Recht auf Vergessenwerden:Lobby für die Menschenwürde

Nach dem Google-Urteil des Europäischen Gerichtshofs zum Recht auf Vergessenwerden geraten die USA und Europa beim Datenschutz schon wieder aneinander. Warum eigentlich?

Von James Q. Whitman

Das Google-Urteil des Europäischen Gerichtshofs hat in Amerika ebenso für Schlagzeilen gesorgt wie in Europa. Auf beiden Seiten des Atlantiks ist man fasziniert vom "Recht auf Vergessenwerden". Doch nichts deutet darauf hin, dass der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten oder der Kongress jemals so urteilen würden. Im Gegenteil, das amerikanische Gesetz ist zutiefst lebensfeindlich.

Wieder einmal sind Amerika und Europa geteilter Meinung über den Datenschutz. Warum ist das so? Sorgen sich Amerikaner denn nicht um ihre Privatsphäre? Natürlich tun sie das. Aber um die transatlantic privacy wars zu verstehen, müssen wir uns klarmachen, wie sich das amerikanische Konzept von Privatsphäre vom kontinentaleuropäischen unterscheidet.

Amerikaner haben genauso wie Europäer Angst, dass ihre Privatsphäre verletzt wird. Doch die amerikanische Kultur unterscheidet sich von der europäischen Kultur, und amerikanische Ängste nehmen andere Formen an. Über dem amerikanischen Rechtssystem schwebt ein beständiger Schatten: der Schatten eines allmächtigen Staates. Der Grundwert im amerikanischen Recht ist Freiheit, und Amerikaner halten Regierungsbeamte für die größte Bedrohung ihrer Freiheit. Das bedeutet also, sie nehmen an, dass die größte Bedrohung ihrer Privatsphäre von Polizisten, Steuerprüfern und Gesetzgebern ausgeht.

Aus diesem Grund sehen Amerikaner die Welt völlig anders als Europäer.

Für Amerikaner könnte es keine ungeheuerlichere Verletzung ihrer Privatsphäre geben als die deutsche Meldepflicht. Wie kann denn die Privatsphäre sicher sein, wenn die Polizei jeden kontrolliert? Weil Amerikaner dem Staat grundsätzlich misstrauen, dreht sich die Diskussion um Privatsphäre hier um die Strafprozessordnung. Wenn Amerikaner von Privatsphäre sprechen, fordern sie zuerst Grenzen: Wie darf der Staat in einem laufenden Verfahren an belastendes Material gegen den Angeklagten gelangen? Sogar, wenn Kriminelle offensichtlich schuldig sind, hindert die amerikanische Gesetzgebung den Staat manchmal daran, sie zu verurteilen. Weil Amerikaner den Staat fürchten und ihm misstrauen, halten es viele für ihr wichtigstes Recht, eine Waffe zu besitzen - ohne dass der Staat sich einmischt. Für andere ist Abtreibung das wichtigste "Persönlichkeits"-Recht, selbstbestimmt und frei von staatlicher Beeinflussung.

Das Widersprüchliche daran: In Wirklichkeit behält der amerikanische Staat trotzdem eine beängstigende Macht. Nichtsdestotrotz bleibt ein Glaubensgrundsatz in der amerikanischen Gesetzgebung, dass der Staat der große Feind ist. Im Kern zielt unser Persönlichkeitsrecht darauf, den Staat aus unserem Alltag herauszuhalten. Im amerikanischen Persönlichkeitsrecht geht es um Freiheit. Kontinentaleuropa ist anders.

Auch für Europäer ist der Staat manchmal ein Risiko

Natürlich verstehen Europäer, dass der Staat manchmal ein Risiko für die Privatsphäre darstellen mag. Aber der Schatten, der über dem kontinentaleuropäischen Persönlichkeitsrecht liegt, ist nicht der des allmächtigen Staates. Es ist der Schatten der herumschnüffelnden Medien.

Im Kern versteht die europäische Gesetzgebung das Recht auf Privatsphäre als das Recht, das eigene Bild in der Öffentlichkeit kontrollieren zu können: Es ist das Recht, sich gegen erniedrigende und irreführende Informationen wehren zu können, die den sozialen Status einer Person und ihr Ansehen unzulässig beeinflussen können. Im Kern geht es hier dabei also um das Recht auf Würde und Ehre. Und meistens ist es eben nicht der Staat, der damit droht, beschämende Fakten über jemanden aufzudecken und auszubreiten, sondern es sind die Medien. Und hier besonders das Internet.

Daher bedeutet Europäern das Recht auf Vergessenwerden genauso viel, wie Amerikanern das Recht, eine eigene Waffe zu besitzen, und jenes, Beweise in einem Prozess zurückzuhalten, heilig sind.

Amerikanische Persönlichkeitsrechte stehen für Freiheit, europäische für Würde. Warum existieren diese kulturellen Unterschiede? Die Antwort darauf liegt - einige Jahrhunderte zurück - in der Geschichte. Um zu verstehen, warum sich unsere Sicht auf die Welt heute so sehr unterscheidet, muss man sich vor Augen führen, wie unterschiedlich sich unsere juristischen Traditionen und Gepflogenheiten seit dem 18. Jahrhundert entwickelt haben. Europas Bestrebungen, die persönliche Ehre und Würde zu schützen, sind keine junge Erfindung. Sie existierten schon vor der Französischen Revolution. Doch im 18. Jahrhundert und davor stand der Schutz von Ehre und Würde nur Personen der höchsten sozialen Stände zu, den Adeligen und einigen wenigen anderen. Solche "Ehrenmänner" hatten das Recht, ihre Ehre verteidigen zu können, wann immer ihr Image oder sozialer Status bedroht oder beschädigt worden war. Allerdings - das muss man nicht ausdrücklich erwähnen - verteidigten sie sich gegebenenfalls selbst in Duellen, nicht in ordentlichen Gerichtsverfahren.

Die lange Geschichte des europäischen Persönlichkeitsrechts ist die Geschichte der schrittweisen Ausweitung dieser Privilegien auf die gesamte Bevölkerung. Es ist die Geschichte einer Angleichung nach oben, die Geschichte des langsamen Triumphs jener Idee, dass jeder einzelne Europäer eine "ehrenvolle Person" ist; dass jeder einzelne Europäer das Recht hat, sich vor Verletzungen zu schützen. Und dass jeder einzelne Europäer dasselbe Persönlichkeitsrecht genießt wie, sagen wir, eine Prinzessin Caroline von Monaco.

Die Gleichheit hat auf beiden Seiten des Atlantiks verschiedene Gestalten angenommen

Die Geschichte dieser Angleichung ist nicht nur die Geschichte des europäischen Persönlichkeitsrechts. Es ist die Geschichte vieler juristischer Institutionen in Europa. Zum Beispiel können Amerikaner nicht verstehen, warum Kriminelle in Europa so viel humaner bestraft werden als in Amerika, weil sie nicht bedenken, dass europäische Strafgefangene den Schutz ihrer Würde genießen, der vor drei Jahrhunderten noch das exklusive Recht von "Ehrenmännern" war. Wir werden die Gepflogenheiten des Europäischen Sozialstaats nicht verstehen, bis wir die Kraft der europäischen Idee anerkennen, dass jeder ein Mindestmaß an Würde besitzt. Doch heute zeigt sich diese Tradition des Angleichens im Leben eines Europäers am präsentesten in seinem Persönlichkeitsrecht.

Es geht also nicht nur um das neue Recht auf Vergessenwerden, welches den Europäern in den kommenden Jahren ein wenig Vertrauen schenken könnte, dass sie ein makelloses Image bewahren können. Es geht auch um andere Grundsätze des modernen Alltags, wie etwa die Auskunft über die Kreditwürdigkeit, die in den Vereinigten Staaten eine wesentlich aufdringlichere Form annimmt als in Europa. Und natürlich geht es auch um den kommerziellen Ausverkauf von Kundendaten.

Die Geschichte des amerikanischen Gesetzes ist hier grundlegend anders. Weit entfernt von einer Angleichung nach oben hat sich das amerikanische Recht kontinuierlich nach unten eingependelt. Statt die Privilegien der Oberschicht auf alle Amerikaner auszuweiten, hat die amerikanische Gesetzgebung zwei Jahrhunderte lang daran gearbeitet, die Privilegien für alle abzubauen. Niemand genießt den Schutz von persönlicher Ehre und Würde in Amerika - weder Persons of Quality noch sonst irgendjemand. Und keine Initiative, ein Recht auf Vergessenwerden einzuführen, wird wohl darum jemals erfolgreich sein können. Genauso wenig werden sich unsere Gefängnisse und unsere Sozialsysteme zu Mindeststandards an Würde bekennen. Unsere Gesetze machen uns zu einem Land ohne einen gesetzlichen Schutz der persönlichen Ehre. Vereint sind wir nur in unserer Angst und unserem Misstrauen vor dem allmächtigen Staat.

Die Gleichheit bleibt zwar das gemeinsame Maß auf beiden Seiten des Atlantiks, aber diese Gleichheit hat in den letzten beiden Jahrhunderten verschiedene Gestalten angenommen: Auf der einen Seite hat sie sich dem Recht der Oberschicht angepasst, auf der anderen dem der Unterschicht. Die wiederkehrenden Konflikte zwischen den USA und Europa über Fragen des Datenschutzes sind eine Folge dieser unterschiedlichen Entwicklungen. Es ist wichtig hervorzuheben, wie sehr diese Konflikte mit der Politik der Ehre und Würde zu tun haben. Die Gestaltung unserer Welt unterliegt mehr als nur wirtschaftlichen Gegebenheiten. Amerika ist nicht alleine deswegen anders, weil es kapitalistischer ist oder anfälliger für den Einfluss von Google oder anderer gigantischer Unternehmen. Es liegt nicht nur daran, dass in Amerika das Geld herrscht.

Es liegt auch daran, dass Konzepte von persönlicher Ehre und Würde hier keine Lobby haben. Es liegt nicht daran, dass Amerikaner sich so sehr darum sorgen, wie sie reich werden können. Es liegt daran, dass Amerikaner wenig Sinn dafür haben, den sozialen Status von Menschen zu verbessern, egal, ob sie reich sind oder arm.

Die Schönheit des kontinentaleuropäischen Rechts liegt im Bekenntnis zur Würde. Wo auch immer die Schönheit des amerikanischen Rechts liegen mag - sie liegt anderswo.

James Q. Whitman ist Professor für Vergleichende Rechtswissenschaft an der Yale Universität.

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