Was ist für Normalbürger noch undurchdringlicher als das deutsche Steuerrecht? Schwer zu sagen? Stimmt, aber im deutschen Rentenrecht tut sich ein ähnlich verschlungenes Dickicht auf. Doch ganz schlimm wird es, wo Steuer- und Rentenrecht zusammenwachsen und -wuchern. Millionen Ruheständler haben diese freudlose Erfahrung schon gemacht, wenn sie, endlich im Ruhestand, ihre Altersbezüge gegenüber dem Finanzamt erklären müssen. Dann ist die Not oft groß und guter Rat teuer.
Der Quell dieses Verdrusses entsprang im Jahr 2005, als die Bundesregierung nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts die sogenannte nachgelagerte Besteuerung einführte. Deren Grundidee klingt eigentlich verlockend: Während des Erwerbslebens verschont der Staat die Bürger, rechtzeitige finanzielle Vorsorge fürs Alter ist schließlich wichtig - darum dürfen die Versicherungsbeiträge Jahr für Jahr steuermindernd als Sonderausgaben angesetzt werden. Erst wenn im Alter das erste Mal die Rente aufs Konto fließt, beginnt die - nachgelagerte - Besteuerung. Im Prinzip ist das für die Bürger ein guter Deal, Berufstätige haben meist einen höheren Steuersatz als im Ruhestand, wenn sie weniger verdienen.
Aber die von chronischer Haushaltsnot geplagte Bundesregierung unter SPD-Kanzler Gerhard Schröder brachte 2005 mit dem Alterseinkünftegesetz eine bis 2040 andauernde Übergangsregelung zur neuen Rentenbesteuerung auf den Weg, die nach Ansicht angesehener Fachleute mit fortschreitender Zeit zu einer unfairen, womöglich sogar verfassungswidrigen Doppelbesteuerung führt. Im Klartext heißt das: Es gibt eine bis 2040 wachsende Unwucht in der Rentenbesteuerung und die geht zulasten der Steuerzahler, die über die Dauer ihres Lebens hinweg gesehen finanziell zu schlecht abschneiden.
Mag sein, dass erst Karlsruhe das letzte Wort sprechen muss
Nun wird sich zeigen, ob der Bundesfinanzhof (BFH), Deutschlands höchstes Finanzgericht, diese Einschätzung teilt. Bis Ende des Monats will der BFH zu einem Urteil kommen, an diesem Mittwoch läuft die Anhörung der Streitparteien. Und es sieht ganz so aus, als wollten die Bundesrichter aus München der Berliner Politik eine Lektion erteilen. Aber vor Gericht und auf hoher See ist man bekanntlich in Gottes Hand. Mag sein, dass erst Karlsruhe das letzte Wort sprechen muss. Zu wünschen ist jedenfalls, dass auf diesem Gebiet möglichst bald die Rechtssicherheit ein- und das Vertrauen zurückkehrt. Jung und Alt haben ein Anrecht darauf, zu erfahren, ob sie bis in den Ruhestand hinein verfassungsgemäß besteuert werden.
Doch statt aufzuklären, mauert das Bundesfinanzministerium seit Jahren, nicht erst seit der Sozialdemokrat Olaf Scholz an der Spitze des mächtigsten Bundesressorts steht. Auch seine Vorgänger verwiesen stets einsilbig darauf, bisher sei die Rentenbesteuerung in Karlsruhe unbeanstandet geblieben. So wortkarg mag ein Finanzamt Steuerpflichtige bescheiden, aber ein Bundesfinanzminister sollte, erst recht vor einer Bundestagswahl, imstande sein, dem Wahlvolk zu erklären, warum er die jetzige Besteuerung für gerecht und verfassungsgemäß hält.
Denn schon früh gab es von wichtiger Seite handfeste Hinweise, dass etwas nicht stimmt mit dieser Rentenbesteuerung. Schon die damalige Regierungskommission unter dem Rentenexperten Bert Rürup wandte 2003 in ihrem Abschlussbericht zur geplanten Besteuerungspraxis ein, sie halte es für "zutreffend", wenn der Staat den Grundfreibetrag - also das von der Verfassung geschützte Existenzminium - nicht als steuerfreien Teil der Rente werte. Das Bundesfinanzministerium tat es dennoch. 2017 erhob der Vizevorsitzende des BFH-Senats, der jetzt über die Rentenbesteuerung zu Gericht sitzt, in einem Fachkommentar für Steuerexperten den gleichen Einwand.
Und wiederum Rürup war es, der 2007 nach überraschender Einführung der Rente mit 67 einen Brandbrief an die damaligen Bundesminister Franz Müntefering (Soziales) und Peer Steinbrück (Finanzen) schrieb und warnte: Die bis 2040 geltende Übergangsregelung der Rentenbesteuerung könne "in erheblichem Umfang gegen das Verbot der Zweifachbesteuerung" verstoßen. Das Problem stelle sich für Arbeitnehmer, die von 2021 bis 2058 im Rente gehen sowie für Selbständige der "Zugangsjahrgänge 2011 bis 2046". Deutlicher geht es eigentlich nicht.
Das Finanzministerium aber blieb stets bei seiner Haltung und hat dafür ebenfalls angesehene Experten gefunden, die diese Haltung stützen. Doch für einen Finanzminister, der dazu Kanzlerkandidat seiner Partei ist, hätte es viel zu erklären gegeben. Nun tun das andere.