Süddeutsche Zeitung

Tourismus:Wohin die Reise geht

Es war ein harter Sommer für die deutschen Reisebüros, viele von ihnen stehen kurz vor der Pleite. Hat der stationäre Verkauf von Urlaub überhaupt noch eine Zukunft?

Von Sonja Salzburger

Neulich kam ein Kunde in Tamara Behrens' Reisebüro und begrüßte sie mit den Worten: "So einen Job wie Sie hätte ich auch gerne - schön am Handy sitzen während der Arbeitszeit." "Sie müssen auch mal die negative Seite sehen", antwortete die 29-Jährige aus dem niedersächsischen Rühen ihrem Besucher. "Nämlich, dass ich seit eineinhalb Jahren kein Geld verdiene. Wollen wir immer noch tauschen?"

Die deutschen Reisebüros haben harte Monate hinter sich. Zwar blicken zum Ende der Sommersaison im September viele Ladenbesitzer optimistischer in die Zukunft als noch im August. Gleichzeitig bewerten lediglich 8,4 Prozent der Inhaber die aktuelle Lage als gut, mehr als die Hälfte (55 Prozent) spricht noch immer von einer schlechten Lage. Das ist das Ergebnis des 200. Touristischen Vertriebsklimaindex der Münchner Unternehmensberatung Dr. Fried & Partner, eines vom Ifo-Index inspirierten Pulsmessers für die Reisebranche.

Wie unmittelbar die Touristik von den Entwicklungen der Pandemie und den daraus resultierenden politischen Entscheidungen abhängig ist, lässt sich am Buchungsvolumen ablesen, wie eine Erhebung der Firma Travel Data + Analytics zeigt. Anfang des Jahres mussten die Reisebüros aufgrund des Lockdowns geschlossen bleiben, genau in der Zeit, in der normalerweise am meisten zu tun ist. Das Geschäft lag am Boden. Mit dem Abebben der dritten Welle Ende Mai gab es Hoffnung auf einen normalen Sommer - und zahlreiche Buchungen. Doch schon kurze Zeit später wurde Spanien zum Hochinzidenzgebiet erklärt und vor der Ausbreitung der Delta-Variante in Italien und Griechenland gewarnt. Die Folge war eine Stornierungswelle. Hinzu kommen beratungsintensive Kunden, die deutlich mehr Änderungswünsche haben als früher, und Veranstalter, die ständig umplanen müssen. "Jede Buchung, die ich tätige, fasse ich mittlerweile mindestens drei- bis fünfmal an", sagt die Touristikerin Behrens.

Reisebüros verdienen ihr Geld mit Provisionen der Veranstalter, wenn sie deren Angebote verkaufen. Die Höhe dieser Provisionen liegt meist zwischen sechs und zwölf Prozent des Gesamtpreises. Das Geld gehört ihnen aber erst, wenn der Kunde die Reise auch wirklich antritt. "Wenn ich heute eine Reise für Dezember 2023 verkaufe, dann verdiene ich daran zweieinhalb Jahre keinen einzigen Cent", sagt Behrens. Früher habe sie sich trotzdem über jede Buchung gefreut. Heute könne sie das nicht mehr - zu groß sei die Sorge, dass pandemiebedingt noch etwas dazwischenkomme, zum Beispiel eine Reisewarnung der Bundesregierung.

Die Politik hält die Reisebüros mit Überbrückungshilfen am Leben

Auf der einen Seite haben in diesem Sommer politische Entscheidungen das Geschäft der Touristiker gedämpft. Auf der anderen Seite hält die Politik einen Großteil der Reisebüros mit Überbrückungshilfen und Kurzarbeitergeld überhaupt noch am Leben. Viele von ihnen standen schon vor der Corona-Krise stark unter Druck, weil viele Menschen ihre Reisen mittlerweile lieber im Internet buchen.

"Für mich ist die große Frage, wie sich der Kuchen in Zukunft verteilt", sagt Tourismusexperte Markus Heller von Dr. Fried & Partner. Er schätzt, dass ungefähr 20 Prozent der Reisebüros in Deutschland das kommende Jahr nicht überstehen werden. "Vor der Krise lagen wir bei etwa 11 000 Reisebüros, und ich gehe davon aus, dass es auf 9000, vielleicht nur noch 8000 runtergeht", sagt Heller.

Auch Marija Linnhoff, die Vorsitzende des Verbands unabhängiger selbständiger Reisebüros, erwartet viele Pleiten, spätestens im Frühjahr 2022, wenn die Überbrückungshilfen aufgebraucht sind. Dies sei aber auch im Interesse jener Reisebüroinhaber, die gute Arbeit leisten. "Wir brauchen eine Marktbereinigung, damit wir endlich wieder Geld verdienen können", sagt Linnhoff, deren Verband aktuell etwa 7000 Mitglieder zählt.

In der Branche wird viel darüber debattiert, wie sich der stationäre Reisevertrieb für die Zukunft aufstellen muss. Manche Reisebüroinhaber fragen sich, ob sie weiterhin nur als Vermittler beziehungsweise Handelsvertreter zwischen Kunden und Veranstaltern auftreten sollen oder ob es sich für sie lohnen könnte, auch eigene Reisen mit selbstkalkulierten Margen zu organisieren. Die Anzahl derjenigen, die sich für diesen Schritt gut gerüstet sehen, ist bislang jedoch gering. Laut einer Umfrage des Forschungsinstituts Centouris der Universität Passau unter 265 Reisebüros wollen 57 Prozent am Handelsvertreterstatus festhalten. Sie begründen dies einerseits mit rechtlichen Bedenken hinsichtlich der Veranstalterhaftung und teuren Insolvenzversicherungen, andererseits mit der Sorge vor einem hohen organisatorischen Aufwand und mangelnder Erfahrung mit selbst organisierten Reisen.

Ein weiteres heiß diskutiertes Thema ist die Erhebung von Beratungsgebühren, um unabhängiger von Provisionen zu sein. Durchschnittlich acht bis neun Stunden benötigen Menschen laut Tourismusexperte Markus Heller, wenn sie einen Urlaub eigenständig planen und online buchen. "Reisebüros können hier helfen, das wertvolle Zeitbudget ihrer Kunden zu optimieren", sagt er. In vielen anderen Ländern sei es selbstverständlich, dass guter Service etwas koste. Heller ist überzeugt, dass sich diese Erkenntnis in absehbarer Zeit auch in Deutschland durchsetzen wird. Der Konzern DER Touristik etwa hat für seine 500 Filialen bereits vor einem Jahr Beratungsgebühren eingeführt, Tui hat im Mai dieses Jahres nachgezogen. Doch die Serviceentgelte sind umstritten - und dass sie allein keine Lösung sind, zeigt sich schon daran, dass die Mitarbeiter der 400 Tui-Reisebüros von Oktober an wieder in Kurzarbeit geschickt werden.

Die gesamte Branche muss digitaler werden

Und nicht zuletzt geht es in der Diskussion um die Zukunft der Reisebüros auch um die Frage, wem es gelingt, das Internet nicht nur als lästige Konkurrenz, sondern auch als Chance zu sehen. Laut der Unternehmensberatung Dr. Fried & Partner haben vor der Pandemie etwa 60 Prozent der Pauschalreisenden ihre Urlaube im stationären Reisebüro gebucht. Dieser Wert dürfte in Zukunft deutlich niedriger ausfallen. Umso wichtiger wird es, dass die Inhaber Strategien entwickeln, wie sie Kunden auch online für sich gewinnen können. Eine schicke Website allein reicht da nicht aus. Manche Büros bieten bereits Beratungen via Videotelefonie oder Whatsapp an. "Ich denke, Onlineberatungen mit einer vertrauten Kundenbasis werden in Zukunft nicht mehr wegzudenken sein", sagt Tourismusexperte Heller.

Reisebüroinhaberin Behrens berät auf diese Weise bereits Kunden aus ganz Deutschland. Außerdem hat sie beim Marketing gute Erfahrungen mit Social Media gemacht. In der Corona-Krise erfand sie den "Fernweh-Freitag": Zum Wochenende postet sie auf Instagram Fotos von ihren eigenen Reisen, um Urlaubslust zu wecken und eine jüngere Zielgruppe anzusprechen. "Das lenkt mich auch ein bisschen von meinen persönlichen Sorgen ab", sagt die 29-Jährige. Älteren Reisebüroinhabern, denen Social Media eher fremd ist, empfiehlt sie, ihre Azubis damit zu betrauen. "Die können sich da richtig austoben."

Fraglich ist allerdings, ob es überhaupt genug Azubis gibt, die diese Aufgabe übernehmen können. Lediglich 621 Nachwuchskräfte begannen 2020 ihre Ausbildung als Tourismuskaufmann oder -frau, so die Statistik des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK). Das waren 1000 Azubis weniger als im Vorjahr - ein noch nie da gewesenes Minus von 62 Prozent. Für 2021 liegen noch keine Zahlen vor, aber eine Erholung gilt als unwahrscheinlich.

Reisebüroinhaberin Tamara Behrens würde sich trotz allem wieder für ihren Beruf entscheiden. Viele Bekannte hätten sie gefragt, ob sie in Zukunft nicht etwas anderes als Reisen verkaufen wolle, aber das komme für sie nicht infrage. "Mein Herzblut steckt in der Touristik", sagt Behrens. "Mein Büro ist mein Baby, das kann ich nicht einfach aufgeben."

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