Morde voraussagen kann die Maschine nicht - da ist meist zu viel Leidenschaft im Spiel: "Es gibt Verbrechen, die lassen sich nicht voraussehen. Tötungsdelikte geschehen ja meist im Familien- oder Bekanntenkreis", sagt Günter Okon. Mit Einbrüchen aber geht es, sagt der Analyst vom Landeskriminalamt. Zumindest mit genug Daten und guten Algorithmen. Wenn der 57-Jährige in seinem Büro am Ostbahnhof den Laptop aufklappt, zeigt sein neuer Helfer ihm eine Straßenkarte. Precobs hat Alarm geschlagen, westlich vom Englischen Garten markieren Quadrate mehrere 250 mal 250 Meter große Zielgebiete: rot, gelb, grün und blau. Die Farben signalisieren die Wahrscheinlichkeit, mit der dort an diesem Tag eingebrochen wird. Bei Rot ist sie am höchsten. Eine wichtige Information für die Beamten, die in der Gegend Streife fahren. "Precobs" heißt Okons Helfer: Die Software soll der bayerischen Polizei im Kampf gegen die dramatisch gestiegene Zahl der Einbrüche helfen.
Es ist der Traum jedes Polizisten, schon vor dem Verbrechen zu wissen, wann und wo es geschehen wird. In einem Pilotprojekt testet die bayerische Polizei nun eine Software, die genau das können soll: "Precobs" sagt vorher, in welchem Stadtgebiet und zu welcher Zeit mit hoher Wahrscheinlichkeit Einbrüche zu erwarten sind. Grundlage dafür sind statistische Berechnungen bereits verübter Delikte. Von Oktober an wird die Software im Münchner Präsidium laufen, Okon übt bereits im Simulationsmodus. Innenminister Joachim Herrmann (CSU) erhofft sich ähnliche Erfolge wie in Zürich, wo die Polizei bereits mit Precobs arbeitet: Innerhalb eines halben Jahres ist dort die Zahl der Einbrüche deutlich gesunken.
"Predictive Policing" - "vorhersagende Polizeiarbeit" - ist der Sammelbegriff für Technologien, die Verbrechen ermitteln sollen, bevor sie passieren ( mehr zum Thema hier). Das hat nichts mit Science-Fiction zu tun, sondern mit fortschrittlichen Algorithmen, die Datenberge blitzschnell durchforsten. Günter Okon vom Landeskriminalamt arbeitet bereits mit der Software, in die als Vorlauf zum Pilotprojekt bislang nur Archivdaten eingepflegt sind.
Im "Vorgangsverwaltungssystem" der Polizei werden zu jedem Einbruch der vergangenen fünf Jahre der genaue Ort und andere Daten gespeichert. In Okons Tabellen steht etwa "Mehrfamilienhaus, Wohnung" - die Art des Tatorts; daneben "hebeln" oder "einsteigen" - der Modus Operandi. Wird ein neuer Einbruch gemeldet, den die Software als Teil einer möglichen Serie erkennt, löst der Computer Alarm aus. Die ermittelnden Beamten bekommen eine Mail mit der Karte und Hinweisen.
Die Fahnder wissen, dass professionelle Täter vor jedem Einbruch eine Art "Kosten-Nutzen-Rechnung" aufstellen. "Menschliches Verhalten ist musterbasiert", sagt Okon. "Das machen wir uns zunutze." Dass reiche Gegenden wie Bogenhausen oder Grünwald beliebte Ziele von Einbrechern sind, wissen Beamte mit Erfahrung natürlich auch ohne Software. Um alle Tatdaten genau auszuwerten, müssten Ermittler aber schier endlos vor Excel-Tabellen sitzen. Die Software findet Zusammenhänge zwischen Daten, die dem Menschen verborgen bleiben. Aufgabe der Polizisten ist es, die Ergebnisse richtig zu bewerten.
Überwachung mit Predictive Policing:"Unbeteiligte geraten ins Kontrollraster"
Der Computer sieht das Verbrechen kommen: Deutsche Polizisten setzen erstmals auf Software-Algorithmen, um Einbrüche vorherzusagen. Bald schon könnte man sich mit einem Tweet verdächtig machen, kritisiert der Aktivist Matthias Monroy.
"Durch das neue Analyse-Instrument", sagt Minister Herrmann, "könnten wir Einsatzkräfte noch gezielter in die Brennpunkte steuern." Berechnet Precobs etwa, dass an einem Tag in einem bestimmten Straßenzug mit einem Einbruch zu rechnen ist, verstärkt die Polizei dort ihre Streifenpräsenz. In Zürich sei die Software, die die bayerische Polizei laut Münchner Präsidium etwa 100 000 Euro kostet, vor etwa einem Jahr zum ersten Mal zum Einsatz gekommen. "86 Prozent der Prognosen waren zutreffend", sagt Herrmann. Laut Innenministerium ist die Zahl der Einbrüche in Zürich innerhalb eines halben Jahres um 40 Prozent zurückgegangen. Die Münchner Polizei könnte solche Erfolge gut gebrauchen: Im Jahr 2011 gab es in Stadt und Landkreis 1035 Einbrüche, 2012 waren es 1214, im vergangenen Jahr 1452.
Die Herstellerfirma, das Institut für musterbasierte Prognosetechnik aus Oberhausen, wirbt sogar damit, dass die Polizei in Zürich doppelt so viele mutmaßliche Einbrecher festgenommen hat wie vor dem Einsatz der Software. Der Unternehmensgründer, der Soziologe und Kriminalitätsforscher Thomas Schweer, sagt, dass der Zusammenhang von Raum und Kriminalität schon im 19. Jahrhundert erforscht worden sei. "Früher lief der Beamte mit Stecknadeln rum und steckte sie in die Karte an der Wand." Das könne Software mittlerweile besser. Datenschutzprobleme sieht er bei seinem Programm nicht: "Wir suchen Massenphänomene, keine Individuen." In den USA und anderen Ländern greifen Ermittler auch auf personenbezogene Daten zu: auf abfotografierte Nummernschilder etwa, oder auf Funkzellenabfragen von Handys.
Ermitteln mit "Predictive Policing"-Algorithmen:Polizei-Software soll Verbrechen voraussagen
Klingt wie "Minority Report": Algorithmen sehen Einbrüche vorher, intelligente Kameras erkennen Terroristen in der Menge. Mit Predictive-Policing-Technik versuchen Ermittler, Verbrechen vorherzusagen. Aktivisten und Datenschützer fürchten neue Kontrollmechanismen.
In Bayern, sagt Schweer, werde dagegen eine Technik namens "near repeat" verwendet, die nur anonyme Tatdaten nutze. "Precobs" könne also nicht Einzelne in den Fokus der Ermittler rücken. Allerdings können Polizisten prüfen, wen sie in letzter Zeit in der gefährdeten Gegend kontrolliert haben, für die das System Alarm geschlagen hat. Der bayerische Datenschutzbeauftragte hat beim Innenminister Informationen über die Software angefordert. Anhand der Unterlagen will er anschließend entscheiden, ob er eine formelle Prüfung einleitet oder das Programm datenschutzkonform ist.
Gibt es keine Beschwerden und verläuft die Testphase positiv, könnte sich Okon vorstellen, die Software auch für andere Verbrechen zu nutzen, für Autodiebstahl etwa oder für Raub. Allerdings funktioniert das Programm nur bei Verbrechen, bei denen Täter methodisch statt impulsiv vorgehen. Morde werden sich nicht voraussagen lassen. Auch bei Beschaffungskriminalität hilft Statistik wenig. Drogensüchtige brechen oft planlos ein, sind auf schnelles Geld aus. Für den Computer handeln sie nicht rational genug.