Süddeutsche Zeitung

Kommentar:Plastik: Gefangen im Selbstbetrug

Deutschland hält sich für den "Recycling-Weltmeister", ist aber "Europameister" im Wegwerfen von Verpackungsmüll. Das Verbot von Einwegplastik droht die Hybris zu verstärken.

Von Michael Kläsgen

Deutschland hat ein Problem mit dem Plastik, ein großes sogar. Das Land hält sich für den "Weltmeister der Wiederverwertung", ist aber faktisch "Europameister" im Wegwerfen von Verpackungsmüll und beim Recycling weit schlechter, als es sich weismacht. Das Verbot von Plastikwattestäbchen, Strohhalmen und anderem Einwegplastik, das von diesem Samstag an EU-weit gilt, birgt die Gefahr, die falsche Eigenwahrnehmung des selbsternannten Recycling-Champions noch zu verstärken. Seht her, wir tun was; jetzt gilt sogar ein Verbot. In Wirklichkeit zeigt sich bereits, wie die Industrie das Verbot trickreich und teils dreist umgeht. Zum Beispiel mit Alternativen, die den Müllberg weiter vergrößern oder sogar gesundheitsschädlich sind: etwa Kaffeebecher aus Bambus oder Trinkhalmen, in denen sich Schimmel bilden kann.

Aber das ist gar nicht das größte Problem. Viel schlimmer ist, feststellen zu müssen, wie das Verbot das Land weiter einlullt in seiner bräsigen Selbstgefälligkeit und dem trügerischen Gefühl, dass schon alles laufe. Nichts läuft, jedenfalls, wenn man auf zwei entscheidende Kriterien schaut: die Menge des Verpackungsmülls und die Recyclingquote, und zwar die echte. Und da sieht man: Der Verpackungsmüll nimmt von Jahr zu Jahr zu, im Corona-Jahr 2020 sogar besonders stark (hier grüßen die Lieferdienste); wiederverwertet in dem Sinn, wie Otto Normalverbraucher es versteht, nämlich, dass aus dem Joghurtbecher wieder ein Joghurtbecher entsteht - das gelingt jedoch nur bei einem Bruchteil des Verpackungsmülls.

Das Drama: Nichts deutet trotz aller Rhetorik und neuer Gesetze darauf hin, dass die Umwelt in absehbarer Zeit nachweisbar entlastet würde. Ein wichtiger Grund dafür ist das überbordende Greenwashing der Industrie, die den Menschen mit irreführender Werbung etwa über wundersam aus dem Ozean gefischtes Plastik vorgaukelt, sie würden mit dem Kauf dieser Flasche ernsthaft etwas für den Schutz der Natur tun. Sich im Dschungel wahrer und falscher Werbebotschaften zurechtzufinden, ist über die vergangenen Jahrzehnte für Verbraucherinnen und Verbraucher eher schwieriger als leichter geworden.

Klug wäre es, richtiges Verhalten zu belohnen, falsches zu bestrafen

Der Gesetzgeber trägt dafür maßgeblich die Schuld. Regierungsvertreter haben der Industrie keine klare Kante gezeigt. Sinnvoll wäre es etwa gewesen, die Industrie per Gesetz für falsches Verhalten zu bestrafen und für richtiges zu belohnen. Stattdessen aber haben sich Regierungsvertreter auf teils beschämende Weise von der Industrie einflüstern lassen, schon der Export von Plastikmüll rechtfertige die Bezeichnung "recycelt", auch wenn er in Wirklichkeit im Indischen Ozean landete. Oder allein, wenn Plastikmüll einer Sortieranlage zugeführt werde, dürfe er schon eingehen in die Recyclingquote und diese etwas aufhübschen - selbst wenn er am Ende verbrannt wurde.

Es wäre gut, wenn dieser kollektive Selbstbetrug bald ein Ende hätte. Ein erster Schritt dahin wäre ein Eingeständnis desselben. Und dann muss, 30 Jahre nach Einführung des Gelben Sacks, endlich etwas passieren, was belegbare Ergebnisse zeitigt. In einem Hochtechnologieland wie Deutschland muss einfach mehr drin sein, als es den meist durchaus bemühten Bürgern zu überlassen, den Plastikmüll händisch und nach bestem Wissen und Gewissen im Gelben Sack zu entsorgen. Es kann auch nicht sein, dass sich Millionenmetropolen wie München diesem Trennsystem einfach mit dem Argument entziehen, die Stadt solle ja "schee" bleiben, und im Übrigen nütze der Sack eh nichts.

Kurz: Etwas mehr kämpferische Aufbruchstimmung und weniger Selbstgefälligkeit wären angebracht. Sonst droht das ohnehin löchrige Verbot für einzelne Einwegplastikprodukte am Ende zum Gelben Sack Europas zu werden: zum Vorwand dafür, das Nötigste doch getan zu haben.

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