Prozessrecht:Der neuen Musterfeststellungsklage fehlt der Biss

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Das Justizministerium spricht von einer "Eine-für-alle-Klage" - das klingt gut, doch das neue Gesetz wird die hohen Erwartungen nicht erfüllen, die das Ministerium selbst schürt.

Kommentar von Wolfgang Janisch, Karlsruhe

An Allerheiligen wird, der Name sagt's, aller Heiligen gedacht, jener "verherrlichten Glieder der Kirche, unsere Brüder und Schwestern, die schon zur Vollendung gelangt sind", wie es in der Liturgie heißt. An Allerheiligen ist außerdem ein Gesetz in Kraft getreten, dem man eines wird vorhersagen können: Es wird nicht zu den verherrlichten Gliedern des Prozessrechts gehören. Denn es ist weit, sehr weit, von der Vollendung entfernt. Die sogenannte Musterfeststellungsklage, vom Bundesjustizministerium in eine solidarisch klingende "Eine-für-alle-Klage" umgetauft, wird die Erwartungen nicht erfüllen, die das Ministerium nach Kräften schürt. Denn sie hat keinen Biss. Sie liefert den Betroffenen keinen durchsetzbaren Rechtstitel, sondern lediglich die Feststellung, dass ihnen unrecht getan wurde. Das kann tröstlich sein, Geld bringt es nicht. Dafür muss jeder Einzelne dann doch noch klagen - oder auf großmütiges Einlenken der Unternehmen hoffen. Was aber schon einen sehr festen Glauben an den zuständigen Heiligen voraussetzt.

Das deutsche Prozessrecht benachteiligt die Verbraucher

Nun könnte man sagen: ein erster Schritt, immerhin. Schwarz-Rot kann im Koalitionsvertrag ein weiteres Häkchen setzen. Und die Dieselfahrer können hoffen, dass sich mit der neuen Klage für sie vielleicht doch noch etwas herausschlagen lässt. Sei's drum. So ist Politik eben.

Wer so denkt, der übersieht freilich, dass es beim kollektiven Rechtsschutz um weit mehr geht als um den individuellen Schadenersatz. Dringend notwendig und längst überfällig ist die Schaffung gemeinschaftlicher Klageformen - mögen es Sammel-, Gruppen- oder Verbandsklagen sein - wegen ihrer ordnungspolitischen Funktion in einer von Massengeschäften geprägten Gesellschaft. Denn das herkömmliche deutsche Prozessrecht atomisiert die Verbraucher und drängt sie in eine strukturelle Unterlegenheit. Entweder ist der Schaden zu gering oder der Gegner zu groß - meist sprechen die besseren Gründe gegen eine Klage. Wenn sich Klagen dagegen ohne Aufwand bündeln lassen - die digitale Welt bietet hier viele Möglichkeiten -, dann schafft dies eine echte Verbrauchermacht, die präventiv wirkt. Wenn rechtswidrige Tricksereien wirklich teuer werden können, dann wächst die Vorsicht in den Vorstandsetagen.

Man muss dazu nicht einmal nur auf den Dieselskandal blicken. Obwohl die Chuzpe, mit der die Autoindustrie nun Umtauschprämien vorschlägt, schon eindrucksvoll illustriert, dass sie sich vor dem Recht nicht wirklich fürchten muss; statt Entschädigung zu zahlen, fordert man ein Konjunkturprogramm. Wie wichtig die disziplinierende Wirkung eines effektiven Klagesystems wäre, zeigt sich etwa bei den notorischen Bankgebühren. Auf den ersten Blick scheint der Rechtsschutz dort zu funktionieren. Findige Verbraucherschützer klagen beim Bundesgerichtshof eine Klausel nach der anderen weg - Entgelte für die Einrichtung von Sparbüchern oder die Auflösung von Konten, für die Änderung des Dauerauftrags, die Bearbeitung des Kredits, den Wechsel des Depots. Die Fantasie der Geldhäuser ist unerschöpflich. Die Gebührenarten ändern sich, aber das Hase-und-Igel-Prinzip bleibt seit Jahrzehnten dasselbe. Ist eine Klausel nichtig, ist die nächste schon in Vorbereitung.

Die SPD sollte bei diesem Thema Vorreiter sein

Die Kalkulation mit dem Rechtsbruch geht also auf, weil sich für die Kunden die Einzelklage wegen fünf Euro nicht lohnt. Das Geld versickert in der Lücke zwischen recht haben und recht bekommen. Gäbe es hier beispielsweise die Möglichkeit, Gewinne abzuschöpfen, wie es jüngst die Professorin Caroline Meller-Hannich beim Deutschen Juristentag vorgeschlagen hat, dann fiele die Kalkulation anders aus.

Das Inkrafttreten des unvollendeten Gesetzes muss also der Auftakt zu weiterem Nachdenken sein, die eher auf Normen und Behörden setzende Marktsteuerung deutscher Prägung um ein neues Element zu erweitern. Es muss ja nicht auf eine echte amerikanische "class action" hinauslaufen, die - Stichwort Klageindustrie - in Deutschland unbeliebt ist. Denkbar sind Formen der Verbandsklage, die deutlich mehr Biss haben als die Musterfeststellungsklage. Möglicherweise wird Deutschland ohnehin bald gezwungen sein, sein System umzugestalten. Auf EU-Ebene nehmen die nun schon mehr als zehn Jahre währenden Vorarbeiten für einen kollektiven Rechtsschutz langsam Gestalt an. In Berlin gibt es mindestens eine Regierungspartei, der hier eine Vorreiterrolle gut anstünde. Rechtsschutz für die kleinen Leute, Verbrauchermacht versus Wirtschaftsdominanz - das klingt nach einem ursozialdemokratischen Anliegen.

© SZ vom 29.10.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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