Corona-Krise:Unwucht bei der Rente

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Während viele Arbeitnehmer in der Corona-Krise mit sinkenden Löhnen klarkommen und mit steigenden Rentenbeiträgen rechnen müssen, haben Rentner auf Jahre hinaus keine Abstriche an ihren Bezügen zu befürchten. (Foto: Karl-Josef Hildenbrand/dpa)

Ökonomen werfen Sozialminister Heil vor, er habe unbemerkt an einer wichtigen Schraube des Rentensystems gedreht. Die Folge: Die Wirtschaftskrise treffe nun vor allem Arbeitnehmer - und schone Rentner.

Von Hendrik Munsberg, München

Hubertus Heil zählt zu den wichtigen Politikern im Kabinett von Kanzlerin Angela Merkel - besonders in Corona-Zeiten. Der SPD-Minister für Arbeit und Soziales sorgt mit dem Kurzarbeitergeld gerade dafür, dass Millionen Beschäftigte finanziell besser über die Runden kommen. Und, erfreulich für Millionen Rentner: Zum 1. Juli werden ihre Bezüge spürbar angehoben - um 3,45 Prozent im Westen und 4,2 Prozent im Osten.

Wenn jetzt der Freiburger Rentenexperte Bernd Raffelhüschen via Bild fordert, wegen der Corona-Krise müssten die angekündigten Rentenerhöhungen ausgesetzt werden, kann Heil das kühl an sich abperlen lassen. Derartige Eingriffe würden schließlich das Vertrauen in die staatliche Alterssicherung gefährden. Es gilt der Grundsatz: Die Anpassung der Renten folgt der Lohnentwicklung im Vorjahr, und die verlief 2019 bekanntermaßen günstig.

Die Pandemie wird deutliche Spuren in der Rentenkasse hinterlassen

Trotzdem entbrennt nun ein Streit, der für den Minister höchst unangenehm werden dürfte - je länger die Corona-Krise dauert und je schlimmer die wirtschaftlichen Folgen ausfallen. Namhafte Ökonomen werfen Heil jetzt vor: Der Minister habe 2018 eine Korrektur am Rentensystem vorgenommen und der Öffentlichkeit dabei eine wichtige Einzelheit vorenthalten. Nun komme durch Heils Entscheidung eine Unwucht ins Verhältnis zwischen Beitragszahlern und Rentnern: Während viele Arbeitnehmer in der Corona-Krise mit sinkenden Löhnen klarkommen und auch mit steigenden Rentenbeiträgen rechnen müssen, haben Rentner auf Jahre hinaus keine Abstriche an ihren Bezügen zu befürchten.

Es sind zwei ausgewiesene Fachleute der deutschen Rentenpolitik, die Professoren Bert Rürup und Axel Börsch-Supan, die Heil jetzt vorwerfen, dass er 2018 unbemerkt an einer wichtigen Stellschraube des Rentensystems drehte: Er habe den 2009 vom damaligen SPD-Sozialminister Olaf Scholz eingeführten "Nachholfaktor" ausgesetzt, ohne ausreichend über die Folgen zu informieren. "Das war ein Fehler", kritisiert Rürup. Für Börsch-Supan ist so "die Balance zwischen den Jungen und den Alten außer Kraft gesetzt" worden.

Worum genau geht es? Diesen "Nachholfaktor" hatte Scholz, heute Finanzminister, seinerzeit angesichts der Finanzkrise eingeführt - zum Ausgleich für die ebenfalls von ihm eingeführte "Rentengarantie". Wozu das alles? Mit der "Rentengarantie" stellte Scholz damals sicher, dass die Ruhestandsbezüge - trotz sinkender Löhne - nicht gekürzt werden können. Und mit dem "Nachholfaktor" sorgte er für ein Korrektiv nach folgender Logik: Sobald sich die Wirtschaft erholt und auch die Löhne wieder steigen, sollten die dann möglichen Rentenerhöhungen nur halb so hoch ausfallen wie nach der Rentenanpassungsformel eigentlich vorgesehen - und zwar solange, bis die zuvor vermiedene Rentenkürzung wieder ausgeglichen ist. Diese Regelung, so sah es Scholz, sorge für Gerechtigkeit zwischen Jungen und Alten, zwischen Beitragszahlern und Rentnern.

Die Krise trifft die Erwerbsbevölkerung hart. Die Nettolöhne sinken

Heil aber schaffte den Nachholfaktor faktisch ab. Am 29. August 2018 brachte er den "Rentenpakt für Deutschland" durchs Kabinett. Damit wurde, wie im Koalitionsvertrag mit der Union vereinbart, eine "doppelte Haltelinie" festgeschrieben. Demnach darf das Rentenniveau die Marke von 48 Prozent bis zum Jahr 2025 nicht unterschreiten; derzeit liegt es bei 48,21 Prozent. Darüber hinaus wurde zeitgleich für den Beitragssatz - gegenwärtig 18,6 Prozent - ein Maximalwert von 20 Prozent festgezurrt. Außerdem gab Heil noch ein weiteres Versprechen ab: Weil "die Stabilisierung des Systems der Altersvorsorge eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe" sei, übernehme "der Staat über einen erhöhten Zuschuss aus Steuern zusätzliche Verantwortung".

Und ganz nebenbei stand da noch ein harmlos anmutender Satz, dessen Tragweite offenbar nicht mal Fachleuten wie Rürup und Börsch-Supan auffiel: "Hierfür wird die "Rentenanpassungsformel" entsprechend "ergänzt", hieß es da lapidar. War das ein Hinweis, dass Heil den "Nachholfaktor" bis 2025 außer Kraft setzte?

Heute sagt Rürup: Es war falsch, "dass Hubertus Heil das damals ohne Not geändert hat." Schließlich seien sinkende Löhne "seinerzeit überhaupt nicht absehbar" gewesen. Börsch-Supan wirft Heil vor, dass er "das damals still und heimlich gemacht" habe. "Aus Generationengerechtigkeit" ergebe "die Rentengarantie nur Sinn, wenn man auch einen Nachholfaktor hat." So aber werde "die Balance zwischen den Jungen und den Alten außer Kraft gesetzt."

Jetzt, etliche Wochen nach Ausbruch der Corona-Krise, ist klar, dass die deutsche Wirtschaft gerade in die vermutlich schwerste Rezession seit den 1930er-Jahren abstürzt. Die Löhne werden als Folge der sprunghaft angestiegenen Kurzarbeit mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit 2020 deutlich sinken, wie sehr, kann man vorerst nur schätzen. Börsch-Supan hat mehrere Krisenszenarien durchgerechnet. Sein Fazit: Die Corona-Pandemie werde "deutliche Spuren in der gesetzlichen Rentenversicherung hinterlassen". Die Effekte seien aber "stark asymmetrisch - zugunsten der Rentenempfänger".

Als Folge der Rentengarantie werde 2021 bei sinkenden Löhnen das Rentenniveau sogar deutlich steigen - "und zwar umso mehr, je tiefer die Rezession ausfallen wird". Klingt paradox? Mag sein, liegt aber an der Definition des Rentenniveaus: Es beschreibt das Verhältnis zwischen der Rentenhöhe (nach 45 Jahren Beitragszahlung bei durchschnittlichem Einkommen) und dem durchschnittlichen Einkommen eines Arbeitnehmers. Das Rentenniveau ist also nur eine relative Größe, deren Wert steigt, wenn die Einkommen der Arbeitnehmer sinken.

Vor allem die "Erwerbsbevölkerung", so prognostiziert Börsch-Supan, werde von der Corona-Krise getroffen - weil die Nettolöhne sinken. Das liege auch daran, dass die Rentenversicherungsbeiträge steigen werden. Würde der "Nachholfaktor noch gelten", so Börsch-Supan, so hätte er "dafür gesorgt, dass dieser Effekt sich wieder ausgleicht".

Für Beschäftigte bleibt da nur ein kleiner Trost: Bis 2025 hat Hubertus Heil die Rentenbeiträge bei 20 Prozent gedeckelt. Fehlendes Geld in der Rentenkasse muss also der Bund zuschießen - anfänglich 3,3 und danach zehn Milliarden pro Jahr extra, so schätzt Börsch-Supan. Die Frage ist nur, wie lange sich der Staat die vielen Milliarden noch leisten kann.

© SZ vom 13.05.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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