Süddeutsche Zeitung

Sozialpolitik:Gut, wenn Rentner freiwillig weiterarbeiten

Immer mehr Menschen arbeiten im Rentenalter weiter. Es gibt aber auch viele, bei denen das Geld sonst nicht reicht. Für die muss der Staat mehr tun.

Kommentar von Hendrik Munsberg

Freude und Angst, das sind die beiden Extreme - zwei Gefühlslagen, in denen Menschen in Deutschland dem Rentenalter entgegensehen. Die einen fiebern Jahre im Voraus dem Tag entgegen, an dem sie endlich nicht mehr die ungeliebte Arbeit verrichten müssen, weil sie ihrer seit Langem überdrüssig sind oder sich ihr gesundheitlich nicht mehr gewachsen fühlen. Endlich Zeit, auszuspannen, den eigenen Interessen nachzugehen: reisen, lesen, Sport treiben! Aber es gibt auch die anderen. Sie fühlen sich mit über 60 noch leistungsfähig und ahnen, wie wichtig geregelte Arbeit für Selbstwertgefühl und Zufriedenheit sein kann - und wie sehr man abgehängt zu werden droht, sobald die Herausforderungen des modernen Erwerbslebens fehlen. Das weckt bei diesen Menschen die Sorge, wer in Rente geht, altert schneller. Immer mehr Deutsche schlagen folgenden Weg ein: Sie gehen in Rente und arbeiten weiter, vielfach in Minijobs oder zu reduzierter Arbeitszeit. Neue Zahlen des Bundesarbeitsministeriums belegen: Von der Jahrtausendwende bis 2016 ist die Zahl der erwerbstätigen Rentner von 530 000 auf 1,45 Millionen gestiegen. Das bedeutet immerhin beinahe eine Verdreifachung. Jeder Zwölfte verdient sich heute im Ruhestand etwas dazu.

Gut so? Ja und nein, lautet die zunächst unbefriedigende Antwort.

Denn die Motive sind verschieden: Die einen tun es freiwillig, die anderen, weil sie eine zu geringe Rente haben. Etwa die Hälfte der Altersrenten liegt heute unter 900 Monat im Monat, teilte die Bundesregierung kürzlich mit, das monatliche Haushaltseinkommen fällt allerdings nicht selten höher aus, zum Beispiel durch Mieterträge. Wie dem letzten Rentenbericht der Regierung zu entnehmen ist, hatten Ehepaare, von denen einer bereits in Rente ist, im Westen im Schnitt ein Nettoeinkommen von 2572 Euro, in Ostdeutschland waren es weniger, nämlich 2257 Euro. Bei Alleinstehenden fällt die Rente jeweils um 900 und 1100 Euro geringer aus.

Zufriedenheit erwächst aus einem Wechsel von Anspannung und Entspannung

Wohl dem, der die Freiheit hat, auch nach dem Renteneintritt - ganz ohne materiellen Zwang - weiterzuarbeiten. Wer gesund und leistungsfähig ist, kann erheblich profitieren, wenn er länger arbeitet. Zufriedenheit erwächst nicht aus Leerlauf, sondern oft aus gesundem Wechsel von Anspannung und Entspannung. Zudem erfordert die seit Jahren steigende Lebenserwartung eine neue Balance aus Lebensarbeitszeit und Ruhestand. Zum Glück ist die Politik dieser Einsicht jedenfalls zu einem erheblichen Teil längst gefolgt. Zum einen, indem sie die staatliche Beihilfe zur Frühverrentung abschaffte. Zum anderen, indem sie vor allem durch die Flexirenten-Regelung dafür sorgte, die Möglichkeit zum gleitenden Übergang in den Ruhestand attraktiver zu gestalten.

Für die deutsche Wirtschaft ist es auf jeden Fall von Vorteil, wenn ihr erfahrene Kräfte auch über das gesetzliche Rentenalter hinaus zur Verfügung stehen, und sei es nur zu reduzierter Stundenzahl. Selten waren Fachkräfte so knapp und begehrt wie heute. Und sogar jetzt, angesichts einer sich spürbar eintrübenden Konjunktur, unternehmen die Firmen viel, um ihre qualifizierten Kräfte zu halten.

Die Politik muss eine Lösung für die bieten, die Altersarmut fürchten müssen

Es gibt aber auch zahlreiche Menschen, die nur deshalb auch im Alter weiterarbeiten, weil ihre Rente allein nicht reicht und weil sie auf das zusätzliche Geld dringend angewiesen sind. Kein Wunder, wenn die Betroffenen das nicht als Glück empfinden. Solchen Menschen will die große Koalition in Berlin durch die Grundrente eigentlich zu mehr Geld verhelfen. Anschauliches Fallbeispiel dafür ist die Friseurin, die 35 Jahre lang zu bescheidenem Stundenlohn gearbeitet hat und deren Rente von 513 auf 961 Euro aufgestockt werden soll. Immerhin haben sich die Koalitionäre bei der sonntäglichen Spitzenrunde darauf verständigt, dass eine Arbeitsgruppe unter Leitung von CDU-Kanzleramtschef Helge Braun und SPD-Arbeitsminister Hubertus Heil einen Kompromiss finden soll - bisher pocht die Union mit guten Gründen auf eine Bedürftigkeitsprüfung, was die SPD strikt ablehnt. Im Sinne aller sollte sich aber rasch eine praktikable Lösung finden lassen.

Fakt ist aber auch: Heute gibt es einen erheblichen Anteil von Menschen, bei denen Altersarmut zum Alltagsrisiko gehört. Experten warnen eindringlich, dass ihr Anteil in Zukunft noch zunehmen wird. Betroffen sind Langzeitarbeitslose, aber auch Frauen, die lange Zeit nicht erwerbstätig oder teilzeitbeschäftigt waren, darüber hinaus Menschen ohne Bildungsabschluss. Für viele dieser Menschen, die auf die staatliche Grundsicherung zurückgeworfen sind, hat die Politik bisher noch keine Lösung zu bieten.

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Quelle:
SZ vom 20.08.2019/lüü
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