Protestbewegung Occupy Harvard:Entzauberung des amerikanischen Traums

Klausurvorbereitungen können warten, die Revolution nicht: Mit dem Frühling und den Protesten in den internationalen Finanzzentren erwacht auch an der besten Universität der Welt der Widerstand gegen den Finanzkapitalismus. Obwohl sich der Kern der Bewegung auf ein paar Dutzend Mitglieder reduziert, hat keine andere Universitätsbesetzung in den USA so viel Aufsehen erregt wie Occupy Harvard. Der Protest der Studenten ist bedeutsam - schließlich ist die Hochschule die Kaderschmiede der amerikanischen Hochfinanz.

Moritz Koch

Kann es einen idyllischeren Ort zum Studieren geben? Am Ufer des Charles River liegen Studenten im Gras. Sie schauen den Ruderbooten zu, die unter den Backsteinbrücken hindurch gleiten, und blinzeln, wenn die Sonnenstrahlen auf den Wellen tänzeln. Es ist einer der ersten warmen Tage des Jahres auf dem Harvard Campus. Hausarbeiten, Klausurvorbereitungen, Bewerbungsschreiben - all das kann warten. Aber nicht die Revolution.

Former Dean Of Harvard Law School Nominated To U.S. Supreme Court

Der Protest gegen den Finanzkapitalismus hat an der berühmtesten Universität Amerikas Fuß gefasst. Im vergangenen Herbst, der Blütezeit der Occupy-Proteste, gab es auf dem Harvard Campus sogar ein Zeltlager.

(Foto: AFP)

Wer will, das nichts bleibt, wie es ist, hat keine Zeit für Annehmlichkeiten des Frühlings. In einem Kellergewölbe hockt eine Studentenschar auf weißen Plastikstühlen. Die Aktivisten von Occupy Harvard schieben Überstunden.

Der Protest gegen den Finanzkapitalismus hat an der berühmtesten Universität Amerikas Fuß gefasst. Bunt, idealistisch und verschroben. Im vergangenen Herbst, der Blütezeit der Occupy-Proteste, gab es auf dem Harvard Campus sogar ein Zeltlager. Wie in New York. Doch als der Winter kam, verschwanden die Zelte. Es wurde ruhig um Occupy Wall Street und Occupy Harvard. Bis jetzt. Das Frühlingserwachen der Bewegung hat begonnen. Mit Schlafsäcken und Pappschildern sind die Demonstranten in das New Yorker Finanzviertel zurückgekehrt. Um die Behörden auszutricksen, meiden sie den Zuccotti Park, ihr früheres Hauptquartier. Stattdessen haben sie die Bürgersteige rings um die Börse in Beschlag genommen.

Auch in Cambridge regt sich die Lust am Widerspruch aufs Neue. Während draußen die Magnolien blühen, sprießen drinnen Umsturzphantasien. Die etwa 60 Uni-Besetzer haben sich in Gruppen aufgeteilt, hier mischen sich Studenten und Protestveteranen, jeder trägt ein Namensschild auf der Brust. Später sollen die Ergebnisse der Diskussionsrunden in Kurzpräsentation vorgestellt werden. Keine leichte Aufgabe. In den Debatten geht es drunter und drüber, Parforceritte quer durch die Ideengeschichte.

Einem der Arbeitskreise haben die Veranstalter das Thema "Arbeit und Wirtschaft" vorgegeben. Da ist für jeden etwas dabei. Eli, ein Student mit braunem Lockenschopf, legt mit einem Gedanken zur Wirtschaftspolitik los. "Die Wahl zwischen Keynesianismus und Neoliberalismus, vor die uns die Ökonomen stellen, ist viel zu eng", sagt er. "Keynesianismus ist nichts anderes als kapitalistisches Denken für schlechte Zeiten."

Eli guckt in die Runde, sucht Unterstützer, aber findet nur George. Der zählt zu den älteren Semestern und hat eine Solarzelle auf seinen Rucksack montiert. Daneben prangt ein Sticker mit der Aufschrift: "Solarkraft ist zivile Selbstverteidigung". George stellt die Systemfrage auf seine Weise: "Unsere Gesellschaft und unsere Kultur müssen sich ändern, nicht nur das, was wir im Portemonnaie haben."

Auffangbecken wie ideologische Außenseiter

Bald purzeln Begriffe wie Grundeinkommen und Verteilungsgerechtigkeit, Emissionsfreiheit und Autarkie durcheinander. Am Rande des Geschehens wippt Rudi mit dem linken Bein. Kurz hält er inne, dann platzt es aus ihm heraus: "Wir müssen die Arbeiterklasse mobilisieren. Nicht so viel rumsitzen und diskutieren." Hinter dem revolutionären Heißsporn fällt das Tageslicht auf das Gerippe eines Wals. Die bleichen Knochen hängen über der Kellertreppe, ein passendes Dekor für angestaubte Thesen.

Occupy Harvard ist ein Mikrokosmos der gesamten Protestbewegung, getrieben von den gleichen Motiven und mit den gleichen Problemen. Die Studenten lehnen sich gegen die soziale Spaltung ihres Landes auf, wollen die politische Macht der Konzerne zurückdrängen und die horrenden Studiengebühren bekämpfen. Kurz: Sie beschäftigen sich mit den Schicksalsfragen Amerikas. Einerseits. Andererseits ist die Occupy-Bewegung in der noblen Kulisse einer Kaderschmiede ein Auffangbecken für Linke und andere ideologische Außenseiter.

Harvard - die Kaderschmiede der Hochfinanz

Obwohl sich der Kern der Bewegung auf ein paar Dutzend Mitglieder reduziert, hat keine andere Universitätsbesetzung in den USA so viel Aufsehen erregt wie Occupy Harvard. Denn Harvard ist schließlich nicht irgendeine Universität, sondern die Kaderschmiede der Hochfinanz. Vor dem großen Crash heuerten 47 Prozent der Harvard-Absolventen bei Banken, Investmentfonds und Beratungsfirmen an. Seither ist der Anteil gesunken.

Doch noch immer zieht es beinahe jeden Vierten in die Finanzwirtschaft. Andere Harvard-Absolventen wurden zum Symbol für die Symbiose zwischen Wall Street und Washington, allen voran Larry Summers, Obamas Wirtschaftsberater und Clintons Finanzminister, der in den 90er Jahren die Weichen auf Deregulierung stellte.

Kritik an Grundfesten der wirtschaftswissenschaftlichen Ausbildung

Aber es gibt noch andere Gründe, die die Aufmerksamkeit für Occupy Harvard erklären. Auch wenn etliche Proteststrategen, die sich an diesem Tag unter dem Walskelett versammelt haben, in Revolutionsträumen und Sozialromantik schwelgen: Die Studenten haben Anliegen, die in der nationalen Debatte über die Lehren der Finanzkrise widerhallen.

Es war ein Eklat, der die Elitedemonstranten zum ersten Mal in die Schlagzeilen brachte. Im November unterbrachen sie den Grundkurs "Prinzipien der Ökonomie" von Gregory Mankiw. Mitten in seiner Vorlesung standen sie auf und verließen den Saal. Einen solchen Affront hatte es in Harvard lange nicht gegeben. Mankiw zählt zu den einflussreichsten Ökonomen der Welt. Seine Bücher über die Grundzüge der Mikro- und Makroökonomie bildeten das Fundament der volkswirtschaftlichen Ausbildung, nicht nur in den USA, sondern etwa auch in Deutschland.

Die Studenten rechtfertigten ihre Protestaktion in der Campus-Zeitung The Harvard Crimson: "Wir sind der Meinung, dass Professor N. Gregory Mankiw als früherer Berater von Präsident Bush eine Schlüsselrolle bei politischen Entscheidungen gespielt hat, die die materielle Ungleichheit verschärft und zu finanzwirtschaftlicher Instabilität und schließlich zum Kollaps geführt haben."

Die Auflehnung der Studenten gegen Mankiw war ein Zeichen der Abkehr von der ökonomischen Orthodoxie. Und Ausdruck von Zweifeln, die längst auch führende Köpfe der Wirtschaftswissenschaft befallen hat. So ergriff Mankiws Kollege Dani Rodrik Partei für die Studenten: Wenn volkswirtschaftliche Einführungskurse Konzepte wie Markteffizienz und die unsichtbare Hand vorstellten, ohne auf deren Beschränkungen einzugehen, sei das, als würden die Grundlagen der Physik ohne die Auswirkungen der Schwerkraft vermittelt, schrieb er in einem Essay.

Auch der Nobelpreisträger Paul Krugman hat seine Zunft wiederholt dafür kritisiert, zu viel Vertrauen in die Selbstregulierung der Märkte gelegt und sich in der Konstruktion abstrakter mathematischer Modellwelten verloren zu haben.

Aushöhlung des amerikanischen Traums

Kaum weniger spektakulär als der Mankiw-Boykott war der Protest gegen die Jobbörse, die die New Yorker Großbanken jedes Semester in Harvard veranstalten. Am 28. November zog eine Gruppe Demonstranten auf das Gelände, ihr Ziel war der Infostand von Goldman Sachs, an dem die Investmentbank, die zum Symbol für Gier und Maßlosigkeit geworden ist, Nachwuchs anwerben wollte. Zwar drängten Sicherheitsmänner die Störer ab, dennoch zog Goldman Konsequenzen. Bis auf weiteres meidet die Bank jetzt den Harvard Campus. Die nächste Jobbörse findet ohne sie statt. Ein Sieg für die Demonstranten, auch wenn andere Studenten die Protestaktion verurteilten.

Bis heute zehrt Occupy Harvard von den Aktionen des vergangenen Herbsts. Doch die Hoffnung auf ein Comeback, die die Organisatoren verbreiten, sind berechtigt. Im Jahr der Präsidentschaftswahl wird Amerika über Themen diskutieren, die den Protest antreiben: Der Einfluss der großen Konzerne auf die Meinungsbildung, die wachsende Ungleichheit in der Gesellschaft und die daraus resultierenden Gefahren für die Demokratie.

Eine Studie der Ökonomen Thomas Piketty und Emmanuel Saez hat der Gerechtigkeitsdebatte gerade erst neuen Auftrieb gegeben. Ihr Befund: Obwohl die Konjunktur langsam in Fahrt kommt, driftet die US-Gesellschaft auseinander. 90 Prozent der Wohlstandsgewinne des Jahres 2010 gingen an die Spitze der Einkommenspyramide, die obersten ein Prozent. Seit der Zeit der Eisenbahnbarone hat es in Amerika keinen Aufschwung gegeben, dessen Erträge so ungleich verteilt wurden. Der amerikanische Traum wird ausgehöhlt.

Harvard-Fonds sollen sozial und ökologisch investieren

Allerdings geht es nicht nur um die großen Themen der Finanz- und Sozialpolitik. Occupy Harvard hat auch bescheidenere Anliegen, greifbare und glaubwürdige. Sie sind die Stärke der Bewegung. Die Hirnforscherin Fenna Krienen zählt zu den Aktivisten der ersten Stunde. Sie hat ihre blonden Haare über die Schulter geworfen und umreißt die Occupy-Agenda mit der Routine einer Pressesprecherin.

Weit oben steht die Verwaltung des Harvard-Fonds. Die Uni hat 32 Milliarden Dollar angespart, mehr als jede andere US-Hochschule. Krienen und ihre Mitstreiter fordern, dass die Harvard Management Company künftig nach sozialen und ökologischen Kriterien investiert. "Harvard hat so viel Geld wie manche Staaten und mehr Finanzkraft als die meisten Banken", sagt Krienen. "Die Uni trägt eine Mitverantwortung für die Entwicklungen an den Finanzmärkten."

Forderung nach kulturellem Wandel auf dem Campus

Noch wichtiger ist Krienen jedoch ein kultureller Wandel auf dem Campus. Der soziale Druck, der auf den Studenten lastet, sei enorm, sagt sie. "Keiner kann es sich leisten, nur zum Lernen hier zu sein." Schon Erstsemester verfassen nebenher Artikel für den Harvard Crimson, absolvieren Praktika, verpflichten sich für gemeinnützige Tätigkeiten - all das, um zukünftigen Arbeitgebern zu gefallen. Durch die Studiengebühren wird der Druck noch verstärkt. Wer nach seinem Abschluss einen 100 000-Dollar-Kredit schultern muss, kann es sich kaum leisten, einen Job an der Wall Street abzulehnen.

Daher dürfe sich niemand von den harmonischen Campus-Eindrücken blenden lassen. Hinter dem scheinbar unbeschwerten Universitäts-Leben, den Bildern der Ruderer auf dem Fluss und der Faulenzer auf den Uferwiesen verberge sich ein erbarmungsloser Leistungszwang, sagt Krienen. Das akademische Idyll sei eine Täuschung. Genau wie der amerikanische Traum.

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