Manchen erschien es wie ein Wunder. Im Frühjahr 1968, mitten im Kalten Krieg, begann sich die sozialistische Tschechoslowakei unerwartet und auf atemberaubende Weise zu reformieren. Der stalinistische Chef der Kommunistischen Partei, Antonín Novotný, wurde gestürzt; an seine Stelle trat der Reformer Alexander Dubček. Eine der ersten und folgenreichsten Reformen war die Abschaffung der Zensur am 4. März 1968.
Es kam zu einer "explosionsartigen Entfaltung von Öffentlichkeit", wie der Münchner Historiker Martin Schulze Wessel in seiner gerade erschienenen Monografie ("Der Prager Frühling") schreibt. Über Nacht gab es in Prag keine Tabus mehr, weder die Verbrechen des Stalinismus noch die führende Rolle der Kommunistischen Partei. Studenten konnten ungestraft den Rücktritt der Regierung fordern. Die Gesellschaft "schwamm auf einer Welle der massenhaften Trunkenheit von Demokratie", schrieb der Reformer Čestmír Císař rückblickend. Ein "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" - so die Parole - schien möglich.
Zu "bürgerlich" und "individualistisch" erschien ihnen Kafka
Am 5. April 1968 beschloss das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei ihr Reformprogramm. Es war vor allem eines zur Erneuerung der maroden sozialistischen Wirtschaft. Staatsbetriebe erhielten mehr unternehmerische Freiheit. Waren sollten nicht mehr zugeteilt, sondern auf Märkten gehandelt werden. In den Betrieben wurden Arbeiterräte eingerichtet. Auch Privateigentum gab es wieder.
Ob die Reformen die materielle Lage der Tschechen und Slowaken tatsächlich verbessert hätten, weiß niemand, denn die Truppen der Sowjetunion und ihrer Verbündeten besetzten das Land am 21. August 1968 und machten der Freiheit und dem Markt für 21 Jahre ein Ende. Erst im Dezember 1989 befreite sich die Tschechoslowakei in der "Samtenen Revolution" von der kommunistischen Diktatur.
Die Akteure dieser Revolution, darunter einige Veteranen aus dem Prager Frühling, versuchten sich gar nicht erst an einer Mischung aus Sozialismus und Kapitalismus, sondern führten eine "Marktwirtschaft ohne Adjektiv" ein - ökonomisch sehr erfolgreich, politisch jedoch mit problematischen Begleiterscheinungen. In Tschechien, wie in den meisten Ländern Osteuropas, grassiert der Rechtspopulismus. Umso wichtiger ist es, sich heute, mit 50 Jahren Abstand, des Prager Freiheits-Erlebnisses von 1968 zu erinnern.
Die Wirtschaftsreformen hatten zwei Wurzeln, eine rein ökonomische und eine intellektuelle. Letztere ist, aus heutiger Perspektive überraschend, eng mit dem Namen Franz Kafka (1883 - 1924) verbunden. Die Kommunisten hatten die Bücher des berühmtesten Schriftstellers Böhmens groteskerweise verboten - zu "bürgerlich" und "individualistisch" erschien ihnen Kafka, der in seinen Romanen "Der Prozess" und "Das Schloss" die Entfremdung des modernen Menschen wie kein anderer beschrieben hatte.
Dann jedoch, im Mai 1963, bekam der Literaturhistoriker Eduard Goldstücker unverhofft die Genehmigung, auf Schloss Liblice (Lieblitz) eine Kafka-Konferenz zu veranstalten. Die Konferenz rehabilitierte den Schriftsteller nach heftigen Debatten. Dabei blieb es aber nicht. Wer Kafka gelesen hatte, der stellte Fragen: Waren nicht gerade die Kommunistische Partei und ihr Apparat der Inbegriff des Kafkaesken?
So gab es einen Ökonomen namens Ota Šik. Während des Krieges war Šik im kommunistischen Widerstand gegen die Deutschen gewesen und hatte das KZ Mauthausen überlebt. In den 1960ern war er Mitglied im ZK der KP und in der staatlichen Plankommission. Šik schrieb: "Die Analyse der Werke von Kafka, in welchen der menschenverachtende Selbstzweck und die anwachsende Sinnlosigkeit der bürokratischen Maschine unnachahmlich dargestellt werden, bildete eine einzigartige Gelegenheit, um indirekt die Bürokratisierung der 'sozialistischen' Gesellschaft und die Entfremdung der Menschen anzuprangern." Auch die Betonköpfe erkannten die Sprengkraft von Kafka. Mit der Konferenz von Liblice habe das "konterrevolutionäre Wüten" in Prag begonnen, schrieb der DDR-Schriftsteller Alfred Kurella.
Den zweiten Anstoß für die Reformen gab die Ökonomie selbst. In den 1960er-Jahren war das Scheitern der Planwirtschaft sowjetischen Typs für jedermann zu erkennen. Noch 1962 hatte der zwölfte Parteitag der KP der Tschechoslowakei (KSČ) das Ziel verkündet, bis 1980 den Übergang zum Kommunismus erreicht zu haben, zum Reich der Freiheit im Sinne von Karl Marx. Tatsächlich jedoch kam es nach dem Parteitag zu einem schweren Wirtschaftseinbruch.
Die Partei musste auf blamable Weise ihre Pläne revidieren. "Die Deutungsmacht der KSČ erodierte in diesen Jahren mit atemberaubender Geschwindigkeit", schreibt Historiker Schulze Wessel. Überdies stellten die Planökonomen fest, dass die Produktivität von Arbeit und Kapital immer langsamer zunahm. Der Abstand zu den westlichen Industrieländern wurde noch größer. Die Kräfte des Apparats um Parteichef Novotný wollten die Krise mit den üblichen Methoden lösen: Propaganda und Mobilisierung der Arbeitnehmer. Šik dagegen forderte bereits 1963 die Zulassung von "Ware-Geld-Beziehungen" und "Interessengegensätzen" - eine kaum versteckte Umschreibung von "Marktwirtschaft".
Trotzdem war Šiks Modell kein Kapitalismus
Im Machtkampf mit Novotný setzte sich Šik schließlich durch; er konnte seine Ideen in das Aktionsprogramm der Partei vom 5. April 1968 schreiben. Das Programm sagte der "Gleichmacherei" den Kampf an, eine höhere Produktivität sollte auch durch Lohndifferenzierung und notfalls durch Betriebsschließungen erreicht werden. Gleichzeitig sollte die soziale Absicherung der Arbeiter besser werden, sie sollten in den Großbetrieben und Genossenschaften mitreden können. Gesteuert werden sollte die Wirtschaft nicht mehr durch den Plan, sondern, bis auf einige Ausnahmen, durch den Markt. Für die Arbeiter hätte das harte Anpassungsleistungen bedeutet, auf die sie wohl nicht vorbereitet gewesen wären.
Trotzdem war Šiks Modell kein Kapitalismus. Die großen Fabriken sollten in Staatsbesitz bleiben. "Als Humanisten glaubten wir, einen Markt für Arbeit und Kapital nicht zulassen zu dürfen", fasste Valtr Komárek, einer der engsten Mitarbeiter Ota Šiks, die Ideen der Reformer rückblickend in einem Interview zusammen. Einfach ausgedrückt: Märkte für Güter und Dienstleistungen, Planung für Löhne und Investitionen.
Als am 21. August die sowjetischen Panzer durch Prag rollten, hatte Ota Šik Glück - er hielt sich gerade in Belgrad auf und entging so seiner drohenden Verhaftung. Anschließend emigrierte er in die Schweiz und erhielt dort 1970 eine Professur an der Hochschule St. Gallen. Dort entwickelte er aus seinen Prager Erfahrungen ein Konzept, das er "Dritter Weg" nannte.
Der Prager Frühling fand statt vor dem Hintergrund des Aufbruchs von 1968 im Westen. Die Reaktion der westlichen 68er auf Prag war jedoch, vorsichtig ausgedrückt, widersprüchlich. Einerseits verurteilte man den sowjetischen Einmarsch, andererseits wollte man sich seine sozialistischen Träume nicht zerstören lassen. Sehr aufschlussreich ist diese Episode: Ende März 1968 reiste der westdeutsche Studentenführer Rudi Dutschke nach Prag, nur um konsterniert festzustellen, dass seine Kommilitonen dort keine sozialistische Revolution wollten, sondern das Gegenteil.
Währenddessen trat in Frankfurt eine Delegiertenkonferenz des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) zusammen, auf der ein Antrag diskutiert wurde, Dutschke wegen seines Trips zu den tschechischen Konterrevolutionären aus dem SDS auszuschließen. Für die meisten westdeutschen Linken waren Prag und die Erfahrungen mit der politischen Ökonomie der Wirtschaftsreform im Sozialismus unbequem und daher ein Nicht-Thema.