Punkt elf Uhr war Schluss in Frimmersdorf, eine gute Woche ist es her. Nach rund 50 Jahren Laufzeit gingen die letzten beiden Blöcke des Braunkohlekraftwerks im Rheinland vom Netz - die große Koalition hatte sie eingemottet. Die Frage ist: Wie viele werden demnächst folgen?
Wenn Union, FDP und Grüne bald ihre Koalition sondieren, wird das eine der heikelsten Fragen. Mit wenig sind die Grünen im Wahlkampf so vorgeprescht wie mit dem Kohleausstieg. Schon bis 2020, so forderten sie, müssten die 20 schmutzigsten Kohlekraftwerke vom Netz gehen. Ein Kohleausstiegsgesetz soll dafür sorgen, dass bis 2030 kein Strom mehr aus Kohle gewonnen wird. Für die Grünen geht es bei dem Thema um Prinzipien und Glaubwürdigkeit. "Der Kohleausstieg ist für uns eine Schlüsselfrage", sagt die Grünen-Politikerin Annalena Baerbock, die auch im 14-köpfigen Sondierungsteam ihrer Partei sitzt. "Da führt schon aufgrund des Pariser Klimaabkommens kein Weg daran vorbei."
Um Prinzipien geht es auch der FDP: um Marktprinzipien. Energiepolitik, so hatten die Liberalen im Wahlkampf gefordert, dürfe "nicht zur Verbotspolitik" werden. "Wir wollen marktwirtschaftliche Anreize und keine Verzichts- und Verbotsideologie mit staatlicher Gängelung", hieß es im Wahlprogramm. Staatliche Gängelung - ein verordneter Kohleausstieg ist aus Sicht der FDP nichts anderes. Lieber würde sich die Partei auf Europas Emissionshandel verlassen. Er zwingt die Kraftwerksbetreiber, für jede Tonne Kohlendioxid ein Zertifikat vorzuweisen. Weil die Menge der Zertifikate begrenzt ist, bildet sich ein Preis - der dann den Einsatz von Kohle verteuert. Allerdings liegt der Emissionshandel seit mehreren Jahren auf der Intensivstation: Der Aufpreis für Klimaverschmutzung ist marginal, die Wirkung nahe null. Die Wiederbelebung ist bisher nicht gelungen.
Der Druck zur Einigung ist groß, auch für die Kanzlerin. Angela Merkel hat ihr eigenes Klimaziel im Nacken, ausgerufen 2009 von einer schwarz-gelben Koalition: Bis 2020 sollen die klimaschädlichen Emissionen um 40 Prozent unter den Wert von 1990 gefallen sein. Doch drei Jahre vor dem Stichtag fehlen mehr als zehn Prozentpunkte zum Ziel. Und seit dem Wahlkampf steht Merkel im Wort: "Wir werden Wege finden, wie wir bis 2020 unser 40-Prozent-Ziel einhalten", hatte sie bei einer der Wahlarenen einer Teilnehmerin geantwortet. "Das verspreche ich Ihnen."
Ohne die Abschaltung von Kohlekraftwerken dürfte das kaum gelingen: Sie stehen für ein Drittel aller Emissionen im Land. Anders als im Straßenverkehr, in Heizungskellern oder Viehställen lässt sich hier so ein Kanzlerinnen-Versprechen sogar kurzfristig umsetzen. Bloß: wie?
Die scheidende Koalition wollte zu dem Zweck eine "Klimaabgabe" erheben. Die Abgabe sollte ältere Kraftwerke weniger rentabel machen und so aus dem Markt zwingen. Doch das Projekt von Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) scheiterte am Widerstand von Kohlelobby und Gewerkschaften. Übrig blieb die "Sicherheitsbereitschaft": Bei fünf alten Kohlekraftwerken werden dafür Blöcke in den Ruhestand versetzt, um nach vier Jahren ganz vom Netz zu gehen - so auch die beiden Blöcke in Frimmersdorf, die seit dem 1. Oktober stillstehen. Der Haken: Bis zum endgültigen Aus finanzieren die Stromkunden die Reserve. So kostet die Sterbehilfe allein für die fünf Kraftwerke 1,6 Milliarden Euro. Da wird die FDP gar nicht begeistert sein: Es gibt noch knapp hundert andere.
Druck kommt allerdings auch von Umweltexperten. Vorige Woche gab der Sachverständigenrat für Umweltfragen seine jüngste Stellungnahme heraus: "Kohleausstieg jetzt einleiten". Ähnlich den Grünen fordert auch der Rat, besonders schmutzige Anlagen bis 2020 stillzulegen. Obendrein müsse eine neue Regierung den deutschen Kohlekraftwerken, derzeit verantwortlich für gut 350 Millionen Tonnen Kohlendioxid im Jahr, ein Emissionsbudget von 2000 Millionen Tonnen auferlegen. Danach wäre Schluss. Peu à peu müssten sie vom Markt verschwinden. "Das letzte Kraftwerk muss in spätestens 20 Jahren vom Netz gehen", sagt Claudia Kemfert, Energiewissenschaftlerin am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung und Mitglied des Sachverständigenrates. Blaupause für so einen Ausstieg könnte der Atomausstieg sein - seit vorigem Dezember sogar vom Verfassungsgericht abgesegnet.
Doch für die FDP bleibt so ein Eingriff schwer verdaulich - auch wenn sie 2011 letzte Hand an den Atomausstieg angelegt hatte. Während die Union in ihrem Programm zumindest den langfristigen Ausstieg aus der Braunkohle einräumt, findet sich bei der FDP kein Wort dazu. Ein sprechfähiger Energiepolitiker ist in der neuen Fraktion noch nicht aufzufinden.
Eine Gemeinsamkeit gibt es: Alle bekennen sich zum Klimavertrag von Paris
Also doch über den Markt? Theoretisch ginge das - bei einem sehr hohen Preis für Emissionszertifikate. Den Grünen schwebt dafür ein Mindestpreis für Kohlendioxid vor: So ließe sich Kohlestrom künstlich verteuern - und zwar am stärksten in Kraftwerken mit hohen Emissionen. Aber auch hier läuft die Front quer zwischen FDP und Grünen: Einen Mindestpreis lehnen die Liberalen kategorisch ab. Für manche Grüne ein Déjà-vu: Als sie 2013 eine Koalition mit der Union sondierten, war der CO₂-Mindestpreis einer der größten Streitpunkte. Die Gespräche scheiterten.
Gegen die Kohlefrage verblassen alle anderen Energiethemen. Die FDP etwa will auch bei der Förderung erneuerbarer Energien mehr Markt. Doch seit die Förderung für Wind- und Solarparks nur noch per Ausschreibung vergeben wird, hat diese Forderung an Kraft verloren - nie war die Energiewende so marktnah wie heute. Die Wende hin zu erneuerbaren Energien stellt keiner der Jamaika-Partner mehr in Frage. Streit könnte es da schon eher über die Frage geben, wie viele neue Wind- und Solarparks ausgeschrieben werden müssen. Auch bei der Stromsteuer finden sich interessante Gemeinsamkeiten. Die FDP will sie senken und so Stromverbraucher entlasten. Die Grünen wollen sie senken und so Strom attraktiver machen - etwa für Elektroautos. Die Union hält sich, wie so oft, mit konkreten Aussagen zurück.
Über allem aber schwebt eine große Gemeinsamkeit: Alle bekennen sich zum Klimavertrag von Paris. "Darin steckt eine große Chance zum Aufbruch", sagt Energieexpertin Kemfert. "Diese Koalition könnte für die Energiewende eine Menge frischen Wind bringen." Wenn sie denn einig wird, auch jenseits diverser Prinzipien.