Süddeutsche Zeitung

Luftfahrt:Den Flugzeugen gehen die Motoren aus

Ausgerechnet zur Hauptreisezeit können weltweit Hunderte Maschinen nicht fliegen, weil ihnen die Triebwerke fehlen. Wie so etwas passieren kann und was es für Reisende bedeutet.

Von Jens Flottau, Frankfurt

Die indische Billigfluggesellschaft Go First hat genau nachgerechnet. In den vergangenen drei Jahren fehlten ihr 17 244 Einsatztage ihrer Airbus A320neos. Anstatt zu fliegen und Umsatz zu machen, standen die Jets am Flughafen und warteten auf Ersatzteile. Mal waren es kleine Komponenten für die Motoren, meistens aber ganze Triebwerke. Zuletzt konnte Go First 25 Maschinen nicht einsetzen, die Hälfte ihrer Flotte. Am Dienstag stellte sie deswegen einen Insolvenzantrag - und den Flugbetrieb fürs Erste ein.

Ein Extremfall, aber die Luftfahrtbranche erlebt derzeit das reine Motorenchaos. Nach Schätzungen - genaue Zahlen sind unmöglich zu verifizieren und ändern sich täglich - können derzeit mehrere Hundert Flugzeuge nicht eingesetzt werden, vor allem weil der amerikanische Motorenbauer Pratt & Whitney bei der Entwicklung der neuesten Triebwerksgeneration für die Kurz- und Mittelstreckenjets der Baureihen Airbus A220, Airbus A320neo und Embraer 190/195 offenbar geschludert hat. Verschiedene Komponenten der Motoren halten in manchen Fällen nur wenige Hundert Flugstunden, bevor sie ausgetauscht werden müssen - normalerweise müssen sich die Fluggesellschaften jahrelang nicht um Ersatz kümmern. Vor allem im feuchtheißen Klima und der hohen Luftverschmutzung Indiens kommen die Triebwerke viel schneller an ihre Grenzen, aber auch die Lufthansa klagt über Ausfälle, obwohl ihre Jets in Europa kaum extremem Wetter ausgesetzt sind.

Pratt & Whitney ist einer von zwei Motorenlieferanten für die A320neo-Baureihe und hat einen Marktanteil von rund 40 Prozent. Der andere Produzent ist CFM International, ein Gemeinschaftsunternehmen von GE Aviation und dem französischen Konzern Safran. Die Pratt-Motoren haben als erste ihrer Klasse ein Getriebe, wodurch die Drehzahl des großen Rotors optimiert wird, der Treibstoffverbrauch liegt bis zu 20 Prozent unter dem älterer Motoren.

Der Konzern steckte ab Mitte der 2000er-Jahre Milliarden in Forschung und Entwicklung, um wieder ein ernsthafter Konkurrent von CFM zu werden. Wie sich nun herausstellt, lag der technische Fokus offenbar zu sehr auf dem Getriebe, das reibungslos funktioniert, und zu wenig auf den anderen Triebwerkskomponenten. Vor allem, so gestand Pratt-Mutterkonzern Raytheon Technologies zuletzt ein, habe man die komplexen Hightech-Geräte zu wenig unter den unterschiedlichen klimatischen Bedingungen getestet.

Dies bekommen nun die Airlines zu spüren, die im Moment wegen der großen Nachfrage jedes einzelne Flugzeug dringend brauchen, zumal in der traditionell besonders aufkommensstarken Sommersaison. Und besonders ungünstig ist, dass die Lieferanten von Pratt mit den Komponenten nicht mehr hinterherkommen, auch die Kapazitäten in den Reparaturbetrieben reichen bei Weitem nicht aus.

Lufthansa-Chef Spohr ist noch entspannt

Bei Lufthansa-Tochter Swiss International Airlines stehen derzeit neun Airbus A220 am Boden, es fehlen Ersatzteile für die Motoren oder ganze Ersatztriebwerke. Lufthansa selbst hat Konzernchef Carsten Spohr zufolge drei Airbus A320neo bis auf Weiteres in Berlin geparkt. Indi-Go, die erfolgreiche indische Billigfluglinie, kann rund 40 Jets nicht einsetzen, Hawaiian muss den Flugplan ausdünnen, weil fünf A321neo derzeit nicht fliegen - die Liste könnte fast beliebig verlängert werden. "Wir sehen mehr Probleme bei den Triebwerken als zuvor", gestand auch Airbus-Chef Guillaume Faury ein. Pratt schaffe es zwar, pünktlich an die Endmontaglinien des Flugzeugbauers zu liefern, aber viele bereits ausgelieferte Jets seien derzeit nicht einsatzfähig. CFM International hat zwar auch mit einigen Qualitätsproblemen zu kämpfen, aber diese scheinen bei Weitem nicht so gravierend zu sein, wie bei Pratt. Faury rechnet damit, dass die Probleme bis mindestens Ende 2023 fortbestehen.

Auf Pratt kommen Schadenersatzforderungen in Milliardenhöhe zu, allein Go First will eine Kompensation von mehr als 900 Millionen US-Dollar erhalten. Zuletzt erwirkte die Fluggesellschaft sogar die Entscheidung eines Gerichtes in Singapur, die Pratt zwingen sollte, mehr Motoren zu liefern. Doch das Unternehmen konnte nicht liefern.

Aber auch für Airbus wird die Lage unbequem. Da vor allem die Triebwerkshersteller mit der Produktion nicht mehr hinterherkommen, hatte der Flugzeugbauer die eigenen Lieferziele gestreckt und Auslieferungen verzögert. Viele Kunden wollen das nun nicht mehr akzeptieren. John Plueger, Chef des amerikanischen Leasingspezialisten Air Lease Corporation (ALC), kritisierte zuletzt, Airbus und Boeing hätten wissentlich mehr Flugzeuge verkauft, als sie bauen können. Auch er erwartet nun Entschädigungen. Nur Lufthansa-Chef Spohr ist relativ entspannt: Dass Flugzeuge und Motoren fehlen, sorge wenigstens dafür, dass keine Überkapazitäten entstünden. Und die Knappheit macht sich auch bei den Flugpreisen bemerkbar: Die Lufthansa-Tickets waren im ersten Quartal 19 Prozent teurer als im Vorjahr.

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