Der Kuipergürtel befindet sich jenseits des Planeten Neptun, dort ziehen Zehntausende Asteroiden und Kleinplaneten wie Pluto ihre Bahnen. So weit wird die von Amazon geplante Konstellation für Internetsatelliten nie fliegen, trotzdem ist das Projekt nach dem Astronomen Gerard Peter Kuiper benannt, der den Asteroidengürtel aus Theorien hergeleitet hat.
Das Project Kuiper wird nun die Auftragsbücher für die europäische Trägerrakete Ariane 6 doch schneller füllen als gedacht. Abgesehen davon, dass sich deren Erstflug bisher mehr als zwei Jahre verzögert hat, war der Hersteller Ariane-Group bislang weit davon entfernt, wie geplant jährlich elf Raketen bauen zu können. Die Aufträge fehlten, den hohen Investitionen in den Fabriken folgten Kurzarbeit und Entlassungen.
Nun könnte man sagen: Gleichsam eines Deus ex Machina rettet Milliardär Jeff Bezos das Ariane-Programm. Startdienstleister Arianespace und Amazon haben an diesem Dienstag bei einem Raumfahrt-Symposium in Colorado Springs, USA, bekannt gegeben, dass der Bezos-Konzern 18 Ariane-Raketen bestellt hat, um Satelliten für sein Project Kuiper in den Erdorbit zu bringen. Ziel des Projektes ist es, den Zugang zu globalem Breitbandinternet insbesondere in unterversorgten Regionen zu verbessern. Amazon hat zudem Verträge mit der United Launch Alliance ULA (Boeing, Lockheed Martin) und Bezos' Raketenhersteller Blue Origin abgeschlossen - für sage und schreibe bis zu 65 weitere Starts mit US-Raketen. Project Kuiper soll mit Elon Musks Starlink-Internetsatelliten konkurrieren. Bei den insgesamt 83 Starts handelt es sich nach Amazon-Angaben um die umfangreichste kommerzielle Beschaffung von Trägerraketen überhaupt, das Auftragsvolumen ist vertraulich.
"Es ist der bei Weitem wichtigste Vertrag, den Arianespace in 40 Jahren für die Ariane unterzeichnet hat", sagt Arianespace-Chef Stéphane Israël der Süddeutschen Zeitung. "Ende 2019 meldete sich eine Mitarbeiterin des Project Kuiper in unserem Büro in Washington D.C. und sagte: 'Hey Leute, ich habe etwas für euch, und es wird groß sein!'", erzählt er.

Die 18 Flüge sollen Israël zufolge innerhalb von drei Jahren stattfinden. Zunächst sollen zwei Ariane-Raketen Satelliten in den niedrigen Orbit bringen. Dabei handelt es sich um die größere Raketenversion Ariane 64, die in diese Höhe 20 Tonnen Nutzlast befördern kann. Um für Amazon zusätzliche Satelliten unterzubringen, muss Ariane-Group die Booster der Rakete für die weiteren 16 Flüge um einen Meter verlängern. Dadurch wird mehr Platz für Treibstoff geschaffen, und die Nutzlast-Kapazität steigt um zwei Tonnen. Je nach Gewicht der Satelliten könnte die Ariane XXL etwa fünf Einheiten mehr transportieren, insgesamt ungefähr 35 bis 40. Die ersten Raketen sollen nach SZ-Informationen 2024 starten.
Die Steuerzahler sollen sich am Umbau der Rakete beteiligen
Was Ariane-Group anscheinend lange umgetrieben hat, sind die Entwicklungskosten, die für den Umbau der Ariane-Rakete notwendig sind, in Branchenkreisen ist von 300 bis 400 Millionen Euro die Rede. Bisher kostet sie rund vier Milliarden Euro. Die Ariane-Group, die bereits 400 Millionen Euro in die Ariane 6 gesteckt hat, will sich nach eigenen Angaben wieder selbst beteiligen. Auch der Steuerzahler soll erneut einspringen. So will die Raumfahrtagentur Esa bei der Ministerratskonferenz im November Branchenkreisen zufolge von den Mitgliedsländern rund eine Milliarde Euro einsammeln, um etwa Kosten durch die Pandemie und eben die Weiterentwicklung der Ariane 6 zu finanzieren. Man wolle damit jedoch ausdrücklich nicht Jeff Bezos subventionieren, so ist zu hören. Eine erweiterte Ariane 6 sei auch für Esa-Missionen und andere kommerzielle Aufträge hilfreich, heißt es.

"Es ist ohne hohe öffentliche Investitionen nicht möglich, zukunftsfähige Trägerraketen zu haben", sagt Israël und verweist auch auf die Falcon 9 von Musks Raumfahrtunternehmen Space-X, die auch mit Aufträgen von Nasa und Air Force finanziert werde. Er ist davon überzeugt, dass sich dies durch zusätzliche kommerzielle Aufträge auszahlen werde. "Je weniger Starts Sie haben, desto teurer wird es für den öffentlichen Sektor" - und desto unzuverlässiger würden die Raketen. Gerade im Hinblick auf Megakonstellationen wie Kuiper oder auch das geplante EU-Breitbandsatellitennetz seien große Launcher nötig. "Ja, es gibt einen riesigen Markt, und dies ist erst der Anfang der Geschichte", sagt er. "Wenn wir den Bedarf zugrunde legen, benötigen wir mindestens elf oder zwölf Ariane 6 pro Jahr und vielleicht sogar mehr." Dass es angesichts des Krieges in der Ukraine Probleme geben könnte, genug Raketen zu bauen, sieht er nicht. Die Komponenten der Esa-Rakete seien "nicht mit Russland oder der Ukraine verbunden" und "daher von der derzeitigen Krise nicht betroffen".
Pierre Godart, Finanzchef und Deutschlandchef der Ariane-Group, ist optimistisch, die Produktion schnell hochfahren und die Werke anpassen zu können. "Mit allen anderen Verträgen, die wir bereits unterschrieben haben, werden wir die Kadenz von bis zu zwölf Raketen pro Jahr 2024/2025 erreichen können", sagt er der SZ. "Der Auftrag ist eine extrem gute Nachricht für uns und die europäische Launcherindustrie." Die Hersteller fürchteten bisher, dass sie die geplanten Stückzahlen wegen einer Nachfrage-Flaute bei Weitem nicht erreichen können. Es sind zwar bereits rund 15 Flüge für die Ariane 6 gebucht, jedoch für einen Zeitrahmen bis Ende des Jahrzehnts. Folge war, dass die Hersteller in den deutschen Werken Kurzarbeit fahren mussten. "Mit diesem Auftrag sichern wir nun diese Arbeitsplätze." Er zeige, "dass es einen kommerziellen Markt für die Ariane 6 gibt und dass unsere Technologie konkurrenzfähig ist", sagt Godart. Der Erstflug wird für Ende des Jahres erwartet, bis dahin stehen noch diverse Tests an. "Wir haben noch nie vor einem Erstflug so viele Raketen verkauft, und dann auch noch mehrheitlich an einen kommerziellen Kunden in großem Stil", freut sich Godart. Hans Steininger, Chef des größten deutschen Zulieferers MT Aerospace, spricht von einem "Wendepunkt" in der Geschichte der Ariane 6. "Das sind hervorragende Neuigkeiten für unser Unternehmen und den Produktionsstandort Augsburg".

Amazon-Tochter Kuiper Systems hat bereits im Sommer 2020 die Genehmigung der US-Regulierungsbehörde FCC (Federal Communications Commission) bekommen, ein Netz von 3236 Breitband-Internetsatelliten in rund 600 Kilometern Höhe aufbauen zu dürfen. Die Hälfte soll bis Ende Juli 2026 platziert werden, der Rest bis Ende Juli 2029. Amazon investiert nach früheren Angaben mehr als zehn Milliarden Dollar. "Wir werden mehrere Startpartner benötigen, um unseren Zeitplan einzuhalten", kommentierte Amazon im April 2021. Damals hatte der Konzern bereits neun Atlas-V-Raketen der ULA bestellt. Nun kommen 38 ULA-Starts mit deren neuer Rakete Vulcan Centaur hinzu. Aus Bezos' eigener Fabrik Blue Origin bucht Amazon zudem zwölf Starts mit der Großrakete New Glenn, mit Option für weitere 15 Starts.
Amazon steht unter Zeitdruck
Schon im vierten Quartal 2022 sollen zwei Kuiper-Prototypen mit einer Kleinrakete der kalifornischen Firma ABL Space Systems starten. Solche Kleinraketen reichen zwar für Testflüge aus, doch um gleich 40 oder 50 Satelliten mit je 260 Kilo Gewicht auf einmal ins All zu bekommen, wie es Space-X bei seiner Internetkonstellation Starlink macht, sind größere Raketen nötig. Mit rund 40 Starts kreisen mittlerweile mehr als 2300 Starlink-Satelliten um die Erde.
Amazon braucht also ebenfalls viele Raketen, und dies in relativ kurzer Zeit, weil der Konzern die Fristen der FCC einhalten muss, um die Lizenzen nicht wieder zu verlieren. Dass alle gebuchten Raketentypen bisher noch nie geflogen sind, deutet also auf einen gewissen Zeitdruck hin, wovon Ariane auch profitieren dürfte. Und dass Bezos Falcon-Raketen seines Rivalen Elon Musk bucht, ist unwahrscheinlich. "Die Sicherung von Startkapazitäten bei mehreren Anbietern war von Anfang an ein wichtiger Bestandteil unserer Strategie", sagt Rajeev Badyal, Vice President of Technology für das Project Kuiper. "Dieser Ansatz reduziert das Risiko, das mit dem Ausfall von Launch Vehicles verbunden ist."
Kuiper stößt mit dem Auftrag übrigens auf die griechische Sagengestalt Ariadne, nach der die Esa die europäische Rakete benannt hat.