Süddeutsche Zeitung

Rente mit 63:Gerechtes System oder verkehrte Welt?

Mit ihrer Rentenreform anerkennt Arbeitsministerin Nahles die Leistung von Menschen, die sehr lange gearbeitet haben, findet Heribert Prantl. Aber sie passt nicht zu unserer alternden und schrumpfenden Gesellschaft, meint Marc Beise zur Rente mit 63.

Ein Pro und Contra

Die "Rente mit 63" nach 45 Beitragsjahren ist nicht das Signal, den Ruhestand wieder generell früher beginnen zu lassen. Sie ist eine Ungerechtigkeitskorrektur - und ein erster Schritt in eine richtige Richtung, denn: Die Nahles-Reform führt behutsam weg von einer festen Altersgrenze.

An deren Stelle tritt am Ende hoffentlich ein individuelles Renteneintrittsalter. Es gibt dann kein bestimmtes Rentenalter für alle mehr, sondern für alle einen bestimmten Beitragszeitraum. Wer dann (zum Beispiel) 45 Jahre lang Rentenbeiträge bezahlt hat, kann in Rente gehen, ohne wie heute Strafkürzungen dafür erdulden zu müssen, dass er ein bestimmtes Lebensalter noch nicht erreicht hat.

Der eine geht also dann künftig strafabschlagsfrei mit 62 Jahren in Rente, weil er schon früh zu arbeiten angefangen hat, der andere erst mit 69 oder 70, weil er erst einmal studiert hat und spät ins Berufsleben eingetreten ist. Die Nahles-Reform stößt die Tür auf zu diesem guten System.

Mehr Entscheidungsfreiheit

Dieses System entspricht den immer unterschiedlicheren Lebens- und Erwerbsverläufen; es gibt den Menschen mehr Entscheidungsfreiheit; sie können ihr Alter selbstbestimmter gestalten als bisher: Wer in Rente gehen will, bevor die festgelegte Beitragszeit erreicht ist, kann das tun, muss aber Abschläge in Kauf nehmen; wer über die festgelegten Beitragsjahre hinaus arbeiten will, kann das auch tun und so seine Rente erhöhen.

Ein solches System wäre gerecht, es wäre der große Perspektivenwechsel in der Rentenpolitik; es wäre Anreiz, länger für mehr Rente zu arbeiten; es brächte mehr Gleichbehandlung für die Versicherten. Jeder erhält nach der für alle festgelegten Beitragszeit seine ungekürzte Rente, deren Höhe sich an den Einzahlungen bemisst.

Nur ein solches System ist eine kluge Konsequenz aus den demografischen Veränderungen. Franz Müntefering hat, als er die "Rente mit 67" einführte, daraus eine unkluge Konsequenz gezogen: Seine Rente mit 67 war ein schönfärberisch verpacktes Sparprogramm; eine Rentenkürzung, kaschiert mit dem richtigen Hinweis darauf, dass die Menschen älter werden. Seine Kürzungsreform hat die sozialen Probleme verschärft: Sie hat die Probleme der Rentenkasse in die Sozialkasse umgeschaufelt - weil den rentenreduzierten Rentnern ja zumindest das Sozialhilfeniveau gesichert werden muss.

Nahles korrigiert die Ungerechtigkeiten wieder. Das Vermaledeite an der Müntefering-Rente liegt ja darin, dass derjenige, der früher in Rente geht, massive Rentenkürzung hinnehmen muss. Viele gehen gar nicht freiwillig, sie tun es nicht, um sich einen Lenz zu machen; sie können einfach nicht mehr - weil sie ausgepowert sind oder keine Arbeit mehr finden; sie gehen nicht in Rente, sie werden in Rente gegangen. Ein Langzeitarbeitsloser wird, auch wenn er verzweifelt Arbeit sucht, zum frühest möglichen Zeitpunkt verrentet, auch wenn er damit hohe Rentenkürzungen hinnehmen muss - denn die Rente geht dem Hartz-IV-Anspruch vor.

Enteignung und Entmündigung

So sieht die Müntefering'sche Rente mit 67 aus: Wer zwischen seinem 63. und seinem 67. Lebensjahr in Rente geht, also "vorzeitig", verkürzt damit nicht nur seine Rente um die Beiträge, die er ja nun, weil nicht mehr arbeitend, nicht mehr einzahlt; das wäre in Ordnung. Müntefering hat ihm noch eine weitere Kürzung aufgedrückt: Wer vor 67 in Rente geht, wird durch einen "Zugangsfaktor" gestraft. Dieser kürzt die Rente um jährlich 3,6 Prozent, das macht bei vier Jahren über 14 Prozent aus - egal wie lange der Mensch schon Beiträge in die Rentenversicherung einbezahlt hat. Gekürzt wird einfach deswegen, weil er schon vor 67 in Rente geht. Soll das gerecht sein? Das ist Enteignung und Entmündigung per Rentengesetz.

Betroffen davon sind die Leute mit eher kurzer Ausbildung und körperlich schweren Tätigkeiten. Sie haben im Verhältnis zu Akademikern zwar länger Beiträge bezahlt; weil sie niedriger entlohnt wurden, fallen aber auch ihre Renten niedriger aus. Deren kleine Renten werden also noch zusätzlich gekürzt. Dieses System Müntefering hat zwei fatale Folgen. Erstens: Die Schere zwischen den Rentnern, denen es gut geht, und solchen, die darben, öffnet sich weiter. Zweitens: Immer mehr Menschen, die für billiges Geld arbeiten mussten und öfter arbeitslos waren, fallen mit ihren Renten unter das Grundsicherungsniveau. Jede zweite Rente liegt derzeit unter 700 Euro.

Müntefering hat das Problem in die Sozialkasse verschoben. Ist das generationengerecht? Armutsverhinderungskosten müssen, egal aus welchem Topf sie bezahlt werden, von den Generationen getragen werden, die im Erwerbsleben stehen - wollen sie die Alten nicht verelenden lassen.

Die Nahles-Reform ist Ausdruck der Wertschätzung für Menschen, die sehr lange gearbeitet haben; sie bewahrt viele Menschen vor dem Gang zum Sozialamt. Und die Reform ist schließlich Ausgangspunkt dafür, das System der Altersgrenze so zu verändern, dass es der neuen Arbeits- und Altersgesellschaft entspricht.

Von wegen Gerechtigkeit. Letztlich muss die nächste Generation die Nahles-Rente bezahlen - dabei hätte auch sie einen Anspruch auf Gerechtigkeit. Marc Beise argumentiert auf der nächsten Seite, warum die Rente mit 63 im Widerspruch zur gesellschaftlichen Wirklichkeit steht - und ein Männer-Gesetz ist.

Das Beste, was man über die Rentenpläne der Koalition sagen kann, ist, dass sie gut gemeint sind. Sie sollen für mehr Gerechtigkeit sorgen, das ist das Anliegen der SPD-Politikerin Andrea Nahles. Das Gerechtigkeitsargument mag man vielleicht noch nachvollziehen, insofern man den einzelnen Arbeitnehmer in den Blick nimmt, den heute 62-Jährigen beispielsweise, der auf die geforderten 45Beitragsjahre kommt und also bald schon mit 63 ohne Abschläge in Rente gehen kann. Wobei schon hier diskutiert werden kann, ob das wirklich eine Frage der Gerechtigkeit ist oder einfach eine zusätzliche Sozialleistung des Staates.

Dafür wird das Gerechtigkeitspostulat an zahlreichen anderen Stellen verletzt. So muss die Maßnahme letztlich von der nächsten Generation bezahlt werden - dabei hat auch sie einen Anspruch auf Gerechtigkeit. Die Koalition aber verfährt nach dem Prinzip: Geld spielt keine Rolle, und nach uns die Sintflut.

Die Nahles-Reform kostet zwei bis drei Milliarden Euro jährlich, die vorläufig noch aus einer gut gefüllten Rentenkasse bezahlt werden können. Nimmt man andere geplante Maßnahmen dazu wie die von vor allem von der Union betriebene Ausweitung der Mütterrente sowie noch andere Leistungsausweitungen, dann kommt man auf neun bis elf Milliarden Euro pro Jahr. Das macht bis 2030atemberaubende 160 Milliarden Euro.

Das wird, sauber durchgerechnet zu heutigen Zahlen, dazu führen, dass ab 2019 die Kasse leer ist. Dann bleibt nur der Weg über höhere Beiträge der Arbeitsbevölkerung und/ oder Leistungskürzungen zukünftiger Rentner oder eine direkte Steuerfinanzierung. Wenn der Beitragssatz wie üblich auch für die Arbeitgeber erhöht wird, kostet das Arbeitsplätze. Ist das alles gerecht?

Eine weitere Ungerechtigkeit wird mit einem Achselzucken hingenommen, die sonst immer gerne problematisiert wird: die Benachteiligung von Frauen und Müttern. Sie kommen nämlich typischerweise nicht auf die langen Arbeitszeiten. Das Nahles-Gesetz ist ein Männer-Gesetz.

Und obendrein hat die taz, die des Beifalls bei Sozialabbau üblicherweise unverdächtig ist, auf eine ganz spezielle Ungerechtigkeit hingewiesen: Die Nahles-Pläne benachteiligten ausgerechnet die Arbeitslosen der Ära Rot-Grün gegenüber jenen der Helmut-Kohl-Jahre, denn die großzügige Anrechnung von Arbeitslosenzeiten soll nicht für Hartz-IV-Zeiten gelten, sondern nur für jene Jahre, in denen Arbeitslosengeld bezogen wurde: Das aber wurde unter Kohl viel länger als seit den Agenda-2010-Reformen.

Länger arbeiten und einzahlen

Gut gemeint, aber unvernünftig: Die Rente mit 63 steht im klaren Widerspruch zur gesellschaftlichen Wirklichkeit. Es ist doch offensichtlich, dass sich die Bundesrepublik gravierend verändert. Die Menschen in Deutschland werden immer älter und immer weniger. Wenn das bestehende Rentensystem, das immer noch maßgeblich auf dem Umlageverfahren basiert (die aktiven Arbeitnehmer zahlen für die Rentner), weiter funktionieren soll, muss länger gearbeitet und in die Rentenkasse eingezahlt und später ausgezahlt werden.

Diese Entwicklung korrespondiert mit jener am Arbeitsmarkt. Der Wirtschaft fehlen schon heute Fachkräfte; bis 2020 wird die Anzahl der Arbeitskräfte um sechs Millionen schrumpfen. Die Mitarbeiter, die weiter händeringend gebraucht werden, bekommen nun das Signal: Ihr könnt früher gehen, und das ist gut so. Mittelständler berichten, dass die Botschaft schon angekommen ist. "Chef, ich bin dann bald weg", das ist kein Einzelfall, und er ist nicht notwendigerweise ein Hinweis auf ein schlechtes Betriebsklima. Sondern eben: Ausdruck des Zeitgeistes, des Nahles-Zeitgeistes.

Wenn aber die Menschen immer älter werden und immer länger leistungsfähig bleiben, dann ist es widersinnig, mit Mitte 60 ans Aufhören zu denken. Schon die Rente mit 67 konnte nur ein erster Schritt sein, mittlerweile wird es darum gehen, bis 69 oder 70arbeiten zu müssen - oder, gegen Abschläge, früher zu gehen. In Skandinavien beispielsweise hat man daraus die richtige Konsequenz gezogen und das Renteneintrittsalter an die Lebenserwartung gekoppelt.

Natürlich muss man dann verstärkt flexible Elemente einbauen, die auf die unterschiedlichen Bedürfnisse und Fähigkeiten je nach Lebensalter eingehen. Niemand will den sprichwörtlichen Dachdecker noch mit 69 aufs Haus schicken, übrigens aber auch nicht mit 65 oder auch 63. Anstatt aber die Wirtschaft zu altersflexiblen Modellen zu animieren, bekommen Konzerne jetzt das Signal, dass man bei geschickter Organisation Menschen auf Staatskosten bereits mit61 Jahren in die Frühverrentung schicken kann.

Verkehrte Welt.

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Quelle:
SZ vom 01.02.2014/cag
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