Süddeutsche Zeitung

Pleite der "Göttinger Gruppe":Der sichere Weg zur Geldvernichtung

Eine Milliarde Euro Verlust, 100.000 Gläubiger: Leichtgläubige Anleger machten es der Göttinger Gruppe einfach, groß abzukassieren - ein Musterfall für die Zustände auf einem unkontrollierten Markt.

Thomas Öchsner

Es war die leichtfertigste und teuerste Unterschrift ihres Lebens. Gut 25.000 Euro hat Ingrid Schrumpf verloren, weil sie damals, vor mehr als sieben Jahren, ihren Namen unter einen Vertrag des Anlagekonzerns Göttinger Gruppe gesetzt hatte.

Wenige Monate später hatte die Betriebsärztin wegen dieser Unterschrift Heulkrämpfe. Sie lag schlaflos nachts im Bett, hadernd mit sich selbst. Sie war wütend auf sich - und den Mann, der "mich nach allen Regeln der Kunst hereingelegt hat".

Aber heute kann sie wieder laut und herzlich lachen, wenn sie im Esszimmer ihres Hauses in Göttingen erzählt, wie es dazu kam, dass sie diesem Finanzvertreter blind vertraute.

Das Drama begann auf einem Zahnarztstuhl: Der Mann, der ihr den Prospekt "Private Altersvorsorge nach Maß" auf den Wohnzimmertisch legte, war ein Patient ihrer Tochter.

Am 61. Geburtstag von Ingrid Schrumpf kamen sie zusammen zu Besuch. Er, ein Mittdreißiger, fuhr im BMW vor. Mutter Schrumpf servierte Kaffee und Apfelkuchen. Der Gast sagte Sätze, wie sie geschulte Verkäufer eben so sagen: "So wie ich auf dem Zahnarztstuhl Ihrer Tochter vertraue, können Sie auch mir vertrauen."

Die Anlage sei so sicher, dass er sie auch seiner Mutter verkaufen würde. Und einige Monate danach, als Schrumpf die ersten Bedenken kamen und in der Lokalzeitung von Problemen der Göttinger Gruppe die Rede war, sagte er zu der Ärztin: Bevor diese untergehe, "müsste ja erst die Republik untergehen".

Der größte Anlegeskandal der Republik

Sieben Jahre später ist passiert, was manche schon lange voraussagten: Die Göttinger Gruppe ist untergegangen. Anfang Juni meldete das Firmenkonglomerat Insolvenz an. Es ist eine Pleite, wie sie Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg noch nie gesehen hat.

Es geht um den größten Anlageskandal der Republik, um mehr als 100.000 Sparer, die gut eine Milliarde Euro verloren haben dürften, eine offensichtlich überforderte Justiz, willfährige Politiker und um allzu Menschliches: Die Geschichte handelt auch von ein paar Männern, die sich aufmachen, das ganz große Geld zu verdienen, die Bodenhaftung verlieren, dem Größenwahn verfallen und untergehen.

Spurensuche in und um Göttingen. Schrumpfs Rechtsanwalt Jürgen Machunsky fährt nach Holzerode, gut 20 Kilometer nordöstlich der niedersächsischen Universitätsstadt. Machunsky hält in einer Seitenstraße, ein Feldweg führt zu einem eingezäunten Grundstück.

Wer über den Maschenzaun mit Stacheldraht schaut, sieht eine dreistöckige, riesige Villa, umgeben von mehreren tausend Quadratmetern Garten. "Das Haus ist wahrscheinlich größer als unsere Kirche", sagt ein Landwirt, der sich schon lange über diesen Bau ärgert. "Hier wollte einer zeigen, was er für ein Kerl ist."

Mit dem Kerl meint er Jürgen Rinnewitz, den Manager, der zuletzt als der starke Mann der Göttinger Gruppe galt. Der Jurist wollte hier für sich und seine Familie offenbar eine Art goldenen Käfig bauen. Doch der Neubau geriet ins Stocken, womöglich wegen Geldmangels. Rinnewitz verkaufte das Grundstück wieder. Seine Familie lebt nach wie vor in einem Haus im Göttinger Ost-Viertel, dort, wo die Göttinger wohnen, die es zu etwas gebracht haben.

Der Mann, den jetzt gerne mehr als 100.000 Gläubiger zur Rede stellen würden, ist allerdings nicht zu sprechen, zumindest nicht für die Presse. Seine frühere Handy-Nummer ist nicht mehr gültig. Auf ein Fax mit der Bitte um einen Gesprächstermin kommt keine Antwort. Am Briefkasten des weißen Wohnhauses der Familie steht "Rinnewitz", aber niemand reagiert auf das Klingeln. Auch der langjährige Weggefährte von Rinnewitz, Erwin Zacharias, ist nicht zu erreichen.

Seit November 2006 ist er untergetaucht, nachdem der Fiskus von ihm private Steuerschulden in Höhe von 400.000 Euro eintreiben wollte. Seine Villa in Göttingen, an der Rechtsanwalt Machunsky ebenfalls vorbeifährt, ist verkauft. Womöglich hält sich Zacharias in Kanada auf, wo der Wirtschaftsprüfer Immobilien besitzen soll und vor den deutschen Strafverfolgern vorerst gut geschützt ist.

Zacharias war der Kopf der Göttinger Gruppe, das Superhirn. Er erfand vor gut 20 Jahren die "SecuRente" (früher "Persönlicher-Sachwert-Plan"), ein Steuersparmodell für den kleinen Mann, das sich in den neunziger Jahren zum Verkaufsschlager entwickelte - und Ingrid Schrumpf um 25.000 Euro und viele andere Sparer um ihre zusätzliche private Altersvorsorge brachte.

Lesen Sie im zweiten Teil, wie die Göttinger Gruppe Millionen in Firmen verpulverte, die nichts als Verluste brachten.

Der Name "SecuRente" sollte Sicherheit suggerieren. Tatsächlich handelte es sich um eine hochriskante Anlage, weil das Geld der Kunden nicht nur in Immobilien und Wertpapiere, sondern vor allem in unternehmerische Beteiligungen floss. Und die gerieten schnell zu Kapitalvernichtungsmaschinen:

Die Göttinger Gruppe verpulverte Millionen in Firmen, die nichts als Verluste brachten. Vor allem das Engagement beim Fußballclub Tennis Borussia Berlin, den Zacharias in die Champions-League bringen wollte, und der Kauf der Partin-Bank entpuppten sich als Fehlinvestitionen.

Der Prüfungsverband Deutscher Banken kam zu dem Ergebnis, dass Anleger bis 1998 mehr als 1,8 Milliarden Mark eingezahlt hätten, aber nur 520 Millionen investiert worden seien. Trotzdem schwadronierten Zacharias und seine Gefolgsleute weiter von zukünftigen Erfolgen und ließen ihre Drückerkolonnen weiter Geld einsammeln.

Vielleicht wollten sie es nicht wahrhaben, dass sie sich völlig verkalkuliert hatten. Vielleicht hatten sie keine Skrupel, andere Menschen über den Tisch zu ziehen. Vielleicht konnten sie sich aber auch nur schwer trennen von manchen Annehmlichkeiten eines Lebens im Luxus.

Blindes Vertrauen

Die Göttinger Gruppe war für Zacharias und seine Gefährten eine Goldgrube: Sie bezogen Vorstandsgehälter oder Aufsichtsratstantiemen, von denen manche Spitzenmanager in der Finanzbranche damals träumten.

Vor allem aber erhielten sie über ihre gemeinsame Rechtsanwaltskanzlei als Konzeptgeber Gebühren von der Göttinger Gruppe. Das reichte, um einen "sehr feudalen Lebensstil zu pflegen", wie eine ehemalige Angestellte erzählt. "Das Geld", sagt ein anderer Ex-Mitarbeiter, "hat seine Wirkung getan."

Rinnewitz sammelte zum Beispiel Autos, mit einer besonderen Vorliebe für Sportwagen der Marke Aston Martin. Zacharias fuhr Bentley. Alfons Schuhbeck durfte bei einem Fest für den Vertrieb aufkochen. Auch in die Bunte kamen Zacharias und Rinnewitz - die Zeitschrift berichtete unter dem Titel "Die Geschichten der Reichen und Schönen" von einem Familienurlaub der beiden Manager auf einem Bauernhof des Pianisten Justus Frantz auf Gran Canaria.

Man ließ sich gerne mit Prominenten fotografieren. Das war gut fürs Image. Und man zeigte sich großzügig als Sponsor: beim Schleswig-Holstein-Musik-Festival von Frantz, beim Fußballclub VfB Stuttgart oder bei Kinderfesten im Bundeskanzleramt. Helmut Kohl tauchte in einem Werbeprospekt der Gruppe auf, auch Ex-Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher und Ex-Bundeswirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff waren darin zu sehen.

Selbst Ende der neunziger Jahre dachten die Herren des Göttinger Anlagekonzerns noch in großen Dimensionen. Im September 1999 ließen sie den Grundstein für einen dreigeschossigen Neubau im Göttinger Gewerbegebiet legen. 350 Mitarbeiter sollten hier einziehen - es blieb ein Hirngespinst.

Wer die Investitionsruine besichtigt, sieht heute einen grauen, verglasten Rohbau, der durch einen Bauzaun geschützt wird. "Auch hier wurde Anlegergeld sinnlos verbaut. Dabei war das Spiel eigentlich schon zu dieser Zeit aus", sagt Rechtsanwalt Machunsky, der in den vergangenen zehn Jahren etwa 1000 Geschädigte der Göttinger Gruppe vertreten hat.

Als Schrumpf im Februar 2000 den Vertrag für ihre "SecuRente" unterschrieb, wusste sie von alldem nichts. Der lange Todeskampf der Göttinger Gruppe hatte zwar längst begonnen. Aber davon redete der Verkäufer in ihrem Wohnzimmer nicht.

Eigentlich brauchte Ingrid Schrumpf einen Kredit. Zwei Drittel des Hauses gehörten ihr schon, den anderen Teil wollte sie nun ihrem Lebenspartner abkaufen, "um klare Verhältnisse zu schaffen". Als ihre Tochter sagte, sie kenne da jemanden, dem ihre Mutter vertrauen könne, war Schrumpf froh, "dass da einer ist, der mir das abnimmt".

So las sie den Stapel an Prospekten und Papieren über die Göttinger Gruppe, die er mitbrachte, erst gar nicht, und beim zweiten Besuch unterschrieb sie alles brav: die Kündigung ihrer beiden Ratensparverträge bei der Sparkasse, den Antrag auf einen angeblich besonders günstigen Kredit in Schweizer Franken, eine Police bei einer Schweizer Rentenversicherung und den Vertrag bei der Göttinger Gruppe.

370 Mark sollten monatlich in die SecuRente fließen plus einmalig 50.000 Mark - die 50.000 hatte sie gerade von ihrer Mutter geerbt. "Ich habe dem geglaubt ohne Punkt und Komma", sagt Schrumpf. Und das ist in solchen Fällen meist die Regel, nicht die Ausnahme.

Lesen Sie im dritten Teil, warum Deutschland ein Paradies für Geldabzocker und Anlagebetrüger ist.

"Paradies für Geldabzocker und Anlagebetrüger"

Tausende von Finanzunternehmen tummeln sich in Deutschland auf dem sogenannten Grauen Kapitalmarkt, der keiner staatlichen Kontrolle unterliegt. Ihre Vermittler, die in der Regel ausschließlich von den Verkaufsprovisionen leben, versuchen dabei stets auf persönliche Beziehungen aufzubauen.

"Verwandte oder Bekannte sind der Türöffner", sagt Machunsky. Sitzen sie dann erst einmal im Wohnzimmer, beginnt eine Inszenierung frei nach dem gängigen Verkäufermotto "Anhauen, umhauen, abhauen": Sie stellen geschlossene Fragen so, dass ihr potentielles Opfer nur mit "Ja" antworten kann. Sie erwidern skeptische Anmerkungen mit psychologischen Gegenfragen ("Sehe ich so aus, als würde ich lügen?").

Sie entwerfen zunächst ein Horrorszenario und suggerieren dann, dass nur sie helfen können. Das Ganze wird garniert mit dem Hinweis auf eine hohe Rendite bei einem Höchstmaß an Sicherheit. Eine Steuerersparnis gibt es womöglich noch obendrauf.

Das klingt einfach - und funktioniert seit Jahrzehnten tadellos, zumindest in Deutschland. "Die Bundesrepublik ist das Paradies für Geldabzocker und Anlagebetrüger", sagt Volker Pietsch, Leiter des Deutschen Instituts für Anlegerschutz (Dias). Seit mehr als 17 Jahren jagt der Verbraucherschützer unseriöse Anbieter von Kapitalanlagen. Zunächst für die Verbraucherzentrale Berlin, und seit 2004 als Dias-Chef.

Pietsch hält es für einen "Skandal, dass die Finanzaufsicht trotz der extremen Missstände nicht mehr gesetzliche Befugnisse hat, in den Kapitalmarkt einzugreifen. Die Politiker ignorieren seit Jahren das Treiben der Kapitalanlagehaie."

Den Erfolg der Geldabzocker allein auf die Gier der Menschen nach hohen Renditen zu reduzieren, treffe nicht die Realität. Schuld seien die erschreckenden Wissenslücken der Anleger. "Gäbe es einen Pisatest für die Allgemeinbildung in Geldanlagefragen, würden die Deutschen miserabel abschneiden", sagt der Anlegerschützer.

Auch der heute 67-jährigen Pensionärin Schrumpf ging es weder um hohe Renditen noch um eine Steuerersparnis. "Ich habe dem Mann einfach nur vertraut", sagt sie. Die frühere Betriebsärztin bei der Deutschen Bundespost, die drei Töchter alleine großgezogen hat, ist waghalsigen Geschäften immer aus dem Weg gegangen.

Sie hat den Großteil ihres Ersparten in ihr 111 Jahre altes Haus gesteckt. Sie hat ganz konservativ Geld in Bausparverträgen angelegt. Sie hat auch keine Telekom-Aktien gekauft. "Ich spekuliere nicht, ich bin doch nicht wahnsinnig", sagt sie. Hätte Schrumpf gewusst, dass mit der SecuRente ein "Totalverlust" möglich ist, hätte sie niemals unterschrieben. "Die meisten Anleger wussten gar nicht, in was sie investiert hatten", sagt Machunsky.

Ermittlungen ohne Ergebnis

Die Folgen sind derzeit nicht nur in Göttingen zu besichtigen. In den vergangenen zwei Jahren wurde Deutschland von einer Welle von Anlageskandalen erschüttert.

Dubiose Geldeinsammler wie etwa das Frankfurter Wertpapierhandelshaus Phoenix Kapitaldienst oder die Wohnungsbaugesellschaft Leipzig West gingen reihenweise pleite. Aufstieg und Niedergang der Göttinger Gruppe dürften dabei jedoch ein Sonderfall bleiben - auch wegen der Rolle der Staatsanwaltschaft.

Diese brachte den damaligen Kriminalhauptkommissar Michael Reizel sogar dazu, im Januar 2000 gegen die Braunschweiger Ermittler eine Strafanzeige wegen des Verdachts der Strafvereitelung im Amt zu stellen.

Reizel, der damals Ermittlungen gegen die Inhaber des später von der Göttinger Gruppe übernommenen Bankhauses Partin leitete, ärgert sich noch heute im Ruhestand über die Staatsanwaltschaft. Der Kriminalrat a.D. wirft den Ermittlern vor, den alarmierenden Bericht der Bankenprüfer quasi ignoriert zu haben.

"Wenn ich bis Ende 1998 1,8 Milliarden Mark von Anlegern einsammle, aber nur noch 520 Millionen da sind, muss ich doch fragen, wo der Rest geblieben ist", sagt Reizel. Die Staatsanwaltschaft hätte zumindest ernsthaft prüfen müssen, ob es Anhaltspunkte für einen Anfangsverdacht gibt. "Stattdessen wurde auffällig einseitig und ohne kritische Prüfung die Argumentation der Anwälte der Gruppe übernommen", sagt Reizel.

So bleiben viele Fragen offen: War die Göttinger Gruppe an ein Anlagemodell, das nur zur Abzocke der Anleger diente und von Anfang an zum Scheitern verurteilt war? Waren Untreue oder Betrug im Spiel? Oder glaubten Zacharias und seine Gefolgsleute ernsthaft, dass nicht nur sie, sondern auch Kunden wie Ingrid Schrumpf mit der SecuRente Geld verdienen werden?

Die Staatsanwaltschaft sah 2002 keinen Kapitalanlagebetrug. Das Verfahren wurde eingestellt. Seit 2004 aber wird wegen einer möglichen Insolvenzverschleppung ermittelt, bislang ohne Ergebnisse. Ob Zacharias und Rinnewitz deshalb von den Strafverfolgern viel zu befürchten haben, ist fraglich.

Und für den Schaden geradestehen müssen sie wohl beide nicht: Die Ansprüche von Anlegern gegen sie selbst dürften verjährt sein, persönlich haftende Gesellschafter sind beide schon lange nicht mehr. Zacharias war außerdem so clever, sich bereits 2001 aus dem Unternehmen zurückzuziehen.

Und Ingrid Schrumpf? Sie kam mit Hilfe ihres Anwalts aus den meisten Verträgen heraus. Bei den 25.000 Euro war aber nicht mehr viel zu machen. Machunsky handelte einen Vergleich aus. Danach sollte die Göttinger Gruppe noch 6.000 Euro zurückzahlen. In Raten. Trotzdem floss lange keine Geld.

Bis Ende Mai, kurz vor der Insolvenz des Anlagekonzerns. Da bekam Schrumpf einen Scheck. Die erste von zwölf Raten. Es waren 500 Euro. Die Pensionärin hat sich davon ein Kostüm gekauft. Den Rest des Geldes wird sie wohl nie wiedersehen.

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Quelle:
SZ vom 5.7.2007
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