Pokémon:Zombie-Apokalypse

Missglückte Geburtstagsfeier für Pokémon Go in Chicago

Verdammt - kein Netz, und die Monster sind weg. Das Treffen in Chicago endete für die Fans mit einer Enttäuschung.

(Foto: Erin Hooley/dpa)

In Chicago jagen 20 000 Menschen kleine Monster. Als die Server abstürzen, fließen Tränen - aber nur kurz, am Ende sind alle glücklich.

Von Jürgen Schmieder, Chicago

Und dann schreit jemand: "Unown!" Die Reaktion gleicht einer Szene aus einem Zombiefilm. Knapp 20 000 Leute aus aller Welt laufen unkoordiniert wie Untote durch den Grant Park in Chicago und starren auf ihre Smartphones. Sie sind auf der Jagd nach Monstern des Handyspiels Pokémon Go. Wenn einer ein besonders seltenes Exemplar entdeckt, etwa ein Unown, teilt er es seinen Mitspielern lautstark mit. Es ist, als würde dem Protagonisten im Horrorfilm ein Löffel runterfallen: Die Zombies reagieren auf den Lärm und bewegen sich geschlossen zu dem Ort, an dem sie Frischfleisch vermuten.

So geht es zu am Vormittag des weltweit ersten offiziellen Live-Treffens von Pokémon-Go-Spielern. Ein Ticket kostet 20 Dollar, auf dem Zweitmarkt zahlen manche 600 Dollar. Der acht Jahre alte Junge aus Deutschland, der verkleidet aussieht wie Pikachu in Gummistiefeln, schnappt sich sogleich ein Unown. Ein 75-jähriger Kanadier klopft ihm anerkennend auf die Schulter. Doch die Freude über den Fang weicht schnell der Sehnsucht des Immer-mehr-haben-Wollens. Im Grant Park tummeln sich unglaublich viele unglaublich seltene Monster. Weiter, immer weiter. Eine Begegnung mit Bastian Schweinsteiger am Tag zuvor hat der Bub freudig, letztlich jedoch gleichmütig hingenommen. Nun trifft er Pokémon-Go-Erfinder John Hanke und benimmt sich, als würde er dem Allmächtigen gegenüberstehen.

Das Smartphone-Spiel vereint wirkliche und virtuelle Welt und hat im vergangenen Jahr einen wahnwitzigen Hype ausgelöst. Dahinter steckt eine Mischung aus Nostalgie und Futurismus: Wer heute um die 30 ist, kennt Pokémon aus seiner Kindheit - jetzt werden diese Figuren mit Hilfe von Augmented Reality in die Realität integriert. Die Eckkneipe wird zur Arena, die Statue auf dem Marktplatz zum Pokéstop, an dem man wichtige Gegenstände kaufen kann. Und natürlich ist dieser Unown ein schlüpfriges kleines Scheißerchen, das immer wieder entwischt. Niemand braucht ihn, er ist kein mächtiges Monster, aber jeder will ihn haben.

Manche Leute halten die Monsterjagd für einen Vorboten auf das Ende des Abendlandes, ein Zeichen für die Verdummung der Menschheit. Man kann es auch anders sehen: In einem Jahr, in dem David Bowie, Prince, Leonard Cohen und George Michael gestorben sind und die Amerikaner Donald Trump zum Präsidenten gewählt haben, war dieses harmlose Spiel eine willkommene Ablenkung von all dem Wahnsinn in der wirklichen Welt. Den typischen Pokémon-Spieler, das wird beim Live-Treffen in Chicago deutlich, den gibt es überhaupt nicht. Da philosophiert eine 80 Jahre alte Australierin mit einem Millennial aus Japan über den Drall beim Werfen der Pokébälle. Der Achtjährige aus Deutschland hört zu und versteht jedes Wort, weil die Pokémon-Sprache universell ist.

750 Millionen Menschen haben die App heruntergeladen, Entwickler Niantic Labs hat damit bislang 1,25 Milliarden Dollar eingenommen. "Wir waren auf Erfolg vorbereitet, aber nicht auf Erfolg dieser Größenordnung", sagt Hanke: "Es hat sich nun alles ein bisschen normalisiert." Im Juni gab es noch 65 Millionen aktive Spieler. Man könnte sagen: Der Hype ist vorbei. Man könnte aber auch darauf hinweisen, dass es Pokémon geht wie jeder neuen Technologie. Die Analysefirma Gartner hat für die einzelnen Stufen den Begriff des Hype-Zyklus geprägt: Auf den Auslöser (ein Augmented-Reality-Spiel) und den Gipfel der überzogenen Erwartungen (der Durchbruch für AR-Technologie) folgen das Tal der Enttäuschung (was ist eigentlich das Ziel des Spiels?) und schließlich der Pfad der Erleuchtung: Pokémon Go ist in erster Linie ein gut gemachtes, unglaublich erfolgreiches Smartphone-Spiel, das auch deshalb funktionierte, weil die Marke bereits etabliert war. Viele Menschen sind erstmals mit AR in Berührung gekommen. Jetzt müssen andere Spiele und Produkte an den Erfolg anknüpfen.

In Chicago zeigt sich aber auch eines der Probleme, mit denen das Spiel im vergangenen Jahr am häufigsten zu kämpfen hatte: unzuverlässige Technik. Das Mobilfunknetz bricht zusammen, die Server ebenfalls, die App lässt sich nicht mehr öffnen. Die Spieler können weder sammeln noch ausbrüten noch kämpfen. Das ist der größte anzunehmende Unglücksfall für diese heftig beworbene Veranstaltung. Die Buckingham Fountain ist keine Arena mehr, sondern nur ein überdimensionaler Brunnen. Ein wunderbares Bauwerk, gewiss, für Pokémon Go indes völlig irrelevant. Weil die virtuelle Welt kollabiert, müssen die Leute zurück in die wirkliche Welt. Sie schimpfen und fluchen, einige weinen. Die Veranstalter reagieren, wollen den Ticketpreis erstatten und zusätzlich 100 Dollar in virtueller Währung auf jeden Account laden. Dazu, und das ist für die meisten noch wichtiger, soll eines der seltensten Monster automatisch gefangen werden. Jeder Gast wird ein Lugia bekommen, ein sogenanntes legendäres Pokémon. Viele jubeln und umarmen sich, einige weinen vor Glück. Letztlich steht der Tag symbolisch für die Geschichte des Spiels: Begeisterung, Enttäuschung, Konsolidierung. Der Hype-Zyklus.

Pokémon Go gewährt Einblick in eine neue Welt: ungewohnt und unvorhersehbar, bisweilen furchterregend, jedoch niemals langweilig. Die Augmented-Reality-Technologie wird weitere, noch erstaunlichere Produkte hervorbringen. Wenn virtuelle und wirkliche Welt verschmelzen, dürften die Auswirkungen auf Gesellschaft und Kultur immens sein. An diesem Tag im Grant Park reicht ein Wort, um den acht Jahre alten Zombie kurzzeitig ins Reich der Lebenden zurückzuholen. Man muss nur rufen: "Unown!"

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