Kommentar:Mehr verdienen für Europa

Lesezeit: 2 min

Die Tarifpartner haben in wichtigen Industrien zu Lohnabschlüssen gefunden, die die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands verringern. Für Europa sind die höheren Löhne allerdings ein versöhnliches Zeichen.

Von Nikolaus Piper

Die Deutschen sparen Europa kaputt? Von wegen. Nach den Abschlüssen der diesjährigen Tarifrunde in den wichtigsten Branchen - Metall, Chemie und öffentlicher Dienst - besteht kein Zweifel: Deutschlands Arbeitnehmer werden in diesem Jahr deutlich mehr Geld in der Tasche haben, und zwar real, also in Kaufkraft gemessen, und relativ, also im Vergleich zu den Unternehmensgewinnen. Was das bedeutet, ist mit ein wenig Tarifmathematik zu erklären: In der Chemie-Industrie sollen die Bruttolöhne um 2,8 Prozent steigen. Da die Geldentwertung gegenwärtig praktisch bei null liegt, ist der Nominalzuwachs real. Selbst wenn man Steuern und Sozialabgaben einrechnet, bleibt netto ein kräftiges Plus. Und weil die Produktivität um nicht mehr als ein Prozent steigen dürfte, gewinnen die Arbeitnehmer auch zulasten der Unternehmen. Verteilungsneutral wäre ein Abschluss von 1,0 bis 1,5 Prozent gewesen.

In der Metallindustrie werden die Löhne sogar um 3,4 Prozent steigen. Auch die Beschäftigten der Länder bekommen schließlich ein kräftiges Real-Plus. Im historischen Vergleich sieht das schon fast wie eine Rückkehr zur Normalität aus. Nach einer langen Phase des Sparens und der Zurückhaltung gibt es endlich wieder etwas zu verteilen. Dazu passt, dass auch in der größten Volkswirtschaft der Welt, in den Vereinigten Staaten, unter ganz anderen Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt, die Reallöhne wieder steigen.

Doch ganz so einfach ist die Sache nicht. Die Tarifschlüsse dieses Frühjahrs sind ganz unterschiedlich zu beurteilen, je nachdem, aus welcher Perspektive man sie betrachtet.

Rein ökonomisch gesehen sind die Abschlüsse, vor allem in der Metallindustrie, nicht unproblematisch. Die Lohnstückkosten als Maßstab für die Lohnkosten pro produziertem Gut, steigen, die Wettbewerbsposition der deutschen Betriebe verschlechtert sich also. Auch im vergangenen Jahr sind, anders als es viele politische Debatten suggerieren, die Lohnstückkosten bereits gestiegen. Das wird insofern etwas relativiert, als diese Kosten zuvor ein Jahrzehnt lang gesunken waren, was in der Folge dazu beitrug, die Arbeitslosigkeit in Deutschland so schnell zu senken. Die Unternehmen können sich also, vor allem angesichts der günstigen Konjunktur, durchaus etwas leisten. Das Problem ist nur, dass dieses "Etwas" notorisch überschätzt wird. Das scheint in der Metallindustrie der Fall gewesen zu sein.

Für höhere Tariflöhne spricht allerdings, dass in vielen Betrieben die Fachkräfte knapp werden. Die Aussicht auf gut bezahlte Jobs bringt mehr junge Leute dazu, sich als Techniker oder Ingenieur ausbilden zu lassen. Die Frage ist: Was ist mit den 2,8 Millionen Menschen, die auch heute noch nach Arbeit suchen? Ihnen nutzen Tarifverträge, die mehr als den Verteilungsspielraum ausschöpfen, überhaupt nichts.

Es gibt aber noch eine andere Sicht auf die diesjährige Tarifrunde, und dies ist politischer Natur. Die Mehrzahl der deutschen Arbeitnehmer hat, bis zum vergangenen Jahr, eine lange Zeit der Sparsamkeit hinter sich gebracht. Diese Sparsamkeit war gut begründet. Deutschland hatte um die Jahrtausendwende an Wettbewerbsfähigkeit eingebüßt, Ifo-Präsident Hans-Werner Sinn fragte damals in einem erfolgreichen Buch: "Ist Deutschland noch zu retten?" Dann kam die Finanzkrise mit einem dramatischen Einbruch der Produktivität. Nun tut es dem gesellschaftlichen Klima gut, wenn höhere Reallöhne signalisieren: Die Zeiten werden wirklich besser. Man kann tatsächlich Lohnzuwächse nachholen, unter der Voraussetzung allerdings, dass alle Beteiligten wissen, dass man sich in Zukunft wieder an den Verteilungsspielraum halten muss. Ob diese Voraussetzung gegeben ist, müssen IG Metall, IG BCE und Verdi beantworten.

Schließlich hat die Tarifrunde eine europapolitische Komponente. Handelspartner Deutschlands innerhalb und außerhalb der EU drängen die Deutschen seit Langem dazu, mehr Geld auszugeben. Zwar wird der unterstellte Mechanismus - die Deutschen bekommen höhere Löhne, sie geben mehr Geld für ausländische Waren aus, die Handelsdefizite der anderen werden kleiner - so einfach nicht funktionieren. Aber das Risiko einer Deflation wird mit dieser Tarifrunde sicher kleiner und Deutschland kann seine Interessen in Europa besser vertreten, wenn das Argument mit dem "Kaputtsparen" widerlegt ist. Das klingt opportunistisch und ist es auch. Aber in ungewöhnlichen Zeiten kann man diesen politischen Aspekt ökonomischen Handelns nicht völlig ignorieren.

© SZ vom 31.03.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: