Süddeutsche Zeitung

Ratgeber:Für Überstunden gibt es Grenzen

Viele Erwerbstätige arbeiten mehr, als in ihrem Arbeits- oder im Tarifvertrag festgelegt ist - und nicht immer tun sie das freiwillig. Im Arbeitsrecht aber gibt es dafür Regeln.

Von Catrin Gesellensetter

Dienst nach Vorschrift, auch wenn der Schreibtisch überquillt? Für das Gros der Erwerbstätigen scheint das keine Option zu sein. In einer aktuellen Umfrage des globalen Personaldienstleisters ADP gaben rund 71 Prozent der Arbeitnehmer in Deutschland an, regelmäßig Überstunden zu leisten. Und zwar unbezahlt. Das ist europäische Spitze. Für Gewerkschaftsvertreter mag das ein erschreckender Befund sein. Juristisch zu beanstanden ist diese Praxis aber nicht unbedingt. Denn ein höheres Stundenpensum rechtfertig nicht in jedem Fall auch ein höheres Gehalt. Was Arbeitnehmer deshalb wissen sollten.

Was sind eigentlich Überstunden?

Das Gesetz selbst verwendet den Begriff nicht. Maßgeblich sind daher die Vorgaben des Arbeits- beziehungsweise des Tarifvertrags. Verwenden Beschäftigte mehr als die dort niedergelegte Zeit auf ihren Job, spricht man von Überstunden.

Wie viele Überstunden sind erlaubt?

Das ist von Fall zu Fall unterschiedlich. Das Arbeitszeitgesetz schreibt lediglich vor, dass Arbeitnehmer pro Woche im Normalfall nicht mehr als 48 Stunden arbeiten sollen. Damit könnten Beschäftigte also von Montag bis Samstag jeweils acht Stunden am Band oder im Büro verbringen, ohne gegen das Gesetz zu verstoßen. "Sieht der Arbeitsvertrag eine klassische 40-Stunden-Woche von Montag bis Freitag vor, sind daher acht Überstunden pro Woche problemlos erlaubt", präzisiert Stefan Lochner, Fachanwalt für Arbeitsrecht bei Beiten Burkhardt in München. In Einzelfällen kann die Arbeitszeit sogar auf bis zu 60 Stunden pro Woche steigen. "Das Arbeitszeitgesetz erlaubt eine tägliche Höchstarbeitszeit von zehn Stunden, wenn sichergestellt ist, dass sich die Durchschnittsbelastung innerhalb von sechs Monaten wieder auf acht Stunden pro Tag einpendelt", so der Jurist.

Müssen Arbeitnehmer auch gegen ihren Willen Überstunden machen?

Grundsätzlich gilt, dass Arbeitnehmer nur dann mehr arbeiten müssen, wenn der Chef die Mehrarbeit anordnet und auch anordnen darf. In der Regel sieht der Arbeitsvertrag aber eine solche Ermächtigung zugunsten des Arbeitgebers vor. Hält sich der Chef dann auch noch an die Vorgaben des Arbeitszeitgesetzes, haben Arbeitnehmer schlechte Karten, wenn sie die Mehrarbeit verweigern. Zwar verlangt die Rechtsprechung in solchen Fällen, dass Arbeitgeber auch die Belange der Belegschaft berücksichtigen müssen. "Es braucht aber schon sehr gute Argumente, um sich aus der Pflicht zu stehlen, wenn ein Großauftrag hereinkommt, den es in Sonderschichten zu bearbeiten gilt", sagt Paul Brummer, Arbeitsrechtler bei Pusch Wahlig Workplace Law in Berlin. "Wer nicht gerade vorbringen kann, dass er an diesem Tag goldene Hochzeit feiert oder die Beerdigung eines nahen Angehörigen besuchen muss, riskiert eine Abmahnung."

Je kurzfristiger die Überstunden anberaumt werden, desto ausgeprägter sei jedoch die Pflicht des Arbeitgebers, Rücksicht auf die familiäre Situation seiner Mitarbeiter nehmen. "Einen alleinerziehender Vater von zwei Kleinkindern kann man sicher nicht zu ungeplanten Überstunden verdonnern, wenn die Betreuung der Sprösslinge nicht gesichert ist." Sonderregeln gelten überdies für Schwangere und Schwerbehinderte: Erstere dürfen grundsätzlich nicht mehr als acht Stunden pro Tag arbeiten, letztere müssen gegen ihren Willen gar keine Überstunden leisten.

Wann und wie werden Überstunden vergütet?

Das ist vom Inhalt des Arbeits- beziehungsweise des Tarifvertrags oder etwaigen Betriebsvereinbarungen abhängig. Nennen diese Regelwerke konkrete Summen, müssen Überstunden entsprechend vergütet werden, allerdings nur, wenn der Chef sie angeordnet oder zumindest gebilligt hat. "Letzteres ist zum Beispiel dann der Fall, wenn er stillschweigend den Stundenzettel abzeichnet, der die Mehrarbeit dokumentiert", sagt Anwalt Brummer. Gibt es keine ausdrückliche Regelung, besteht kein genereller Anspruch auf eine Vergütung. Die Rechtsprechung unterscheidet in solchen Fällen danach, ob der Arbeitnehmer nach den konkreten Umständen des Einzelfalles eine Vergütung erwarten durfte (vgl. etwa BAG, Az. 5 AZR 765/10). "Im Normalfall wird man zwar davon ausgehen, dass Arbeitnehmer, die Überstunden machen, dafür auch eine 'verkehrsübliche Vergütung' erhalten", sagt Rechtsanwalt Lochner. Meist lasse sich dann auf Basis der normalen Wochenarbeitszeit und des Monatsgehalts ermitteln, was für jede Extra-Stunde zu zahlen sei.

Von diesem Grundsatz gibt es aber wichtige Ausnahmen. So geht die Rechtsprechung zum Beispiel davon aus, dass Besserverdiener, deren monatliches Bruttogehalt die Beitragsbemessungsgrenze in der Rentenversicherung übersteigt, nicht erwarten dürfen, Geld für Überstunden zu bekommen. (BAG, Az. 5 AZR 765/10). Sie müssen folglich, wenn es an vertraglichen Regeln fehlt, auch ohne Gegenleistung länger arbeiten. Die Grenzwerte liegen derzeit bei 6700 Euro Monatsbrutto in den alten und 6150 Euro in den neuen Bundesländern.

Was gilt, wenn der Arbeitsvertrag eine Klausel enthält, dass mit dem monatlichen Gehalt "alle anfallenden Überstunden" abgegolten sind?

Eine derart allgemein gehaltene Klausel ist ungültig, so dass Arbeitnehmer trotzdem Anspruch auf eine "verkehrsübliche Vergütung" im Rahmen der allgemeinen Regeln haben. Generell verboten sind Abgeltungsregeln allerdings nicht. Sie müssen nur bestimmten Standards genügen. "Damit eine Abgeltungsklausel gerichtsfest ist, muss der Arbeitsvertrag eindeutig benennen, in welchem Umfang Überstunden mit der regulären Vergütung abgegolten sind. Außerdem dürfen bestimmte Grenzen nicht überschritten werden", sagt Rechtsanwalt Lochner. Bei einer Vollzeitkraft erlaube die Rechtsprechung meist eine pauschale Abgeltung von bis zu 20 Überstunden pro Monat. "Bei Teilzeitkräften gilt als Faustformel, dass mit dem regulären Gehalt auch Mehrarbeit von bis zu zehn Prozent der per Vertrag geschuldeten Stunden abgegolten werden kann." Erlaubt hat das Bundesarbeitsgericht eine Abgeltung zudem in Fällen, in denen die Höchstarbeitszeit des Arbeitszeitgesetzes von 48 Stunden pro Woche nicht überschritten wird (Az. 5 AZR 52/05).

Was ändert sich durch das Urteil des Europäischen Gerichtshofs zur Zeiterfassung?

Bislang mussten Arbeitgeber nur dokumentieren, wenn Arbeitnehmer mehr als acht Stunden pro Tag gearbeitet haben. Mit Urteil vom 14. Mai 2019 (C-55/18) hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) jedoch entschieden, dass die Mitgliedstaaten Arbeitgeber dazu verpflichten müssen, ein System einzurichten, dass die gesamte tägliche Arbeitszeit der Mitarbeiter erfasst und dokumentiert, inwieweit die vorgeschriebenen Pausen sowie die Obergrenze für die durchschnittliche Wochenarbeitszeit eingehalten werden. "Vertrauensarbeitszeit und nicht im Einzelnen erfasste Überstunden wird es dann nicht mehr beziehungsweise nur noch in sehr eingeschränktem Umfang geben", sagt Rechtsanwalt Lochner. "Für Arbeitnehmer dürfte es entsprechend einfacher werden, eine Vergütung für geleistete Überstunden einzufordern."

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Quelle:
SZ vom 14.09.2019
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