Rekordtief des Leitzins:Mär von der Enteignung

"Enteignung" und "Repression" - mit diesen Schlagworten wird Angst unter Anlegern verbreitet, nachdem die Europäische Zentralbank den Leitzins auf ein Rekordtief gesenkt hat. Doch mit einer Enteignung der Sparer hat der Schritt nichts zu tun. Was die Zinssenkung tatsächlich bedeutet.

Ein Kommentar von Nikolaus Piper

Vorige Woche war wieder die Zeit der starken Worte. Nachdem die Europäische Zentralbank (EZB) ihren Leitzins auf 0,25 Prozent gesenkt hatte, meinte Sparkassenpräsident Georg Fahrenschon: "Niedrigzinsen führen zu dauerhaften Verlusten der Sparer, die quasi einer Enteignung gleichkommen, weil sie bei ihren Anlagen negative Realzinsen hinnehmen müssen." Zuvor schon hatten Lobbyisten, Anlageberater und Medien die "Finanzrepression" beklagt, die durch die niedrigen Zinsen ausgeübt werde.

"Enteignung" und "Repression" - solche Worte verbreiten Angst. Angst um die eigenen Ersparnisse, Angst um die Altersrücklagen insgesamt. Höchste Zeit also für ein paar Klarstellungen. Die Zinssenkung der EZB mag falsch gewesen sein, weil deren Präsident Mario Draghi den Rückgang der Teuerung in Europa überinterpretiert hat. Mit einer Enteignung der Sparer jedoch hatte der Schritt nichts zu tun. Es war der Versuch der Notenbank, auf die immer noch labile Konjunktur zu reagieren und einer zerstörerischen Deflation vorzubeugen.

Niedrigzinsen sind Folge der Krise, nicht der EZB-Politik

Wohl wahr: Seit der Finanzkrise von 2008 sind die Zinsen auf Spareinlagen so niedrig, dass sie nicht mal mehr die Inflation ausgleichen. Die Niedrigzinsen schaden den Sparern, sie schaden auch den Kunden von Lebensversicherungen, deren Erträge sinken. Nur ist dies eben eine Folge der Krise, genauer: der Schuldenexzesse, die ihr vorausgegangen sind, und nicht der Politik der EZB.

Die EZB und - in noch stärkerem Maße - die amerikanische Federal Reserve reagieren auf die verbreitete Risikoscheu der Investoren. Sie senken die Zinsen, weil sie hoffen, dass sie so mehr Investitionen und Wachstum generieren. Die Euro-Krise ist dabei ein wichtiger Faktor, aber nicht der einzige.

Der Zusammenhang wird klar, wenn man sich für einen Augenblick vorstellt, die EZB handelte anders und erhöhte, um den Sparern entgegenzukommen, ihren Zins auf 4,25 Prozent. Das wäre der Satz, den die EZB im September 2008 verlangte, als die heiße Phase der Finanzkrise begann.

Die absehbaren Folgen wären eine dramatische Aufwertung des Euro und eine neue Rezession, negatives Wachstum, Deflation und der Zwang für viele Arbeitnehmer, ihre Ersparnisse aufzulösen, weil sie ihren Job verlieren. Sie stünden also viel schlechter da als heute. Das Gedankenexperiment zeigt: Im Zusammenhang mit niedrigen Zinsen von "Enteignung" zu sprechen, ist einfach sinnlos.

Sparer haben Alternativen

Ähnlich ist es mit der "Finanzrepression". Der Begriff ist wichtig für die Analyse von Staatsverschuldung. Die amerikanischen Ökonomen Kenneth Rogoff und Carmen Reinhart definieren Finanzpression so: Der Staat leitet private Ersparnisse in seine eigenen Schuldtitel um, er deckelt die Renditen und versperrt den Sparern Alternativen. All dies kommt einer indirekten Steuer auf die Ersparnisse der Bürger gleich.

Finanzrepression findet heute in der Volksrepublik China statt, wo strenge Kapitalverkehrskontrollen das Geld der Sparer im Land halten. Finanzrepression fand auch auf den streng regulierten Kapitalmärkten Westeuropas und der USA von 1945 bis etwa 1980 statt. Finanzrepression half den USA, die Last ihrer Kriegsschulden zu verringern, wobei der Effekt nicht überschätzt werden sollte - wichtiger war das hohe Wirtschaftswachstum der 50er- und 60er-Jahre.

Höhere Zinsen für höheres Risiko

Auch heute fördern die Regierungen die Anlage in Staatspapieren, und zwar ganz unabhängig von der Euro- und der Finanzkrise. Nach dem deutschen Bürgerlichen Gesetzbuch werden Bundes- und Länderanleihen als "mündelsichere" Anlageformen privilegiert. Den entsprechenden Paragrafen 1807 des BGB als "Finanzrepression" zu bezeichnen, käme allerdings niemandem in den Sinn. Es wäre auch absurd - nicht viel absurder allerdings als niedrige Zinsen mit dem Begriff zu belegen. Repression geht anders.

Der entscheidende Punkt: Sparer haben Alternativen. Auch für ein sehr begrenztes Mehr an Risiko bekommt man Zinsen, die die Inflation übersteigen. Ein Sparer mag sich mit guten Gründen gegen das höhere Risiko und für negative Realzinsen entscheiden - worauf es ankommt, ist, dass er überhaupt die Wahl hat.

Zehnjährige Bundesanleihen bringen heute eine Rendite von 1,77 Prozent. Das liegt zwar knapp über der Inflationsrate (1,2 Prozent im Oktober), ist aber im historischen Vergleich extrem niedrig. Der Grund für die Minirendite ist nicht die Politik der EZB, es ist der Zustrom von Kapital aus der ganzen Welt. Deutsche Bundesanleihen gelten als sicherer Hafen, in dem man vor aller Unbill geschützt ist. Das Ergebnis ist für Sparer unangenehm. Aber es hat nichts mit Repression zu tun - und erst recht nichts mit Enteignung.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: