Süddeutsche Zeitung

Europäische Kommission:EU-Kommissar Gentiloni plant Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts

Die Reform soll den europäischen Staaten mehr Investitionen ermöglichen. Dabei steht vor allem der Klima- und Umweltschutz im Vordergrund. Doch der Vorstoß begeistert nicht überall.

Von Björn Finke, Brüssel

Die Regeln für solide Haushaltsführung in den Euro-Staaten könnten reformiert werden - mal wieder. EU-Währungskommissar Paolo Gentiloni schwebt vor, Regierungen mehr Spielraum für Investitionen zu geben, vor allem beim Klima- und Umweltschutz. Doch dieses Ansinnen ist umstritten, sogar innerhalb der EU-Kommission. Am Mittwoch startete der Reformprozess: Die Brüsseler Behörde präsentierte eine lang erwartete Analyse zu den Stärken und Schwächen dieser Haushaltsregeln, des Stabilitäts- und Wachstumspakts. Nun will sich die Kommission mit nationalen Regierungen und Parlamenten beraten, bevor Gentiloni bis Jahresende eventuell Änderungen vorschlägt.

Der frühere italienische Premierminister sagte am Mittwoch, dass sich die Herausforderungen für die Wirtschaftspolitik "seit der tiefen Krise vor zehn Jahren" geändert hätten - und sich darum auch die Haushaltsregeln ändern sollten: "Stabilität bleibt ein zentrales Ziel, aber genauso wichtig ist es, das Wachstum zu unterstützen und insbesondere die immensen Investitionen" für den Kampf gegen den Klimawandel zu ermöglichen. Die Kommission zieht in ihrer 20-seitigen Untersuchung zu den Wirkungen des Stabilitätspakts eine gemischte Bilanz: Zwar seien die Haushaltsdefizite der 19 Staaten mit der Euro-Währung seit der Finanzkrise gesunken. Doch einige Länder schöben weiter einen sehr hohen Schuldenberg vor sich her, und die Unterschiede beim Schuldenstand zwischen den Staaten seien groß.

Der 1997 eingeführte und mehrfach geänderte Pakt schreibt vor, dass das Haushaltsdefizit drei Prozent der Wirtschaftsleistung nicht überschreiten darf. Der Schuldenstand soll höchstens 60 Prozent der Wirtschaftsleistung betragen, was allerdings nur zehn Euro-Staaten erfüllen . In Italien, dem Heimatland des Währungskommissars, beträgt der Wert 136 Prozent. Ist der Fehlbetrag im Haushalt zu hoch, startet ein Defizitverfahren, in dem sich die Regierung verpflichtet, die Verstöße abzustellen. Im vergangenen Sommer endete solch ein Verfahren gegen Spanien; seitdem läuft keines mehr.

Das klingt erfreulich, doch in ihrer Analyse klagt die Kommission, dass die Regierungen in der Euro-Zone staatliche Investitionen gekappt haben. Dies bremst das Wachstum der Wirtschaft. Außerdem stellten viele Finanzminister pro-zyklische Haushalte auf: Während der Krise sparten sie und belasteten damit die Konjunktur noch weiter, und im Aufschwung versäumten sie es, die Ausgaben zu senken und Schulden abzubauen. In den kommenden Monaten will die Behörde mit allen Beteiligten diskutieren, ob Änderungen beim Stabilitätspakt helfen könnten bei beiden Problemen. Außerdem wird debattiert, ob der Pakt einfacher und verständlicher gestaltet werden kann. Nach diversen Reformen ist das Regelwerk sehr kompliziert.

Umstritten ist vor allem, ob der Pakt Regierungen mehr Spielraum für Investitionen gewähren sollte. Zum einen, um das Wachstum anzuschieben, zum anderen, um die ehrgeizigen Klimaschutzziele von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zu erreichen. Grüne Investitionen könnten dann etwa bei Haushaltsdefiziten herausgerechnet werden. Für solche und ähnliche Anpassungen ist es nicht einmal unbedingt nötig, dass die Kommission neue Gesetze vorschlägt und den eigentlichen Stabilitätspakt aufschnürt. Denn dieser beinhaltet bereits Klauseln zur Förderung staatlicher Investitionen. Die Klauseln sind aber eher restriktiv gehalten und werden von den meisten Staaten nicht genutzt. Ein Weg, das zu ändern, wäre, dass die Behörde ihre Anwendungsregeln anpasst. "Man kann viel allein dadurch machen, dass man diese Regeln anfasst", sagt ein hoher Kommissionsbeamter.

Währungskommissar Gentiloni spricht sich für mehr Flexibilität aus. Aber der italienische Sozialdemokrat ist nicht alleine für den Euro zuständig. Kommissions-Vizepräsident Valdis Dombrovskis redet ebenfalls mit. Und der Christdemokrat aus Lettland hält nicht viel von Lockerungsübungen und großen Umbauten. Bevor ein Reformprozess gestartet werde, "müssen wir wissen, dass wir ihn mit besseren Regeln abschließen können als den heutigen", sagte er kürzlich nach einem Treffen der EU-Finanzminister.

Tatsächlich würde es der Kommission sehr schwerfallen, unter den Mitgliedstaaten einen Konsens für größere Reformen herzustellen. Denn in den Hauptstädten gehen die Meinungen darüber weit auseinander, in welche Richtung sich der Pakt entwickeln soll. Länder mit hohen Schulden wie Italien fordern mehr Flexibilität. Staaten wie die Niederlande, denen Haushaltsdisziplin wichtig ist, klagen dagegen, die Kommission wende den Stabilitätspakt schon jetzt zu nachsichtig an: Nicht die Regeln seien das Problem, sondern die Umsetzung.

Immerhin sind sich die Regierungen weitgehend einig, dass der Pakt inzwischen sehr kompliziert ist. Doch selbst eine Vereinfachung dürfte heikel werden. Ein EU-Diplomat aus dem Lager der sparsamen Staaten sagt, Vereinfachung klinge gut, aber er fürchte, der Pakt könnte unter diesem Schlagwort aufgeweicht werden. Ein anderer Diplomat aus dem gleichen Lager klagt, dass die Debatte über die Förderung grüner Investitionen in die Irre führe: "Welche Staatsausgaben sind grün? Das ist schwierig festzulegen." Der CSU-Europaabgeordnete Markus Ferber stimmt zu. "Sobald wir anfangen, bestimmte Arten von Investitionen herauszurechnen, öffnen wir die Büchse der Pandora", sagt der wirtschaftspolitische Sprecher seiner Fraktion. "Auch für nachhaltige Investitionen gilt: Schulden sind Schulden."

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SZ vom 06.02.2020/mxh
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