Kommentar:Mutig wie Müntefering

Rentenbeitrag

Bitte später Platz nehmen: Sitzbank mit der Aufschrift "Rentnerbänkle".

(Foto: Rolf Haid/dpa)

Der SPD-Vizekanzler brachte die Rente mit 67 auf den Weg. Das diente der Solidität der Alterssicherung , anders als die Rente ab 63 von Andrea Nahles.

Von Hendrik Munsberg

Politiker stehen im Ruf, ihnen fehle der Mut zu unpopulären Entscheidungen. Zwei prominente Beispiele aus der deutschen Rentenpolitik illustrieren, wie groß die Fallhöhe ist. Da gibt es den SPD-Sozialminister und Vizekanzler Franz Müntefering, der vor 15 Jahren politische Weitsicht und Entschlossenheit bewies: Am 1. Februar 2006 brachte er im Bundeskabinett die schrittweise Einführung der Rente mit 67 auf den Weg. Das markiert eine Zäsur, seit 1916 gingen Männer in Deutschland mit 65 in Ruhestand.

Aber da ist auch die Sozialdemokratin Andrea Nahles, die sechs Jahre nach Müntefering das gleiche Ministerium leitete. Weil es zu ihrer Amtszeit an der Rente mit 67 unvermindert scharfe Kritik aus SPD und Gewerkschaften gab, führte Nahles die Rente ab 63 für "besonders langjährige Versicherte" ein. Bei Licht besehen war das ein Deal, um die Gewerkschaften zu besänftigen, vor allem die IG Metall.

Und, Ironie der Geschichte: Gerade jetzt, da sich Münteferings Initialzündung zum 15. Mal jährt, kommt die Nachricht, dass von Nahles Wohltat bisher 1,6 Millionen Rentner profitierten, allein voriges Jahr waren es etwa 260 000. Nicht gedient hat dies der Solidität und Zukunftsfestigkeit der staatlichen Rentenkasse, Münteferings Reform hingegen schon.

Ein Blick auf die Fakten zeigt: Das Renteneintrittsalter ist in Deutschland wieder merklich gestiegen. Als Müntefering 2006 sein Projekt ins Werk setzte, gingen Männer im Durchschnitt mit 63,4 Jahren in Rente. 2019, so zeigen die neuesten Daten, geschah das um fast ein Jahr später. Bei Frauen ist der Effekt noch stärker zu erkennen: Vor 15 Jahren wechselten auch Frauen mit 63,4 Jahren in den Ruhestand, 2019 lag diese Schwelle bereits bei 64,6 Jahren.

Es war richtig, das Renteneintrittsalter zu erhöhen, aber die Reform hat auch einen Webfehler

Münteferings Reform diente einem noch immer gut begründbaren Ziel: Sie bewirkt in der Rentenversicherung eine gleichmäßigere und damit gerechtere Verteilung der Lasten zwischen den Generationen. Als Folge des höheren Renteneintrittsalters muss länger eingezahlt werden, dafür bekommt man, über die Dauer gerechnet, weniger raus. So werden auch die künftigen Rentner an den Kosten der steigenden Lebenserwartung beteiligt.

Nahles ging es um etwas ganz anderes - um einen minimal-invasiven Eingriff, der vordergründig wie Gerechtigkeit aussah, aber mit Absicht nur die Jahrgänge vor 1953 bis 1963 begünstigt. Wer 45 Jahre lang an die Rentenkasse gezahlt hatte, durfte zunächst mit 63 in Ruhestand gehen. Doch dann schrumpft der Zeitvorteil - bis für den Jahrgang 1964 wieder die alte Regel gilt: Wer 45 Jahre gearbeitet hat, darf mit 65 in Rente. Das war in Münteferings Konzept so und wird auch so bleiben.

Wahr ist aber: Münteferings Reform hat einen Webfehler. Wer schwere körperliche Arbeit etwa auf dem Bau oder in der Pflege zu leisten hatte, schaffte es auch schon damals selten, bis zur abschlagsfreien Rente durchzuhalten. Für solche Beschäftigten bedeutet jede Erhöhung der Altersgrenze eine unbillige Härte. Hier wäre Korrektur geboten. Dieses Problem hat aber auch Nahles nicht gelöst. Ihr Eingriff half vor allem Industriearbeitern.

Heute muss der Bund immer höhere Zuschüsse an die Rentenversicherung leisten: Längst ist die Marke von 100 Milliarden Euro pro Jahr überschritten. Für den Bundesetat, der infolge der Pandemie auf 500 Milliarden Euro anschwoll, bedeutet das eine Belastung, die weiter steigen wird. Das hat nicht zuletzt damit zu tun, dass sich die große Koalition unter Kanzlerin Angela Merkel zu Beginn dieser Legislaturperiode auf einen vermeintlich komfortablen Weg verständigte: Sie führte eine "doppelte Haltelinie" ein - bis 2025 soll der Rentenbeitrag die 20-Prozent-Marke nicht reißen, für das Rentenniveau gilt ein Mindestwert von 48 Prozent. Der Staat hat sich verpflichtet, etwaige Lücken zu schließen. Der Koalition erschien das als bequeme Lösung: Sie müsste weder Beitragszahlern noch Rentnern wehtun.

Die Corona-Pandemie und ihre wirtschaftlichen Folgen hat keiner vorhergesehen. Was daraus noch für die Rentenpolitik folgt, lässt sich derzeit kaum seriös prognostizieren. Vor allem alte Menschen sterben an oder mit dem Virus, die statistische Lebenserwartung ist im vergangenen Jahr bereits leicht gesunken.

So viel kann man aber sagen: Alle, die heute für die Renten verantwortlich sind, können froh sein, dass Müntefering vor 15 Jahren den Mut besaß, langfristig Entlastung zu schaffen. Eines sah er klug voraus: Je länger die Politik warten würde, desto schwerer wäre ein höheres Rentenalter durchzusetzen. Heute ist die Hälfte der Wähler um die 54 Jahre alt oder älter. Jede Partei, die nun das Rentenalter anheben wollte, würde bei Wahlen bestraft.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: