets. Das Garage Café könnte wohl auch in Berlin Mitte oder in Palo Alto eröffnen, wären da nicht die kleinen Unterschiede: Am frühen Nachmittag tritt eine Barista auf die kleine Bühne an der Stirnseite des Cafés. "Gymnastik", ruft sie knapp und fast alle stehen auf. Gemeinsam marschieren sie auf der Stelle, machen Kniebeugen und dehnen sich. Nach zehn Minuten sitzen sie wieder vor ihren Laptops.

Zwei Etagen über dem Café werden Schreibtische und fensterlose Nischen vermietet. Der Quadratmeterpreis ist atemberaubend. In einem der wenigen Büros mit Fenstern sitzt Wu Jianbo an einem Schreibtisch aus Tropenholz, der mit feinen Kanälen durchzogen ist, eine Maßanfertigung für Teezeremonien. Statt eines Papierkorbs steht ein Auffangbehälter für den ersten Aufguss unter dem Tisch.

"Odeonsplatz" heißt einer der Meetingräume in Chinas Wolfsburg

Wu schenkt ein. Früher hat er Immobilien verkauft, jetzt entwickelt er Start-ups und ist Mitbesitzer des Garage Cafés. Sieben Ableger mit angeschlossenem Büroräumen hat Wu bereits in China eröffnet. Aber nicht in Shanghai oder Shenzhen. Sondern in Haikou, Xiamen, Dongguan, Hefei, Fuzhou, Chengde, ja selbst in Gongqingcheng - einer Stadt, die mancher Sinologe erst einmal googeln muss. Der Grund: Der Staat will Start-ups. Der Staat bekommt Start-ups, auch in den hintersten Winkeln der Volksrepublik. Der Deal, den Wu mit den Stadtregierungen schließt, geht so: Er macht sein berühmtes Café auf, im Gegenzug fördert die Politik auch jene Unternehmen, die sich bei Wu einmieten. Und wie profitiert er davon? Er beteiligt sich frühzeitig an den Firmen, wird Mitbesitzer. So machen es zunehmend auch BAT, die drei Internetgiganten.

Etliche Milliarden investieren die drei Konzerne derzeit vor allem in die Elektromobilität, eines der zehn staatlichen Förderfelder. Beim Verbrennungsmotor konnten chinesische Firmen trotz Dutzender staatlich verordneter Joint Ventures technisch nie aufschließen. Bei der Elektromobilität stehen die Chancen nun gut.

Wer dieser Tage mit Carsten Breitfeld sprechen will, braucht vor allem Geduld. Ständig ist er unterwegs, mal in Deutschland, dann wieder in Südchina und in Kalifornien. 20 Jahre lang war Breitfeld Ingenieur bei BMW. Zuletzt leitete er die Entwicklung des i8 - ein rein mit Batterie betriebener Sportwagen. Etwa 400 Leute hatte er unter sich. Eine Art Start-up im Großkonzern. "Ein ideales Set-up" sei das gewesen, sagt Breitfeld. Inzwischen aber ist der i8 ein Serienfahrzeug, die Aufbruchstimmung ein wenig verflogen. Und der stets loyale Breitfeld wurde im Sommer 2015 aus China kontaktiert.

Der Chef von Harmony, einem E-Auto-Unternehmen, das außerhalb Chinas kaum jemand kennt, bot Breitfeld einen neuen Job an: Vorstandschef von Future Mobility, einer Firma am Reißbrett mit Sitzen in China, Deutschland und den USA. Das Ziel: Er solle in anderthalb Jahren ein neues Auto bauen. Elektrisch betrieben und voll vernetzt.

Am besten auf Augenhöhe mit Daimler, Audi und BMW. Geld? Kein Problem.

Denn neben Harmony machen zwei echte Schwergewichte mit. Der iPhone-Produzent Foxconn und mal wieder Tencent, Chinas Vorzeigeinternetkonzern, dessen App Wechat auf den meisten chinesischen Smartphones installiert ist. Breitfeld machte sich auf den Weg nach China und traf Foxconn-Chef Terry Gou und Tencent-Gründer Ma Huateng. In anderthalb Jahren ein neues Auto? Er konnte sie überzeugen, dass dabei sehr wahrscheinlich Murks herauskommt. Unter drei Jahren sei das nicht zu stemmen. "Die Autos der Zukunft werden viel stärker vernetzt sein, aber zu 80 Prozent sind sie noch immer klassische Autos. Und das muss man beherrschen", sagt er. Vor allem die Massenproduktion.

"Bei 20 000 Autos kann man noch nacharbeiten, bei großen Volumen braucht man Prozesse, die garantieren, dass ein Auto rauskommt, das auf Anhieb funktioniert", sagt Breitfeld. Und mit Future Mobility peilt er die großen Volumina an. 200 000 bis 300 000 Fahrzeuge im Jahr sollen es sein. Kostenpunkt: etwa 300 000 Yuan, umgerechnet 40 000 Euro. Um das zu packen, hat er in den vergangenen Monaten etliche Fachleute angestellt. Sie kommen von Tesla, von Daimler, von Google vor allem aber von seinem ehemaligen Arbeitgeber BMW. "Ich hätte hundert, zweihundert Leute anstellen können", sagt Breitfeld. Derzeit wird das Design in München entworfen. "Während der Serien-Entwicklung werden wir alle ins Silicon Valley ziehen", sagt er. Dort sitzen die meisten Elektroauto-Spezialisten. Vor allem im Süden, rund um San José. Dort hat auch Nio seinen Sitz in den USA. Das zweite chinesische Vorzeige-Start-up für Elektromobilität. Im Sommer 2015 gegründet, hat das Unternehmen auf der Automesse in Shanghai sein erstes Serien-Fahrzeug vorgestellt. Ein SUV, 2,5 Tonnen schwer.

In Anting haben sie ein Testzentrum aufgebaut - zur Laser-Firma Hesai ist es nicht weit. Bevor man das Zentrum betritt, muss man blaue Überschuhe anziehen. In der Montagehalle steht ein verkabelter Range Rover, der Motor ist ausgebaut, dafür haben sie einen gewaltigen Akku unter das Auto geschraubt. 384 Batteriezellen, 550 Kilogramm schwer. Neun Testwagen sind derzeit im Einsatz. In der Hitze und zum Frieren. Die Batterietests machen sie deshalb hier am Range Rover, die Abmessungen der Fahrzeuge sind ähnlich. Seitdem Volkswagen vor mehr als 30 Jahren nach Anting gezogen ist, hat sich die Zulieferindustrie für den größten Automarkt der Welt ganz in der Nähe angesiedelt.

Anting ist das Wolfsburg von China.

1500 Leute beschäftigt Nio allein hier. Ein paar Kilometer vom Testzentrum entfernt haben sie ein Bürogebäude angemietet. Innen sieht es aus wie es nun einmal bei Start-ups auszusehen hat. Es gibt eine Teeküche, die sie einen Begegnungsort nennen. Die Büros sind alle verglast, jeder kann jeden sehen. Die Meetingräume haben sie nach den Orten benannt, an denen sie Büros haben. "Odeonsplatz" heißt eines der Zimmer. Ein weiteres Fisherman's Wharf. Selbst einen "War Room" gibt es, der wird gerade renoviert.

"Man ist ein Gefangener", morgens 90 Minuten im Autostau und abends dasselbe retour

Mitgründer Qin Lihong bittet zum Gespräch auf eine Couch, die in der Teeküche steht und erzählt von seiner Vision. Das Autofahren in den meisten Städten sei frustrierend, sagt er. "Man ist ein Gefangener". Morgens rein ins Auto. 90 Minuten Stau und abends dasselbe retour. Vor allem in China sind die Wege weit. Die Fahrzeuge von Nio sollen eine Wohlfühlstätte werden. Das Auto 3.0, so nennen sie es. Tesla das ist 2.0. Und Mercedes, Urschlamm 1.0. Auch den Kunden möchte Qin stärker in den Fokus rücken. "Bisher ist es so, dass jemand ein Auto baut, ein anderer verkauft es und muss es repariert werden, ist wieder jemand neues da. Wir wollen alles aus einer Hand bieten." Eine Art Klub.

An der Wand der Teeküche hängt das Foto eines schnittigen Sportwagens. Um für Aufmerksamkeit zu sorgen, hat Nio ihn im vergangenen Jahr vorgestellt, den schnellsten Elektro-Renner der Welt. Topspeed: 313 Kilometer pro Stunde. Genau sechs Stück gibt es davon. Für jeden Investor der ersten Stunde einen. Der exklusivste Nio-Klub. Ma Huateng, der Tencent-Gründer hat einen davon bekommen, er ist natürlich Nio-Aktionär. Er hat verstanden, dass es bei Chinas Start-up-Boom vor allem an einem nicht mangelt - und das ist Geld.

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Quelle:
SZ vom 27.05.2017
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