Protestkultur:Demo-Version

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Mit Bayer lädt erstmals ein Dax-Konzern zur rein virtuellen Hauptversammlung. Das schützt vor Infektionen - und unliebsamer Kritik vor der Halle. Also wandert der Protest ins Netz.

Von Elisabeth Dostert

Imker demonstrieren in Bonn gegen Bayer. In diesem Jahr findet die Hauptversammlung nur virtuell statt. (Foto: Oliver Berg/dpa)

Seine Rede hat Christoph Koch, 62, schon seit Tagen fertig. Es sind eineinhalb eng beschriebene Seiten. Koch ist Berufsimker im Ortenaukreis. Er lebt von seinen knapp 140 Bienenvölkern. Der Titel der Rede lautet: Wie ernst nimmt Bayer den Bienenschutz? Es ist eine Frage, die Koch dem Chemie- und Pharmakonzern aus Leverkusen seit Langem stellt. Jahr für Jahr fuhr Koch zur Hauptversammlung - früher nach Köln, in den vergangenen Jahren nach Bonn. Vor der Halle demonstrierte er mit Bauern, Umweltschützern, Ärzten und anderen Kritikern, die sich um Menschen, Tiere, Artenvielfalt und das Klima sorgen. Mit dem Kauf des US-Konzerns Monsanto für rund 63 Milliarden Dollar wurde die Kritik noch lauter.

Und in diesem Jahr? Koch fährt nicht nach Bonn. Er darf nicht. Wegen der Corona-Pandemie gelten andere Regeln. Die Hauptversammlung von Bayer findet wie viele andere Aktionärstreffen nur online statt. Bis Samstagmitternacht haben die Aktionäre Zeit, ihre Fragen an Bayer zu schicken. Eine Aussprache im Saal wird es nicht geben. Viele Aktionäre und Kritiker fühlen sich ihrer Rechte beraubt. Auch in den vergangenen Jahren wurde die Hauptversammlung in sozialen Netzwerken begleitet. Menschen posteten Kommentare und Bilder, es gab Livestreams. Aber in diesem Jahr können sie ihren Unmut nur virtuell äußern. Die Pandemie verändert auch die Art des Widerstands.

Werden die Proteste die gleiche Wirkung haben? Für die Fragen in der Hauptversammlung gibt es kein Murren und keinen Applaus. Kommt Kochs Rede bei den Aktionären so an, als wenn er sie im Saal in seiner Imkerkluft vorgetragen hätte? Kommen seine Fragen und die der anderen überhaupt beim Vorstand an, und wird er Antworten geben? In der Hauptversammlung werde der "wesentliche Inhalt der Fragen wiedergegeben", teilt der Konzern mit.

Gleichartige Fragen würden gemeinsam beantwortet. Die Proteste haben längst begonnen. Es ist eine mehr oder minder abgestimmte Eskalationsstrategie, die am Dienstag ihren Höhepunkt erreichen soll. Ein paar Demonstranten werden wohl auch vor Ort sein. Schon Anfang April richteten der Dachverband der Kritischen Aktionäre und die Coordination gegen Bayer-Gefahren (CBG) einen offenen Brief an Vorstand und Aufsichtsrat. Die Kritik ist lang. Mit dem Covid-19-Gesetz werde "die Möglichkeit, bei Nichtbeantwortung von Fragen Nachfragen zu stellen, abgeschafft". Kleinaktionäre würden "mundtot" gemacht.

Am Donnerstag verschickte die Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft ihre Mitteilung. Der Konzern mache weiter Geschäfte mit Gentechnik-Saatgut und Pestiziden, wolle aber für die Folgen der Produkte auf die landwirtschaftliche Erzeugung, die Umwelt und menschliche Gesundheit "keinerlei Verantwortung übernehmen", kritisiert der NRW-Landesvorsitzende Bernd Schmitz. Sein Hof liegt im Hanftal zwischen Siebengebirge und Westerwald. 50 Milchkühe, 80 Hektar Äcker, Wiesen und Weiden. Auch Schmitz fährt nicht nach Bonn. "Wegen der Corona-Pandemie verlasse ich seit Wochen nicht mehr den Hof", sagt er am Telefon: "Ich bin nicht ersetzbar." Am Sonntagabend veranstaltet die Coordination gegen Bayer-Gefahren eine Podiumsdiskussion, die im Livestream übertragen wird. An der virtuellen Diskussion nimmt unter anderem die Fernsehköchin Sarah Wiener teil.

Markus Beckedahl war selbst einmal Aktivist. Er ist Gründer und Chefredakteur der Plattform Netzpolitik, die nach eigenen Angaben für "digitale Freiheitsrechte" kämpft. "Auch virtuell ist Protest möglich über soziale Netzwerke wie Twitter oder Instagram", sagt Beckedahl. Es genügen ein paar Hashtags, zum Beispiel #protest. Im Einzelfall könnten es auch mehrere sein. Es gibt einige mehr und weniger genutzte Hashtags, mit denen Kritiker ihre Nachrichten versehen: #Bayer, #stopBayerMonsanto, #Glyphosat. Gerade sehr beliebt seien Videokonferenzen. "Online und offline lassen sich gar nicht mehr so richtig trennen", sagt Beckedahl: "Über den virtuellen Protest in sozialen Netzwerken oder die eigene Homepage erreicht man, wenn man es richtig anstellt, viel mehr Menschen als mit Protesten vor Ort, über die vielleicht keine Zeitung und kein Sender berichtet."

"Wenn sie die Kritiker in diesem Jahr ignorieren, wird es nächstes Jahr umso lauter."

Die Regeln zu Social Distancing zur Eindämmung der Corona-Pandemie seien "eine gravierende Einschränkung der Versammlungsfreiheit", sagt Protestforscherin Sabrina Zajak: "Straßenproteste sind das Herzstück sozialer Bewegungen, aber die sind derzeit eigentlich nicht möglich." Die Soziologin leitet am Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (Dezim) in Berlin die Abteilung Konsens und Konflikt und arbeitet am Institut für Protest- und Bewegungsforschung (ipb). Digitale Proteste gebe es seit Beginn der Digitalisierung und der Entstehung sozialer Netzwerke wie Facebook oder Twitter. Bislang seien sie ein wichtiges Mittel zur Vernetzung und zur Verbreitung von Informationen gewesen.

In den vergangenen Jahren habe es eine starke Wechselwirkung zwischen Online- und Offline-Protesten gegeben, sagt Zajak: "Digitale Netzwerke sind das Rückgrat der physischen Proteste." Einfache Praktiken der analogen Welt seien in die digitale übertragen worden, etwa Online-Petitionen. In konfrontativeren Formen wie dem Hacktivismus seien mit neuen Technologien Attacken gegen die IT-Systeme der Gegner gefahren worden, um diese lahmzulegen. "Aber um Aufmerksamkeit zu erwecken, brauchen Proteste soziale Nähe und den öffentlichen Raum", sagt Zajak: "Es gibt eine grobe Korrelation zwischen der Größe und der Dauerhaftigkeit des Protests und der Aufmerksamkeit."

Koch, der Imker, hat am Montag auf Youtube zwei Videos hochgeladen. Er hat sie im Wohnzimmer aufgenommen. Koch stellt sich erst vor: "Bei Bayer habe ich den Spitznamen Spätzleimker." Auf einem großen Bildschirm hinter ihm läuft ein Film. Er zeigt Bienen, manche bewegen sich nur träge fort, andere liegen auf dem Rücken. Es sind Aufnahmen aus dem Jahr 2008. Damals begann der Kampf des Imkers gegen Bayer. In diesem Jahr verlor er Dutzende Völker, sie starben an den von Bayer produzierten Insektiziden Poncho und Poncho Pro. Saatgut war damit gebeizt worden, um den Maiswurzelbohrer zu bekämpfen, dessen Larven große Schäden in Maisfeldern anrichten. Die Mittel enthalten den Wirkstoff Clothianidin, ein Neonicotinoid. Er stört das Nervensystem der Bienen. Koch bekam dann eine Soforthilfe. Von einem Teil des Geldes hat er sich damals 20 Bayer-Aktien gekauft. 2009 fuhr er zum ersten Mal zur Hauptversammlung.

Koch will nicht aufgeben, obwohl Neonicotinoide in der Europäischen Union mittlerweile weitgehend verboten sind. "In anderen Ländern dürfen die Mittel noch verkauft werden", sagt Koch. Deshalb kämpft er weiter. Vielleicht sieht er sich die Übertragung der Hauptversammlung am nächsten Dienstag an, obwohl er gerade viel Arbeit mit den Bienen hat. Er will ja auch wissen, ob seine Fragen wirklich beantwortet werden. "Wenn sie die Kritiker in diesem Jahr ignorieren, wird es nächstes Jahr umso lauter", sagt Koch.

Soziologin Zajak ist überzeugt, dass analoge Proteste ein zentrales Element bleiben und nie ganz durch digitale Formen ersetzt werden können. Warum beteiligen sich Menschen an Protesten? Zajak liefert die Antwort sofort: "Es geht einerseits um die Sache. Aber niemand protestiert allein. Die Sozialität des Protestes ist wichtig." Auch deshalb versuchen die Organisationen nun, "virtuell ein kollektives Momentum zu generieren". Das gehe, weil die technischen Voraussetzungen viel besser seien als noch vor zehn oder fünf Jahren. "Um sich an digitalen Protesten zu beteiligen, muss man kein Technikfreak sein." Gut möglich, sagt die Wissenschaftlerin, dass die Reichweite virtueller Proteste größer ist als die auf der Straße, weil es einfacher und billiger ist, sich daran zu beteiligen. Wie weit sie reichen und wie stark sie sind, wird sich nun zeigen.

© SZ vom 25.04.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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