Rente:Die Altersarmut wird sich deutlich verschärfen

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Nach mehr als 35 Jahren Arbeit endlich einen gesicherten Ruhestand. Dafür soll die Grundrente sorgen. (Foto: Patrick Pleul/dpa)

Wissenschaftler sagen vorher, dass es deutschen Rentnern in 20 Jahren wesentlich schlechter gehen wird. Das gilt besonders für fünf gesellschaftliche Gruppen.

Von Alexander Hagelüken

Bei ihrem Forschungsprojekt in der Seniorenwelt traf Irene Götz auf den Fall einer früheren Altenpflegerin. Die Dame, so schildert es die Münchner Professorin, war einst in leitender Stellung tätig. Trotzdem fand sie, gehbehindert wie sie nun ist, im Ruhestand in München keine Wohnung mit Aufzug, die sie sich leisten konnte. Also schlief sie jahrelang in der Wohnung ihrer Tochter - auf einem Klappbett im Gang.

Altersarmut schien in Deutschland lange Zeit kein großes Problem mehr zu sein. Anfang der Nullerjahre beantragte nicht mal jeder fünfzigste Senior die sogenannte Grundsicherung, wie die Sozialhilfe für Ruheständler heißt. Inzwischen ist dieser Anteil etwas gestiegen. Aber noch immer gehen die meisten Wissenschaftler davon aus, dass die Armut unter Senioren weit geringer ist als in anderen Altersgruppen der Gesellschaft. Das Sozialsystem hat demnach also gut funktioniert. Aber es gibt zwei Probleme: verdeckte Armut - und einen besorgniserregenden Trend.

Wer sich wie die frühere Altenpflegerin keine passende Unterkunft leisten kann, taucht nicht unbedingt in der Statistik auf. In den vergangenen zehn Jahren haben sich die Mieten in deutschen Großstädten verdoppelt. Auch alte Menschen stellt dies vor Schwierigkeiten in dem Heimatort, in dem sie vielleicht große Teile ihres Lebens verbracht haben.

Hunderttausende Rentner beantragen keine Grundsicherung

Dann ist da die Dunkelziffer. Zahlreiche Senioren beantragen die Sozialhilfe im Alter gar nicht, obwohl sie ihnen zustehen würde, weil ihre Rente so niedrig ausfällt. Weil sie nicht wissen, dass sie das tun könnten, oder weil sie sich schämen, nach einem langen Arbeitsleben den Staat um Geld angehen zu müssen. Oder sie scheuen es, dem Mitarbeiter vom Amt ihre persönlichen Verhältnisse offenzulegen.

Die Verteilungsforscherin Irene Becker schätzt, dass Hunderttausende Ruheständler keine Grundsicherung beantragen, obwohl sie weniger als das Existenzminimum von knapp 800 Euro inklusive Wohnung zur Verfügung haben. Manche Berechnungen gehen davon aus, dass zwei Drittel aller Berechtigten ihren Anspruch nicht wahrnehmen. Die Scham mancher Senioren ist ein Motiv dafür, warum die SPD die Grundrente dieses Frühjahr ohne jede Prüfung der Bedürftigkeit gestalten wollte - keiner sollte durch die Maschen fallen.

Der besorgniserregende Trend ist, dass sich die Altersarmut in den nächsten Jahrzehnten deutlich verschärfen wird. Jeder vierte Bundesbürger hat laut Umfragen Angst davor, dass es bei ihm oder ihr im Alter knapp wird. Sozialorganisationen gehen davon aus, dass sich der Anteil an Ruheständlern, die Sozialhilfe beziehen müssen, in den nächsten zehn Jahren auf zehn Prozent vervielfacht.

"Selbst bei einer positiven Arbeitsmarktentwicklung müssen wir in den kommenden 20 Jahren mit einem deutlichen Anstieg der Altersarmut rechnen", heißt es in einer aktuellen Studie der Bertelsmann-Stiftung und des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW). Demnach steigt die Armutsrisikoquote der Rentner von etwa 17 Prozent bis Ende der 2030er-Jahre auf knapp 22 Prozent. Als armutsgefährdet gilt, wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens der gesamten Bevölkerung zur Verfügung hat.

Besonders Mütter sind im Alter stark armutsgefährdet

Fachleute sorgen sich vor allem um fünf gesellschaftliche Gruppen, die besonders oft im Ruhestand knapp dran sein werden. Da sind Migranten. Außerdem Ostdeutsche, die nach der Wiedervereinigung ihre Stellung verloren und lange Zeit keine fanden - oder wenig verdienen.

Eine weitere Risikogruppe sind Menschen, die einen kleinen Handwerksbetrieb oder ein Nagelstudio eröffnen. Diese Einzelkämpfer-Selbständigen ohne Beschäftigte sind meist nicht in der gesetzlichen Rentenversicherung und sorgen oft auch privat wenig fürs Alter vor. Wenn dann die Geschäfte schlecht laufen, fehlt ihnen später Geld. Eine weitere Risikogruppe sind Menschen, die länger arbeitslos waren und/oder zu Niedriglöhnen arbeiten. Letzteres hat seit der Globalisierung und den Arbeitsmarktreformen der Agenda 2010 zugenommen.

Eine besonders große Risikogruppe sind Mütter. Viele pausieren beruflich wegen des Nachwuchses jahrelang. Danach arbeiten sie oft nur teilweise oder tun sich schwer mit dem Wiedereinstieg in den Beruf. Wer lange in mäßig bezahlter Teilzeit tätig war, hat im Alter wenig Rente zu erwarten - was nach einer Scheidung besonders hart wird. Die durchschnittliche Frauenrente fällt schon heute mit gut 600 Euro gering aus.

Der ursprüngliche SPD-Plan wäre wenig zielgenau und teuer gewesen

Die Forscher von Bertelsmann und DIW haben untersucht, wie unterschiedliche Grundrentenkonzepte die Altersarmut dämpfen. Im Koalitionsvertrag hatten Union und SPD ein bestimmtes Modell mit harter Bedürftigkeitsprüfung verabredet. Eine Grundrente nach diesem Prinzip hätte die Armutsrisikoquote kaum gesenkt, so die Forscher. Der ursprüngliche SPD-Plan vom Frühjahr ohne jede Prüfung hätte die Armutsgefährdung immerhin um drei bis vier Prozentpunkte reduziert.

Allerdings wäre der SPD-Plan wenig zielgenau und damit teuer gewesen, weil er auch nicht Bedürftigen zugutegekommen wäre. Ein gravierendes Problem ist, dass nach den Vorstellungen der Koalition nur eine Grundrente bekommt, wer 35 Jahre in die Rentenversicherung einzahlte. Doch das ist bei vielen, denen im Alter Armut droht, nicht der Fall. Die Forscher empfehlen, diese Grenze zu lockern - aber das kostet natürlich ziemlich viel Geld.

© SZ vom 11.11.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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